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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

Verstöße wider die Ordnung. Und wenn jemand unehrerbietig oder aufreizend gegen
den Landesfürsten oder das Privy Council spricht, so werden solche Redner nicht
nur unterbrochen, sondern es ist auch der Antrag gestellt worden, sie nach dem
Tower zu schicken.

Alle diese Regeln stehn noch heute in Kraft und werden tatsächlich befolgt,
nur daß für rebellische Abgeordnete nicht mehr der Tower das Haftlokal ist,
sondern ein im Parlamentsgebäude eingerichteter Kerker. Der Tyrannei
Heinrichs des Achten und Elisabeths beugte sich das Parlament protestierend,
weil die Politik beider Herrscher im großen und ganzen dem Volksgeiste und dem
Staatsinteresse entsprach. Da das bei den nicht minder tyrannischen Stuarts
nicht der Fall war, so machte der dem Parlament aufgezwungne Kampf gegen
den Herrscher das Volk vollends mündig und entschied ein für allemal, daß
der König nur als KwA in ?ar1i-iinsnt regieren könne. Nach erfochtnem
Siege führte der durch dynastische Sympathien und Antipathien verstärkte
religiöse Gegensatz zur Bildung der zwei großen Parteien, die dazu nötigte, aus¬
drückliche Befehle zur Aufrechterhaltung der alten löblichen Ordnung und be¬
sonders zum Schutze der Minderheit zu erlassen. Die Gesamtheit dieser Orders,
deren Zahl mit der Menge und Kompliziertheit der Geschäfte besonders im
neunzehnten Jahrhundert wuchs, macht eben das aus, was man die Geschäfts¬
ordnung des englischen Unterhauses nennen kann.

Die prinzipiellen Gegensätze verschwanden teils ganz, teils wurden sie
abgeschwächt, und im achtzehnten Jahrhundert nahmen die Parteien die be¬
kannte Gestalt an. Die Deomcmry war verschwunden. Die mit der Volks¬
vermehrung und der wachsenden Industrie entstandnen Massen der Lohnarbeiter,
eine Zeit lang sogar die industriellen Unternehmer, waren unvertreten. Die
Arbeitermassen war politisch tot. Das Unterhaus war die Vertretung einer
sozial gleichförmigen aristokratischen Oligarchie, die sich in zwei große Familien¬
gruppen schied, die unter den Namen Whigs und Tories in der Führung der
Geschäfte abwechselten. Trat die eine Gruppe die Regierung an, so fungierte
die andre als Opposition. Diese Scheidung der gesetzgebenden Körperschaft
w Mehrheit und Opposition war notwendig, weil doch eben jede Regierungs¬
maßregel und jedes Gesetz von wenigstens zwei Seiten beleuchtet werden muß,
ehe darüber Beschluß gefaßt wird. In dieser Zeit gab es keinen Anlaß, die
Geschäftsordnung auszubauen. Die spärlich besuchten Versammlungen der
großen Vetterschaft verliefen friedlich, gemütlich und schläfrig. Erst die Ver¬
suche der Krone, sich das Haus durch Bestechung dienstbar zu machen, und
dünn die französische Revolution und die napoleonischen Kriege brachten Leben
hinein. "Es gab damals keine Reformgesetzgebung im großen Stile, keine
Bills mit Hunderten von Paragraphen und zahllosen bestrittnen technischen
Details. Die innere Politik beschränkte sich in dieser über ein Jahrhundert
dauernden Periode des parlamentarischen Konservativismus auf kleine Ände-
rungen des Verwaltungsrechts, auf partikuläre und lokale Maßregew Der
Schwerpunkt der Tätigkeit des Unterhauses lag in der äußern und Kolomal-


Grenzboten III 1906
Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

Verstöße wider die Ordnung. Und wenn jemand unehrerbietig oder aufreizend gegen
den Landesfürsten oder das Privy Council spricht, so werden solche Redner nicht
nur unterbrochen, sondern es ist auch der Antrag gestellt worden, sie nach dem
Tower zu schicken.

Alle diese Regeln stehn noch heute in Kraft und werden tatsächlich befolgt,
nur daß für rebellische Abgeordnete nicht mehr der Tower das Haftlokal ist,
sondern ein im Parlamentsgebäude eingerichteter Kerker. Der Tyrannei
Heinrichs des Achten und Elisabeths beugte sich das Parlament protestierend,
weil die Politik beider Herrscher im großen und ganzen dem Volksgeiste und dem
Staatsinteresse entsprach. Da das bei den nicht minder tyrannischen Stuarts
nicht der Fall war, so machte der dem Parlament aufgezwungne Kampf gegen
den Herrscher das Volk vollends mündig und entschied ein für allemal, daß
der König nur als KwA in ?ar1i-iinsnt regieren könne. Nach erfochtnem
Siege führte der durch dynastische Sympathien und Antipathien verstärkte
religiöse Gegensatz zur Bildung der zwei großen Parteien, die dazu nötigte, aus¬
drückliche Befehle zur Aufrechterhaltung der alten löblichen Ordnung und be¬
sonders zum Schutze der Minderheit zu erlassen. Die Gesamtheit dieser Orders,
deren Zahl mit der Menge und Kompliziertheit der Geschäfte besonders im
neunzehnten Jahrhundert wuchs, macht eben das aus, was man die Geschäfts¬
ordnung des englischen Unterhauses nennen kann.

Die prinzipiellen Gegensätze verschwanden teils ganz, teils wurden sie
abgeschwächt, und im achtzehnten Jahrhundert nahmen die Parteien die be¬
kannte Gestalt an. Die Deomcmry war verschwunden. Die mit der Volks¬
vermehrung und der wachsenden Industrie entstandnen Massen der Lohnarbeiter,
eine Zeit lang sogar die industriellen Unternehmer, waren unvertreten. Die
Arbeitermassen war politisch tot. Das Unterhaus war die Vertretung einer
sozial gleichförmigen aristokratischen Oligarchie, die sich in zwei große Familien¬
gruppen schied, die unter den Namen Whigs und Tories in der Führung der
Geschäfte abwechselten. Trat die eine Gruppe die Regierung an, so fungierte
die andre als Opposition. Diese Scheidung der gesetzgebenden Körperschaft
w Mehrheit und Opposition war notwendig, weil doch eben jede Regierungs¬
maßregel und jedes Gesetz von wenigstens zwei Seiten beleuchtet werden muß,
ehe darüber Beschluß gefaßt wird. In dieser Zeit gab es keinen Anlaß, die
Geschäftsordnung auszubauen. Die spärlich besuchten Versammlungen der
großen Vetterschaft verliefen friedlich, gemütlich und schläfrig. Erst die Ver¬
suche der Krone, sich das Haus durch Bestechung dienstbar zu machen, und
dünn die französische Revolution und die napoleonischen Kriege brachten Leben
hinein. „Es gab damals keine Reformgesetzgebung im großen Stile, keine
Bills mit Hunderten von Paragraphen und zahllosen bestrittnen technischen
Details. Die innere Politik beschränkte sich in dieser über ein Jahrhundert
dauernden Periode des parlamentarischen Konservativismus auf kleine Ände-
rungen des Verwaltungsrechts, auf partikuläre und lokale Maßregew Der
Schwerpunkt der Tätigkeit des Unterhauses lag in der äußern und Kolomal-


Grenzboten III 1906
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[0461] Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments Verstöße wider die Ordnung. Und wenn jemand unehrerbietig oder aufreizend gegen den Landesfürsten oder das Privy Council spricht, so werden solche Redner nicht nur unterbrochen, sondern es ist auch der Antrag gestellt worden, sie nach dem Tower zu schicken. Alle diese Regeln stehn noch heute in Kraft und werden tatsächlich befolgt, nur daß für rebellische Abgeordnete nicht mehr der Tower das Haftlokal ist, sondern ein im Parlamentsgebäude eingerichteter Kerker. Der Tyrannei Heinrichs des Achten und Elisabeths beugte sich das Parlament protestierend, weil die Politik beider Herrscher im großen und ganzen dem Volksgeiste und dem Staatsinteresse entsprach. Da das bei den nicht minder tyrannischen Stuarts nicht der Fall war, so machte der dem Parlament aufgezwungne Kampf gegen den Herrscher das Volk vollends mündig und entschied ein für allemal, daß der König nur als KwA in ?ar1i-iinsnt regieren könne. Nach erfochtnem Siege führte der durch dynastische Sympathien und Antipathien verstärkte religiöse Gegensatz zur Bildung der zwei großen Parteien, die dazu nötigte, aus¬ drückliche Befehle zur Aufrechterhaltung der alten löblichen Ordnung und be¬ sonders zum Schutze der Minderheit zu erlassen. Die Gesamtheit dieser Orders, deren Zahl mit der Menge und Kompliziertheit der Geschäfte besonders im neunzehnten Jahrhundert wuchs, macht eben das aus, was man die Geschäfts¬ ordnung des englischen Unterhauses nennen kann. Die prinzipiellen Gegensätze verschwanden teils ganz, teils wurden sie abgeschwächt, und im achtzehnten Jahrhundert nahmen die Parteien die be¬ kannte Gestalt an. Die Deomcmry war verschwunden. Die mit der Volks¬ vermehrung und der wachsenden Industrie entstandnen Massen der Lohnarbeiter, eine Zeit lang sogar die industriellen Unternehmer, waren unvertreten. Die Arbeitermassen war politisch tot. Das Unterhaus war die Vertretung einer sozial gleichförmigen aristokratischen Oligarchie, die sich in zwei große Familien¬ gruppen schied, die unter den Namen Whigs und Tories in der Führung der Geschäfte abwechselten. Trat die eine Gruppe die Regierung an, so fungierte die andre als Opposition. Diese Scheidung der gesetzgebenden Körperschaft w Mehrheit und Opposition war notwendig, weil doch eben jede Regierungs¬ maßregel und jedes Gesetz von wenigstens zwei Seiten beleuchtet werden muß, ehe darüber Beschluß gefaßt wird. In dieser Zeit gab es keinen Anlaß, die Geschäftsordnung auszubauen. Die spärlich besuchten Versammlungen der großen Vetterschaft verliefen friedlich, gemütlich und schläfrig. Erst die Ver¬ suche der Krone, sich das Haus durch Bestechung dienstbar zu machen, und dünn die französische Revolution und die napoleonischen Kriege brachten Leben hinein. „Es gab damals keine Reformgesetzgebung im großen Stile, keine Bills mit Hunderten von Paragraphen und zahllosen bestrittnen technischen Details. Die innere Politik beschränkte sich in dieser über ein Jahrhundert dauernden Periode des parlamentarischen Konservativismus auf kleine Ände- rungen des Verwaltungsrechts, auf partikuläre und lokale Maßregew Der Schwerpunkt der Tätigkeit des Unterhauses lag in der äußern und Kolomal- Grenzboten III 1906

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/461>, abgerufen am 23.07.2024.