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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

Politik und den für diese geforderten finanziellen Maßnahmen." Darüber
aber herrschte der Hauptsache nach keine Meinungsverschiedenheit.

Im Mittelalter waren es die Religion, die Gleichartigkeit der Bildung
und der bäuerliche Charakter der ganzen Bevölkerung, denn auch die Lords
waren doch von Beruf große Bauern, was die etwa zwei Millionen durch be¬
queme Kommunikation unter sich gut verbundnen Bewohner des mäßig großen
Landes zu einer gleichförmigen, in politischer Beziehung von einem Willen
beseelten Masse, zu einem lebendigen Volkskörper machte, der sich selbst Gesetze
zu geben, sich selbst zu regieren vermochte. In der großen Zeit des Parla¬
mentarismus, wo er die letzten Versuche des Königs, das Parlament nach
seinem Willen zu lenken, zurückschlug, war die Gleichartigkeit dadurch hergestellt,
daß die durch Volksvermehrung stark vergrößerte Masse von der Politik aus¬
geschlossen blieb, der Staat zur Aristokratie der Grundbesitzer zusammen¬
geschrumpft war. Die wunderbarste Leistung des englischen Volkes und seines
Hauptes, des Unterhauses, besteht nun darin, daß es ihm im neunzehnten
Jahrhundert trotz der noch viel stärkern Volksvermehrung gelungen ist, durch
die allmähliche Erweiterung des Wahlrechts und durch große Verwaltungs¬
reformen das ganze Volk mit Ausnahme seiner Hefe in den politischen Körper
einzugliedern, ohne ein auflösendes Element in diesen einzuführen; daß trotz
gewaltigen sozialen Unterschieden das englische Volk in politischer Beziehung
wieder eine einheitliche, gleichartige Masse geworden ist. Zuerst wurde das
reiche Bürgertum mit dem Grundadel zu einer einzigen Aristokratie verschmolzen,
dann der höhere, gebildetere Teil der Arbeiterschaft in der Weise herangezogen,
daß er zwar wühlt, aber für gewöhnlich Mitglieder der herrschenden Aristokratie
wählt: die Arbeiter haben vor den letzten Parlamentswahlen meist ihre eignen
Unternehmer als ihre Vertrauensmänner ins Unterhaus geschickt. Darum hat
sich auch die Natur der Parteien noch nicht geändert. Die soziale, die
berufliche Differenzierung zerreißt das Volk nicht; sie fällt nicht mit der
politischen Partei zusammen; in jeder der beiden Parteien finden alle vor-
handnen Interessen ihre Vertretung. "Es bleibt, schreibt Redlich S. 156,
dem englischen Parlamentarismus der alte Charakterzug der zwei großen, ab¬
wechselnd zur Majorität und Regierung gelangenden Parteilager erhalten.
Aber es sind mehr zwei gemeinsame Lager für eine Mehrheit verschiedner
Interessengruppen, die auf beiden Seiten ihre Vertretung finden, als einheit¬
liche, innerlich völlig gleichartige Heere, die sich schroff gegenüberstehn. Ge¬
wisse historische Traditionen, die von Tones und Whigs übernommen wurden,
wirken wohl auch jetzt noch bei Konservativen und Liberalen fort; aber wenn
schon in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die prinzipiellen
Unterschiede zwischen den aristokratischen Tories und Whigs immer unbestimmter
geworden, bis sie fast gänzlich verschwunden waren, so gilt dies nicht minder
von ihren demokratischen Erben. Was die beiden großen Parlamentsparteien
trennt, sind nicht unüberbrückbar tiefe Spaltungen innerhalb des gesellschaftlichen


Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

Politik und den für diese geforderten finanziellen Maßnahmen." Darüber
aber herrschte der Hauptsache nach keine Meinungsverschiedenheit.

Im Mittelalter waren es die Religion, die Gleichartigkeit der Bildung
und der bäuerliche Charakter der ganzen Bevölkerung, denn auch die Lords
waren doch von Beruf große Bauern, was die etwa zwei Millionen durch be¬
queme Kommunikation unter sich gut verbundnen Bewohner des mäßig großen
Landes zu einer gleichförmigen, in politischer Beziehung von einem Willen
beseelten Masse, zu einem lebendigen Volkskörper machte, der sich selbst Gesetze
zu geben, sich selbst zu regieren vermochte. In der großen Zeit des Parla¬
mentarismus, wo er die letzten Versuche des Königs, das Parlament nach
seinem Willen zu lenken, zurückschlug, war die Gleichartigkeit dadurch hergestellt,
daß die durch Volksvermehrung stark vergrößerte Masse von der Politik aus¬
geschlossen blieb, der Staat zur Aristokratie der Grundbesitzer zusammen¬
geschrumpft war. Die wunderbarste Leistung des englischen Volkes und seines
Hauptes, des Unterhauses, besteht nun darin, daß es ihm im neunzehnten
Jahrhundert trotz der noch viel stärkern Volksvermehrung gelungen ist, durch
die allmähliche Erweiterung des Wahlrechts und durch große Verwaltungs¬
reformen das ganze Volk mit Ausnahme seiner Hefe in den politischen Körper
einzugliedern, ohne ein auflösendes Element in diesen einzuführen; daß trotz
gewaltigen sozialen Unterschieden das englische Volk in politischer Beziehung
wieder eine einheitliche, gleichartige Masse geworden ist. Zuerst wurde das
reiche Bürgertum mit dem Grundadel zu einer einzigen Aristokratie verschmolzen,
dann der höhere, gebildetere Teil der Arbeiterschaft in der Weise herangezogen,
daß er zwar wühlt, aber für gewöhnlich Mitglieder der herrschenden Aristokratie
wählt: die Arbeiter haben vor den letzten Parlamentswahlen meist ihre eignen
Unternehmer als ihre Vertrauensmänner ins Unterhaus geschickt. Darum hat
sich auch die Natur der Parteien noch nicht geändert. Die soziale, die
berufliche Differenzierung zerreißt das Volk nicht; sie fällt nicht mit der
politischen Partei zusammen; in jeder der beiden Parteien finden alle vor-
handnen Interessen ihre Vertretung. „Es bleibt, schreibt Redlich S. 156,
dem englischen Parlamentarismus der alte Charakterzug der zwei großen, ab¬
wechselnd zur Majorität und Regierung gelangenden Parteilager erhalten.
Aber es sind mehr zwei gemeinsame Lager für eine Mehrheit verschiedner
Interessengruppen, die auf beiden Seiten ihre Vertretung finden, als einheit¬
liche, innerlich völlig gleichartige Heere, die sich schroff gegenüberstehn. Ge¬
wisse historische Traditionen, die von Tones und Whigs übernommen wurden,
wirken wohl auch jetzt noch bei Konservativen und Liberalen fort; aber wenn
schon in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die prinzipiellen
Unterschiede zwischen den aristokratischen Tories und Whigs immer unbestimmter
geworden, bis sie fast gänzlich verschwunden waren, so gilt dies nicht minder
von ihren demokratischen Erben. Was die beiden großen Parlamentsparteien
trennt, sind nicht unüberbrückbar tiefe Spaltungen innerhalb des gesellschaftlichen


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[0462] Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments Politik und den für diese geforderten finanziellen Maßnahmen." Darüber aber herrschte der Hauptsache nach keine Meinungsverschiedenheit. Im Mittelalter waren es die Religion, die Gleichartigkeit der Bildung und der bäuerliche Charakter der ganzen Bevölkerung, denn auch die Lords waren doch von Beruf große Bauern, was die etwa zwei Millionen durch be¬ queme Kommunikation unter sich gut verbundnen Bewohner des mäßig großen Landes zu einer gleichförmigen, in politischer Beziehung von einem Willen beseelten Masse, zu einem lebendigen Volkskörper machte, der sich selbst Gesetze zu geben, sich selbst zu regieren vermochte. In der großen Zeit des Parla¬ mentarismus, wo er die letzten Versuche des Königs, das Parlament nach seinem Willen zu lenken, zurückschlug, war die Gleichartigkeit dadurch hergestellt, daß die durch Volksvermehrung stark vergrößerte Masse von der Politik aus¬ geschlossen blieb, der Staat zur Aristokratie der Grundbesitzer zusammen¬ geschrumpft war. Die wunderbarste Leistung des englischen Volkes und seines Hauptes, des Unterhauses, besteht nun darin, daß es ihm im neunzehnten Jahrhundert trotz der noch viel stärkern Volksvermehrung gelungen ist, durch die allmähliche Erweiterung des Wahlrechts und durch große Verwaltungs¬ reformen das ganze Volk mit Ausnahme seiner Hefe in den politischen Körper einzugliedern, ohne ein auflösendes Element in diesen einzuführen; daß trotz gewaltigen sozialen Unterschieden das englische Volk in politischer Beziehung wieder eine einheitliche, gleichartige Masse geworden ist. Zuerst wurde das reiche Bürgertum mit dem Grundadel zu einer einzigen Aristokratie verschmolzen, dann der höhere, gebildetere Teil der Arbeiterschaft in der Weise herangezogen, daß er zwar wühlt, aber für gewöhnlich Mitglieder der herrschenden Aristokratie wählt: die Arbeiter haben vor den letzten Parlamentswahlen meist ihre eignen Unternehmer als ihre Vertrauensmänner ins Unterhaus geschickt. Darum hat sich auch die Natur der Parteien noch nicht geändert. Die soziale, die berufliche Differenzierung zerreißt das Volk nicht; sie fällt nicht mit der politischen Partei zusammen; in jeder der beiden Parteien finden alle vor- handnen Interessen ihre Vertretung. „Es bleibt, schreibt Redlich S. 156, dem englischen Parlamentarismus der alte Charakterzug der zwei großen, ab¬ wechselnd zur Majorität und Regierung gelangenden Parteilager erhalten. Aber es sind mehr zwei gemeinsame Lager für eine Mehrheit verschiedner Interessengruppen, die auf beiden Seiten ihre Vertretung finden, als einheit¬ liche, innerlich völlig gleichartige Heere, die sich schroff gegenüberstehn. Ge¬ wisse historische Traditionen, die von Tones und Whigs übernommen wurden, wirken wohl auch jetzt noch bei Konservativen und Liberalen fort; aber wenn schon in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die prinzipiellen Unterschiede zwischen den aristokratischen Tories und Whigs immer unbestimmter geworden, bis sie fast gänzlich verschwunden waren, so gilt dies nicht minder von ihren demokratischen Erben. Was die beiden großen Parlamentsparteien trennt, sind nicht unüberbrückbar tiefe Spaltungen innerhalb des gesellschaftlichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/462>, abgerufen am 23.07.2024.