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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

Körpers der Nation, große prinzipielle Differenzen, die etwa in den beiden
Politischen Parteien ihren Ausdruck fänden. Denn es sind, wie gesagt, die¬
selben Standes- und Klasseninteressen in beiden Parteilagern vertreten, wenn
auch in betreff mancher Punkte in verschiedner politischer Nuancierung: man
kann z. B. sagen, daß das spezifisch agrarische Interesse noch immer ausschließlich
in der konservativen Partei steht, daß die Trade-Unions und die Nonkonformisten
traditionell der liberalen Partei anhängen, daß hinwiederum die hochkirchlichen
Kreise fast regelmäßig Tones sind. In staatsrechtlicher Hinsicht besteht seit
langem nur eine einzige tiefgehende Scheidungslinie, die durch die Home-Rule-
Politik Gladstones geschaffen worden ist.*) Aber auch dieser Gegensatz ist im
letzten Jahrzehnt wesentlich gemildert worden. Was also die beiden regierungs¬
fähigen Parteien trennt, das sind nicht intransigente Grundsätze, sondern Ver¬
schiedenheiten in der Auffassung einzelner ganz konkreter, wenn auch oft sehr
bedeutender und das politische Interesse beherrschender Fragen der äußern und
der innern Politik, der Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Kirchenpolitik: Ver¬
schiedenheiten, die sich aber, so wichtig sie auch zurzeit den Angehörigen der
einen oder der andern Partei erscheinen, dennoch auf dem breiten Boden ge¬
meinsamer nationaler Politik, gemeinsamer Grundanschauungen und Interessen
erheben. Das außerordentlich starke Nationalgefühl, die ungemein lebendige
historische Tradition und das tief wurzelnde, alle Klassen der Bevölkerung
durchdringende konservative Empfinden rufen in England eben immer wieder
eine im Vergleich zu andern Staaten beispiellos starke politische und soziale
Kohärenz der Nation über alle Parteiung hinweg hervor. Darin darf man
den letzten Grund und die eigentliche Erklärung finden für die den beiden
Jahrhunderten der parlamentarischen Regierungsweise so charakteristische Er¬
scheinung: daß gerade in dem klassischen Lande der Parteiregierung und des
Parteienkampfes jederzeit die großen staatlichen Gesamtinteressen aus dem Be¬
reiche des Parteiwesens und der Parteifehde in ausdrücklichen oder stillem
Einverständnisse herausgehoben erscheinen."

Nur bei solcher Gleichartigkeit des Volkes, bei dieser Gliederung des
Unterhauses in zwei Parteien und dieser Beschaffenheit der Parteien konnte
sich auf dem Wege ruhiger Entwicklung, ohne Revolution, die ungeschriebne
tatsächliche Verfassung Englands bilden. Das Kabinett ist, wie gesagt, nur
ein aus Mitgliedern der Mehrheit beider Häuser bestehender Exekutivausschuß.
Als ein Kabinett im kontinentalen Sinne existiert das englische Kabinett nach
Redlich heute so wenig wie vor zwei Jahrhunderten, wo einmal ein Mitglied
sich erhob und darüber Klage führte, daß wider die Verfassung des Landes
Kabinett vorhanden sei. Alle Abgeordneten sind einander gleichberechtigt,
und die Minister sind im Unterhause nichts als Mitglieder des Hauses, die



"sDilJren sind im englischen Parlament die einzige Partei nach kontinentaler Art:
Todfeinde der übrigen Parteien, ja des ganzen Hauses, des englischen Staates. Wie diese
Partei gebändigt und unschädlich gemacht worden ist, davon wird noch die Rede sem.
Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

Körpers der Nation, große prinzipielle Differenzen, die etwa in den beiden
Politischen Parteien ihren Ausdruck fänden. Denn es sind, wie gesagt, die¬
selben Standes- und Klasseninteressen in beiden Parteilagern vertreten, wenn
auch in betreff mancher Punkte in verschiedner politischer Nuancierung: man
kann z. B. sagen, daß das spezifisch agrarische Interesse noch immer ausschließlich
in der konservativen Partei steht, daß die Trade-Unions und die Nonkonformisten
traditionell der liberalen Partei anhängen, daß hinwiederum die hochkirchlichen
Kreise fast regelmäßig Tones sind. In staatsrechtlicher Hinsicht besteht seit
langem nur eine einzige tiefgehende Scheidungslinie, die durch die Home-Rule-
Politik Gladstones geschaffen worden ist.*) Aber auch dieser Gegensatz ist im
letzten Jahrzehnt wesentlich gemildert worden. Was also die beiden regierungs¬
fähigen Parteien trennt, das sind nicht intransigente Grundsätze, sondern Ver¬
schiedenheiten in der Auffassung einzelner ganz konkreter, wenn auch oft sehr
bedeutender und das politische Interesse beherrschender Fragen der äußern und
der innern Politik, der Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Kirchenpolitik: Ver¬
schiedenheiten, die sich aber, so wichtig sie auch zurzeit den Angehörigen der
einen oder der andern Partei erscheinen, dennoch auf dem breiten Boden ge¬
meinsamer nationaler Politik, gemeinsamer Grundanschauungen und Interessen
erheben. Das außerordentlich starke Nationalgefühl, die ungemein lebendige
historische Tradition und das tief wurzelnde, alle Klassen der Bevölkerung
durchdringende konservative Empfinden rufen in England eben immer wieder
eine im Vergleich zu andern Staaten beispiellos starke politische und soziale
Kohärenz der Nation über alle Parteiung hinweg hervor. Darin darf man
den letzten Grund und die eigentliche Erklärung finden für die den beiden
Jahrhunderten der parlamentarischen Regierungsweise so charakteristische Er¬
scheinung: daß gerade in dem klassischen Lande der Parteiregierung und des
Parteienkampfes jederzeit die großen staatlichen Gesamtinteressen aus dem Be¬
reiche des Parteiwesens und der Parteifehde in ausdrücklichen oder stillem
Einverständnisse herausgehoben erscheinen."

Nur bei solcher Gleichartigkeit des Volkes, bei dieser Gliederung des
Unterhauses in zwei Parteien und dieser Beschaffenheit der Parteien konnte
sich auf dem Wege ruhiger Entwicklung, ohne Revolution, die ungeschriebne
tatsächliche Verfassung Englands bilden. Das Kabinett ist, wie gesagt, nur
ein aus Mitgliedern der Mehrheit beider Häuser bestehender Exekutivausschuß.
Als ein Kabinett im kontinentalen Sinne existiert das englische Kabinett nach
Redlich heute so wenig wie vor zwei Jahrhunderten, wo einmal ein Mitglied
sich erhob und darüber Klage führte, daß wider die Verfassung des Landes
Kabinett vorhanden sei. Alle Abgeordneten sind einander gleichberechtigt,
und die Minister sind im Unterhause nichts als Mitglieder des Hauses, die



"sDilJren sind im englischen Parlament die einzige Partei nach kontinentaler Art:
Todfeinde der übrigen Parteien, ja des ganzen Hauses, des englischen Staates. Wie diese
Partei gebändigt und unschädlich gemacht worden ist, davon wird noch die Rede sem.
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[0463] Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments Körpers der Nation, große prinzipielle Differenzen, die etwa in den beiden Politischen Parteien ihren Ausdruck fänden. Denn es sind, wie gesagt, die¬ selben Standes- und Klasseninteressen in beiden Parteilagern vertreten, wenn auch in betreff mancher Punkte in verschiedner politischer Nuancierung: man kann z. B. sagen, daß das spezifisch agrarische Interesse noch immer ausschließlich in der konservativen Partei steht, daß die Trade-Unions und die Nonkonformisten traditionell der liberalen Partei anhängen, daß hinwiederum die hochkirchlichen Kreise fast regelmäßig Tones sind. In staatsrechtlicher Hinsicht besteht seit langem nur eine einzige tiefgehende Scheidungslinie, die durch die Home-Rule- Politik Gladstones geschaffen worden ist.*) Aber auch dieser Gegensatz ist im letzten Jahrzehnt wesentlich gemildert worden. Was also die beiden regierungs¬ fähigen Parteien trennt, das sind nicht intransigente Grundsätze, sondern Ver¬ schiedenheiten in der Auffassung einzelner ganz konkreter, wenn auch oft sehr bedeutender und das politische Interesse beherrschender Fragen der äußern und der innern Politik, der Finanz-, Wirtschafts-, Sozial- und Kirchenpolitik: Ver¬ schiedenheiten, die sich aber, so wichtig sie auch zurzeit den Angehörigen der einen oder der andern Partei erscheinen, dennoch auf dem breiten Boden ge¬ meinsamer nationaler Politik, gemeinsamer Grundanschauungen und Interessen erheben. Das außerordentlich starke Nationalgefühl, die ungemein lebendige historische Tradition und das tief wurzelnde, alle Klassen der Bevölkerung durchdringende konservative Empfinden rufen in England eben immer wieder eine im Vergleich zu andern Staaten beispiellos starke politische und soziale Kohärenz der Nation über alle Parteiung hinweg hervor. Darin darf man den letzten Grund und die eigentliche Erklärung finden für die den beiden Jahrhunderten der parlamentarischen Regierungsweise so charakteristische Er¬ scheinung: daß gerade in dem klassischen Lande der Parteiregierung und des Parteienkampfes jederzeit die großen staatlichen Gesamtinteressen aus dem Be¬ reiche des Parteiwesens und der Parteifehde in ausdrücklichen oder stillem Einverständnisse herausgehoben erscheinen." Nur bei solcher Gleichartigkeit des Volkes, bei dieser Gliederung des Unterhauses in zwei Parteien und dieser Beschaffenheit der Parteien konnte sich auf dem Wege ruhiger Entwicklung, ohne Revolution, die ungeschriebne tatsächliche Verfassung Englands bilden. Das Kabinett ist, wie gesagt, nur ein aus Mitgliedern der Mehrheit beider Häuser bestehender Exekutivausschuß. Als ein Kabinett im kontinentalen Sinne existiert das englische Kabinett nach Redlich heute so wenig wie vor zwei Jahrhunderten, wo einmal ein Mitglied sich erhob und darüber Klage führte, daß wider die Verfassung des Landes Kabinett vorhanden sei. Alle Abgeordneten sind einander gleichberechtigt, und die Minister sind im Unterhause nichts als Mitglieder des Hauses, die "sDilJren sind im englischen Parlament die einzige Partei nach kontinentaler Art: Todfeinde der übrigen Parteien, ja des ganzen Hauses, des englischen Staates. Wie diese Partei gebändigt und unschädlich gemacht worden ist, davon wird noch die Rede sem.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/463>, abgerufen am 29.12.2024.