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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

Wo sie, wie in allen romanischen Staaten, nachgeahmt worden ist, da fehlt
doch das Wesen; nur Formen sind nachgeahmt worden. Den Satz: is roi
röZnö, ins-is 11 us Aouvörns xas, brauchte Guizot heute nicht mehr zu be¬
kämpfen, wie er es in der angeführten Flugschrift tut, brauchte sich auch nicht
mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie die Fusion zwischen der königlichen Re¬
gierung und den Kammern erreicht werden könne; in dieser Beziehung haben
ja die Franzosen ihr englisches Vorbild weit überflügelt; radikal, wie sie sind,
haben sie das Königtum beseitigt. Aber der Hauptunterschied zwischen Frank¬
reich und England ist seit 1816, wenn auch in vielfach veränderter Form,
bestehn geblieben: seine Kammerparteien -- es sind ihrer mehr als zwei --
stehn einander in Todfeindschaft gegenüber. Eine Körperschaft, deren Mit¬
glieder einander zu vernichten streben, kann nicht den Staat regieren, wenn
sie es auch der geschriebn"" Verfassung nach tun soll. Wer regiert, das ist
eine routinierte Bureaukratie, der wechselnde Zufallskabinette, die Geschöpfe
von Zufallsmehrheiten, die Richtung geben. Immerhin hat in Frankreich der
große religiöse Gegensatz bis jetzt wenigstens die Zusammenfassung der kleinern
Gruppen in zwei Blocks möglich gemacht. Wenn aber nun, nach der Ent¬
scheidung der kirchlichen Frage, die sozialistischen Arbeitervertreter sich von den
bürgerlichen Radikalen trennen, dann hat die Zweiteilung ein Ende, und wo
die Kammer in ein halbes oder ganzes Dutzend einander feindlicher Parteien
zerfällt, da ist schon der bloße Gedanke an parlamentarische Negierung eine
Lächerlichkeit. In der letzten Reichstagssitzung äußerte ein süddeutscher Demo¬
krat einmal: Wenn wir einen konstitutionellen Staat hätten, müßte das
Zentrum jetzt die Negierung übernehmen. Nun ist das Zentrum nicht die
Mehrheit und kann sie niemals werden. Dann aber: daß das Zentrum einen
der Zahl seiner Mitglieder entsprechenden Einfluß auf die Gesetzgebung übt
und manchmal den Ausschlag gibt, das schon erregt bei der protestantischen
Mehrheit der Deutschen einen Unwillen, der sich in Blättern der verschiedensten
Parteien in fast täglichen Zornesausbrüchen Luft macht. Wenn nun gar ein
glücklicherweise nicht vorhandner verrückter Verfassungsparagraph dem Zentrum
in aller Form die Übernahme der Regierung aufnötigte, so würde das den
Religionskrieg bedeuten, wie es den sozialen Bürgerkrieg zur Folge haben
müßte, wenn die Sozialdemokraten ans Ruder kämen; und nicht viel weniger
verderblich wäre eine ausschließlich aus Konservativen, das heißt Ritterguts¬
besitzern, oder aus Nationalliberalen, das heißt Industriellen zusammengesetzte
und den Interessen ihrer Partei dienstbare Regierung. Wenn aber jener
Herr konstitutionell sagt, wo es parlamentarisch heißen müßte, so beweist
dieses, daß es sogar angesehene Neichstagsabgeordnete gibt, die noch nicht
einmal über die elementarsten Begriffe im klaren sind. Eine Konstitution
haben wir, oder vielmehr: jeder Deutsche hat zwei Verfassungen, noch dazu,
was einen doppelten Unterschied von England ausmacht, zwei geschriebne
Verfassungen, die seines Landes und die des Reiches. Aber in keiner von


Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

Wo sie, wie in allen romanischen Staaten, nachgeahmt worden ist, da fehlt
doch das Wesen; nur Formen sind nachgeahmt worden. Den Satz: is roi
röZnö, ins-is 11 us Aouvörns xas, brauchte Guizot heute nicht mehr zu be¬
kämpfen, wie er es in der angeführten Flugschrift tut, brauchte sich auch nicht
mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie die Fusion zwischen der königlichen Re¬
gierung und den Kammern erreicht werden könne; in dieser Beziehung haben
ja die Franzosen ihr englisches Vorbild weit überflügelt; radikal, wie sie sind,
haben sie das Königtum beseitigt. Aber der Hauptunterschied zwischen Frank¬
reich und England ist seit 1816, wenn auch in vielfach veränderter Form,
bestehn geblieben: seine Kammerparteien — es sind ihrer mehr als zwei —
stehn einander in Todfeindschaft gegenüber. Eine Körperschaft, deren Mit¬
glieder einander zu vernichten streben, kann nicht den Staat regieren, wenn
sie es auch der geschriebn«« Verfassung nach tun soll. Wer regiert, das ist
eine routinierte Bureaukratie, der wechselnde Zufallskabinette, die Geschöpfe
von Zufallsmehrheiten, die Richtung geben. Immerhin hat in Frankreich der
große religiöse Gegensatz bis jetzt wenigstens die Zusammenfassung der kleinern
Gruppen in zwei Blocks möglich gemacht. Wenn aber nun, nach der Ent¬
scheidung der kirchlichen Frage, die sozialistischen Arbeitervertreter sich von den
bürgerlichen Radikalen trennen, dann hat die Zweiteilung ein Ende, und wo
die Kammer in ein halbes oder ganzes Dutzend einander feindlicher Parteien
zerfällt, da ist schon der bloße Gedanke an parlamentarische Negierung eine
Lächerlichkeit. In der letzten Reichstagssitzung äußerte ein süddeutscher Demo¬
krat einmal: Wenn wir einen konstitutionellen Staat hätten, müßte das
Zentrum jetzt die Negierung übernehmen. Nun ist das Zentrum nicht die
Mehrheit und kann sie niemals werden. Dann aber: daß das Zentrum einen
der Zahl seiner Mitglieder entsprechenden Einfluß auf die Gesetzgebung übt
und manchmal den Ausschlag gibt, das schon erregt bei der protestantischen
Mehrheit der Deutschen einen Unwillen, der sich in Blättern der verschiedensten
Parteien in fast täglichen Zornesausbrüchen Luft macht. Wenn nun gar ein
glücklicherweise nicht vorhandner verrückter Verfassungsparagraph dem Zentrum
in aller Form die Übernahme der Regierung aufnötigte, so würde das den
Religionskrieg bedeuten, wie es den sozialen Bürgerkrieg zur Folge haben
müßte, wenn die Sozialdemokraten ans Ruder kämen; und nicht viel weniger
verderblich wäre eine ausschließlich aus Konservativen, das heißt Ritterguts¬
besitzern, oder aus Nationalliberalen, das heißt Industriellen zusammengesetzte
und den Interessen ihrer Partei dienstbare Regierung. Wenn aber jener
Herr konstitutionell sagt, wo es parlamentarisch heißen müßte, so beweist
dieses, daß es sogar angesehene Neichstagsabgeordnete gibt, die noch nicht
einmal über die elementarsten Begriffe im klaren sind. Eine Konstitution
haben wir, oder vielmehr: jeder Deutsche hat zwei Verfassungen, noch dazu,
was einen doppelten Unterschied von England ausmacht, zwei geschriebne
Verfassungen, die seines Landes und die des Reiches. Aber in keiner von


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[0466] Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments Wo sie, wie in allen romanischen Staaten, nachgeahmt worden ist, da fehlt doch das Wesen; nur Formen sind nachgeahmt worden. Den Satz: is roi röZnö, ins-is 11 us Aouvörns xas, brauchte Guizot heute nicht mehr zu be¬ kämpfen, wie er es in der angeführten Flugschrift tut, brauchte sich auch nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie die Fusion zwischen der königlichen Re¬ gierung und den Kammern erreicht werden könne; in dieser Beziehung haben ja die Franzosen ihr englisches Vorbild weit überflügelt; radikal, wie sie sind, haben sie das Königtum beseitigt. Aber der Hauptunterschied zwischen Frank¬ reich und England ist seit 1816, wenn auch in vielfach veränderter Form, bestehn geblieben: seine Kammerparteien — es sind ihrer mehr als zwei — stehn einander in Todfeindschaft gegenüber. Eine Körperschaft, deren Mit¬ glieder einander zu vernichten streben, kann nicht den Staat regieren, wenn sie es auch der geschriebn«« Verfassung nach tun soll. Wer regiert, das ist eine routinierte Bureaukratie, der wechselnde Zufallskabinette, die Geschöpfe von Zufallsmehrheiten, die Richtung geben. Immerhin hat in Frankreich der große religiöse Gegensatz bis jetzt wenigstens die Zusammenfassung der kleinern Gruppen in zwei Blocks möglich gemacht. Wenn aber nun, nach der Ent¬ scheidung der kirchlichen Frage, die sozialistischen Arbeitervertreter sich von den bürgerlichen Radikalen trennen, dann hat die Zweiteilung ein Ende, und wo die Kammer in ein halbes oder ganzes Dutzend einander feindlicher Parteien zerfällt, da ist schon der bloße Gedanke an parlamentarische Negierung eine Lächerlichkeit. In der letzten Reichstagssitzung äußerte ein süddeutscher Demo¬ krat einmal: Wenn wir einen konstitutionellen Staat hätten, müßte das Zentrum jetzt die Negierung übernehmen. Nun ist das Zentrum nicht die Mehrheit und kann sie niemals werden. Dann aber: daß das Zentrum einen der Zahl seiner Mitglieder entsprechenden Einfluß auf die Gesetzgebung übt und manchmal den Ausschlag gibt, das schon erregt bei der protestantischen Mehrheit der Deutschen einen Unwillen, der sich in Blättern der verschiedensten Parteien in fast täglichen Zornesausbrüchen Luft macht. Wenn nun gar ein glücklicherweise nicht vorhandner verrückter Verfassungsparagraph dem Zentrum in aller Form die Übernahme der Regierung aufnötigte, so würde das den Religionskrieg bedeuten, wie es den sozialen Bürgerkrieg zur Folge haben müßte, wenn die Sozialdemokraten ans Ruder kämen; und nicht viel weniger verderblich wäre eine ausschließlich aus Konservativen, das heißt Ritterguts¬ besitzern, oder aus Nationalliberalen, das heißt Industriellen zusammengesetzte und den Interessen ihrer Partei dienstbare Regierung. Wenn aber jener Herr konstitutionell sagt, wo es parlamentarisch heißen müßte, so beweist dieses, daß es sogar angesehene Neichstagsabgeordnete gibt, die noch nicht einmal über die elementarsten Begriffe im klaren sind. Eine Konstitution haben wir, oder vielmehr: jeder Deutsche hat zwei Verfassungen, noch dazu, was einen doppelten Unterschied von England ausmacht, zwei geschriebne Verfassungen, die seines Landes und die des Reiches. Aber in keiner von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/466>, abgerufen am 23.07.2024.