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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Vie Geschäftsordnung des englischen Parlaments

den andern gleichstelln. Nur als solche, als Mitglieder des Hauses, können
die Minister ihre Bills einbringen. Es gibt keine "Negierung", keine Diener
des Königs, die dem Hause als Vertreter der Majestät gegenüberstünden,
sondern es gibt nur Diener des Hauses, des Volkes. Es gibt auch keine
Ministerbank; die Minister sitzen auf der vordersten Bank (^rout Lsnou) der
Regierungsseite. Der Premier ist Leader der Mehrheit, und wird die Mehrheit
zur Minderheit, so übernimmt er gewöhnlich die Führung der Opposition.
Mit dem Könige, der staatsrechtlich nichts andres ist als der Repräsentant
der Majestät des Volkes, der erbliche und lebenslängliche Präsident der
Republik, verkehrt das Parlament immer unmittelbar, ohne Dazwischenkunft
der Minister. Sogar unter der despotischen Königin Elisabeth ist es vorge¬
kommen, daß, als einmal im Unterhause über den Staatssekretär Cecil Be¬
schwerde geführt wurde, dieser aber, der anwesend war, dem Redner Schweigen
zu gebieten versuchte, ein Abgeordneter aufstand und den speaker und das
Haus an beider Pflicht erinnerte mit den Worten: ?"r in xarsiu non lutdst
jucliewrn. "Wir sind hier alle Glieder eines Leibes, und keiner ist als einzelner
Richter über den andern." Also diese tatsächliche Verfassung wird nur möglich
durch die oben beschriebne Beschaffenheit des Volkes, des Unterhauses und
seiner Parteien. Redlich schreibt: "England besaß und besitzt sein System der
Parteiregierung durch ein parlamentarisches Kabinett deshalb, weil es, um
dies ganz paradox auszudrücken, keine Parteien im kontinentalen Sinne hat."
Er führt eine Rede des vorigen Premiers Arthur Balfour an, worin dieser
sagt, es sei in der englischen Geschichte oft vorgekommen, daß der Unterschied
der beiden Parteien gar nicht in ihrer Stellung zu Prinzipien oder Ma߬
regeln bestandenHabe, sondern nur ein Gegensatz von Personen gewesen sei.
Da liege denn die Gefahr nahe, daß die Politik zu einem -- nicht einmal
anständigen -- Spiele werde, zum Ringen um eine Bente, um Staatspfründen
soie in den Vereinigten Stcmtens. Die Gefahr der Beutepolitik sei nun zwar
in England überwunden. Immerhin bleibe es jedoch wahr, daß wenn zwischen
den Parteien keine ernstliche Streitfrage schwebt, die Politik einem Football-
match gleicht, bei dem nichts ernstliches auf dem Spiele steht, sondern nur
etwa der Sieg in einem Wahlkampf oder bei einer Abstimmung oder ein
Ministerwechsel. Doch sei dieses das geringere der beiden Übel, die einen
Verfassungsstaat bedrohen. "Das andre Übel, an dem einige unsrer kontinen¬
talen Nachbarn schwer gelitten haben, besteht darin, daß sie versucht haben,
das System).der Parteiregierung einzuwenden, obgleich die Gegensätze zwischen
den Parteien so einschneidend, so vitaler Natur waren, daß die an der Re¬
gierung befindlichen die Gegner zu vernichten und diese mit revolutionären
Mitteln zur Macht zu gelangen strebten. Unter solchen Umständen kann eine
Repräsentativverfassung nicht mit der Aussicht auf günstigen Erfolg arbeiten."

Das Wesen der englischen Verfassung darlegen, das heißt zugleich klar
machen, daß sie in keinem andern europäischen Staate nachgeahmt werden


Vie Geschäftsordnung des englischen Parlaments

den andern gleichstelln. Nur als solche, als Mitglieder des Hauses, können
die Minister ihre Bills einbringen. Es gibt keine „Negierung", keine Diener
des Königs, die dem Hause als Vertreter der Majestät gegenüberstünden,
sondern es gibt nur Diener des Hauses, des Volkes. Es gibt auch keine
Ministerbank; die Minister sitzen auf der vordersten Bank (^rout Lsnou) der
Regierungsseite. Der Premier ist Leader der Mehrheit, und wird die Mehrheit
zur Minderheit, so übernimmt er gewöhnlich die Führung der Opposition.
Mit dem Könige, der staatsrechtlich nichts andres ist als der Repräsentant
der Majestät des Volkes, der erbliche und lebenslängliche Präsident der
Republik, verkehrt das Parlament immer unmittelbar, ohne Dazwischenkunft
der Minister. Sogar unter der despotischen Königin Elisabeth ist es vorge¬
kommen, daß, als einmal im Unterhause über den Staatssekretär Cecil Be¬
schwerde geführt wurde, dieser aber, der anwesend war, dem Redner Schweigen
zu gebieten versuchte, ein Abgeordneter aufstand und den speaker und das
Haus an beider Pflicht erinnerte mit den Worten: ?»r in xarsiu non lutdst
jucliewrn. „Wir sind hier alle Glieder eines Leibes, und keiner ist als einzelner
Richter über den andern." Also diese tatsächliche Verfassung wird nur möglich
durch die oben beschriebne Beschaffenheit des Volkes, des Unterhauses und
seiner Parteien. Redlich schreibt: „England besaß und besitzt sein System der
Parteiregierung durch ein parlamentarisches Kabinett deshalb, weil es, um
dies ganz paradox auszudrücken, keine Parteien im kontinentalen Sinne hat."
Er führt eine Rede des vorigen Premiers Arthur Balfour an, worin dieser
sagt, es sei in der englischen Geschichte oft vorgekommen, daß der Unterschied
der beiden Parteien gar nicht in ihrer Stellung zu Prinzipien oder Ma߬
regeln bestandenHabe, sondern nur ein Gegensatz von Personen gewesen sei.
Da liege denn die Gefahr nahe, daß die Politik zu einem — nicht einmal
anständigen — Spiele werde, zum Ringen um eine Bente, um Staatspfründen
soie in den Vereinigten Stcmtens. Die Gefahr der Beutepolitik sei nun zwar
in England überwunden. Immerhin bleibe es jedoch wahr, daß wenn zwischen
den Parteien keine ernstliche Streitfrage schwebt, die Politik einem Football-
match gleicht, bei dem nichts ernstliches auf dem Spiele steht, sondern nur
etwa der Sieg in einem Wahlkampf oder bei einer Abstimmung oder ein
Ministerwechsel. Doch sei dieses das geringere der beiden Übel, die einen
Verfassungsstaat bedrohen. „Das andre Übel, an dem einige unsrer kontinen¬
talen Nachbarn schwer gelitten haben, besteht darin, daß sie versucht haben,
das System).der Parteiregierung einzuwenden, obgleich die Gegensätze zwischen
den Parteien so einschneidend, so vitaler Natur waren, daß die an der Re¬
gierung befindlichen die Gegner zu vernichten und diese mit revolutionären
Mitteln zur Macht zu gelangen strebten. Unter solchen Umständen kann eine
Repräsentativverfassung nicht mit der Aussicht auf günstigen Erfolg arbeiten."

Das Wesen der englischen Verfassung darlegen, das heißt zugleich klar
machen, daß sie in keinem andern europäischen Staate nachgeahmt werden


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[0464] Vie Geschäftsordnung des englischen Parlaments den andern gleichstelln. Nur als solche, als Mitglieder des Hauses, können die Minister ihre Bills einbringen. Es gibt keine „Negierung", keine Diener des Königs, die dem Hause als Vertreter der Majestät gegenüberstünden, sondern es gibt nur Diener des Hauses, des Volkes. Es gibt auch keine Ministerbank; die Minister sitzen auf der vordersten Bank (^rout Lsnou) der Regierungsseite. Der Premier ist Leader der Mehrheit, und wird die Mehrheit zur Minderheit, so übernimmt er gewöhnlich die Führung der Opposition. Mit dem Könige, der staatsrechtlich nichts andres ist als der Repräsentant der Majestät des Volkes, der erbliche und lebenslängliche Präsident der Republik, verkehrt das Parlament immer unmittelbar, ohne Dazwischenkunft der Minister. Sogar unter der despotischen Königin Elisabeth ist es vorge¬ kommen, daß, als einmal im Unterhause über den Staatssekretär Cecil Be¬ schwerde geführt wurde, dieser aber, der anwesend war, dem Redner Schweigen zu gebieten versuchte, ein Abgeordneter aufstand und den speaker und das Haus an beider Pflicht erinnerte mit den Worten: ?»r in xarsiu non lutdst jucliewrn. „Wir sind hier alle Glieder eines Leibes, und keiner ist als einzelner Richter über den andern." Also diese tatsächliche Verfassung wird nur möglich durch die oben beschriebne Beschaffenheit des Volkes, des Unterhauses und seiner Parteien. Redlich schreibt: „England besaß und besitzt sein System der Parteiregierung durch ein parlamentarisches Kabinett deshalb, weil es, um dies ganz paradox auszudrücken, keine Parteien im kontinentalen Sinne hat." Er führt eine Rede des vorigen Premiers Arthur Balfour an, worin dieser sagt, es sei in der englischen Geschichte oft vorgekommen, daß der Unterschied der beiden Parteien gar nicht in ihrer Stellung zu Prinzipien oder Ma߬ regeln bestandenHabe, sondern nur ein Gegensatz von Personen gewesen sei. Da liege denn die Gefahr nahe, daß die Politik zu einem — nicht einmal anständigen — Spiele werde, zum Ringen um eine Bente, um Staatspfründen soie in den Vereinigten Stcmtens. Die Gefahr der Beutepolitik sei nun zwar in England überwunden. Immerhin bleibe es jedoch wahr, daß wenn zwischen den Parteien keine ernstliche Streitfrage schwebt, die Politik einem Football- match gleicht, bei dem nichts ernstliches auf dem Spiele steht, sondern nur etwa der Sieg in einem Wahlkampf oder bei einer Abstimmung oder ein Ministerwechsel. Doch sei dieses das geringere der beiden Übel, die einen Verfassungsstaat bedrohen. „Das andre Übel, an dem einige unsrer kontinen¬ talen Nachbarn schwer gelitten haben, besteht darin, daß sie versucht haben, das System).der Parteiregierung einzuwenden, obgleich die Gegensätze zwischen den Parteien so einschneidend, so vitaler Natur waren, daß die an der Re¬ gierung befindlichen die Gegner zu vernichten und diese mit revolutionären Mitteln zur Macht zu gelangen strebten. Unter solchen Umständen kann eine Repräsentativverfassung nicht mit der Aussicht auf günstigen Erfolg arbeiten." Das Wesen der englischen Verfassung darlegen, das heißt zugleich klar machen, daß sie in keinem andern europäischen Staate nachgeahmt werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/464>, abgerufen am 29.12.2024.