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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

heutige Parlamentarismus ausgebildet war, bezeugt ein Abschnitt aus der 1581
erschienenen Schrift of Nsxublioa ^.vAlorum von Sir Thomas Smith, aus
der Redlich u. a. folgende Stellen mitteilt:

Die höchste und souveräne Gewalt im Königreiche England liegt im Parlamente.
Denn so wie im Kriege die Stärke und Macht Englands dort ist, wo der König
in Person weilt, der Adel, die Gentry und die Aeonen, so ist im Frieden und
zu friedlicher Beratung gleichfalls mit dem Fürsten vereint zum Zwecke, die höchsten
Gebote des Staats zu verkündigen: die Baronie oder der Adel für den höhern,
die Ritter, die Esquires, die Gentlemen und die Commons für den niedern Teil
der Staatsgemeinschaft, und die Bischöfe für den Klerus. Nach reiflicher Erwägung,
wobei jede Bill dreimal gelesen und nach der Gewohnheit jedes Hauses in jedem
der beiden Häuser diskutiert worden ist, geben sie ihren Konsens, jedes für sich
nach erfolgter Abstimmung. Sodann erteilt der Landesfürst in Gegenwart beider
Häuser seine Sanktion, und dadurch tritt das Gesetz in Kraft. Das Parlament
schasst alte Gesetze ab und macht neue, schafft Ordnung für vergangne Dinge und
für solche, die erst kommen sollen, ändert die Rechte und den Besitz von Privat¬
personen, legitimiert Bastarde, setzt neue Formen der Religion ein, ändert Maß
und Gewicht, bestimmt die Thronfolge, gewährt Subsidien und Steuern, erläßt
Strafen, widerruft Ächtungen und spricht, als höchster Gerichtshof, schuldig und
frei. Um es kurz zu sagen: all das, was das römische Volk in seinen Centuriat-
und Tributkomitien getan hat, alles das kann auch durch das Parlament von
England getan werden, das die Macht des ganzen Königreichs repräsentiert und
in sich sowohl Körper als Geist vereinigt. Denn es wird angenommen, daß jeder
Engländer dort vertreten ist, sei es in Person oder durch Bevollmächtigung und
Stellvertretung, jedermann ohne Unterschied des Standes und Ranges, vom König
angefangen bis zur niedrigsten Person. . . . Wie im Oberhause, so wird auch im
Unterhause verhandelt. Der speaker, in einem erhöhten Stuhle sitzend, sodaß er
von allen gesehen werden kann, hat vor sich in einem niedrigen Sitze seinen Clerk,
der die Bills, die zuerst im Unterhause vorgelegt werden, oder wie sie von den
Lords herabgesandt worden sind, vorträgt. Alle Bills werden dreimal an drei
verschiednen Tagen gelesen und diskutiert, bevor darüber abgestimmt wird. In der
Diskussion ist eine wunderbar schöne Ordnung in Übung. Wer entblößten Hauptes
aufsteht, der macht dadurch bemerkbar, daß er zur Bill sprechen will. Stehn
mehrere auf, so wird der zuerst gehört, von dem man erachtet, daß er zuerst auf¬
gestanden sei. sJst das nicht auszumachen, so entscheidet der speaker, sagt ein
andrer Autor jener Zeit.s Obgleich nun der eine für das Gesetz, der andre dagegen
spricht, so findet doch kein Gezänk oder keine Widerrede zwischen beiden statt, denn
jedes Mitglied spricht zum speaker gewandt, nicht zu einem andern Mitgliede,
da solches als gegen die Ordnung des Hauses verstoßend erachtet wird. Als
ordnungswidrig gilt es auch, einen, den man widerlegen will, mit Namen zu nennen;
sondern es ist Sitte, diesen durch Umschreibungen zu bezeichnen, indem man ihn
den Vorredner oder den Gegner der Bill oder ähnlich nennt. Und so hält jeder
seine Rede in ununterbrochnem Vortrag, nicht in Zwiegespräch oder Streit mit
den andern, bis ans Ende. Wer einmal zu einer Bill gesprochen hat, darf, mag
ihm auch direkt widersprochen sein, an diesem Tage nicht replizieren, auch dann
nicht, wenn er seine Meinung geändert hätte, sodaß man zu ein und derselben Bill
an einem Tage nicht zweimal sprechen darf, sonst würden ein oder zwei Abgeordnete
mit Rede und Widerrede leicht die ganze Zeit in Anspruch nehmen. Am nächsten
Tage darf er wieder sprechen, dann aber auch nur einmal. Beschimpfende oder
höhnische Worte dürfen nicht gebraucht werden, sonst ruft das ganze Haus: Das


Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments

heutige Parlamentarismus ausgebildet war, bezeugt ein Abschnitt aus der 1581
erschienenen Schrift of Nsxublioa ^.vAlorum von Sir Thomas Smith, aus
der Redlich u. a. folgende Stellen mitteilt:

Die höchste und souveräne Gewalt im Königreiche England liegt im Parlamente.
Denn so wie im Kriege die Stärke und Macht Englands dort ist, wo der König
in Person weilt, der Adel, die Gentry und die Aeonen, so ist im Frieden und
zu friedlicher Beratung gleichfalls mit dem Fürsten vereint zum Zwecke, die höchsten
Gebote des Staats zu verkündigen: die Baronie oder der Adel für den höhern,
die Ritter, die Esquires, die Gentlemen und die Commons für den niedern Teil
der Staatsgemeinschaft, und die Bischöfe für den Klerus. Nach reiflicher Erwägung,
wobei jede Bill dreimal gelesen und nach der Gewohnheit jedes Hauses in jedem
der beiden Häuser diskutiert worden ist, geben sie ihren Konsens, jedes für sich
nach erfolgter Abstimmung. Sodann erteilt der Landesfürst in Gegenwart beider
Häuser seine Sanktion, und dadurch tritt das Gesetz in Kraft. Das Parlament
schasst alte Gesetze ab und macht neue, schafft Ordnung für vergangne Dinge und
für solche, die erst kommen sollen, ändert die Rechte und den Besitz von Privat¬
personen, legitimiert Bastarde, setzt neue Formen der Religion ein, ändert Maß
und Gewicht, bestimmt die Thronfolge, gewährt Subsidien und Steuern, erläßt
Strafen, widerruft Ächtungen und spricht, als höchster Gerichtshof, schuldig und
frei. Um es kurz zu sagen: all das, was das römische Volk in seinen Centuriat-
und Tributkomitien getan hat, alles das kann auch durch das Parlament von
England getan werden, das die Macht des ganzen Königreichs repräsentiert und
in sich sowohl Körper als Geist vereinigt. Denn es wird angenommen, daß jeder
Engländer dort vertreten ist, sei es in Person oder durch Bevollmächtigung und
Stellvertretung, jedermann ohne Unterschied des Standes und Ranges, vom König
angefangen bis zur niedrigsten Person. . . . Wie im Oberhause, so wird auch im
Unterhause verhandelt. Der speaker, in einem erhöhten Stuhle sitzend, sodaß er
von allen gesehen werden kann, hat vor sich in einem niedrigen Sitze seinen Clerk,
der die Bills, die zuerst im Unterhause vorgelegt werden, oder wie sie von den
Lords herabgesandt worden sind, vorträgt. Alle Bills werden dreimal an drei
verschiednen Tagen gelesen und diskutiert, bevor darüber abgestimmt wird. In der
Diskussion ist eine wunderbar schöne Ordnung in Übung. Wer entblößten Hauptes
aufsteht, der macht dadurch bemerkbar, daß er zur Bill sprechen will. Stehn
mehrere auf, so wird der zuerst gehört, von dem man erachtet, daß er zuerst auf¬
gestanden sei. sJst das nicht auszumachen, so entscheidet der speaker, sagt ein
andrer Autor jener Zeit.s Obgleich nun der eine für das Gesetz, der andre dagegen
spricht, so findet doch kein Gezänk oder keine Widerrede zwischen beiden statt, denn
jedes Mitglied spricht zum speaker gewandt, nicht zu einem andern Mitgliede,
da solches als gegen die Ordnung des Hauses verstoßend erachtet wird. Als
ordnungswidrig gilt es auch, einen, den man widerlegen will, mit Namen zu nennen;
sondern es ist Sitte, diesen durch Umschreibungen zu bezeichnen, indem man ihn
den Vorredner oder den Gegner der Bill oder ähnlich nennt. Und so hält jeder
seine Rede in ununterbrochnem Vortrag, nicht in Zwiegespräch oder Streit mit
den andern, bis ans Ende. Wer einmal zu einer Bill gesprochen hat, darf, mag
ihm auch direkt widersprochen sein, an diesem Tage nicht replizieren, auch dann
nicht, wenn er seine Meinung geändert hätte, sodaß man zu ein und derselben Bill
an einem Tage nicht zweimal sprechen darf, sonst würden ein oder zwei Abgeordnete
mit Rede und Widerrede leicht die ganze Zeit in Anspruch nehmen. Am nächsten
Tage darf er wieder sprechen, dann aber auch nur einmal. Beschimpfende oder
höhnische Worte dürfen nicht gebraucht werden, sonst ruft das ganze Haus: Das


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[0460] Die Geschäftsordnung des englischen Parlaments heutige Parlamentarismus ausgebildet war, bezeugt ein Abschnitt aus der 1581 erschienenen Schrift of Nsxublioa ^.vAlorum von Sir Thomas Smith, aus der Redlich u. a. folgende Stellen mitteilt: Die höchste und souveräne Gewalt im Königreiche England liegt im Parlamente. Denn so wie im Kriege die Stärke und Macht Englands dort ist, wo der König in Person weilt, der Adel, die Gentry und die Aeonen, so ist im Frieden und zu friedlicher Beratung gleichfalls mit dem Fürsten vereint zum Zwecke, die höchsten Gebote des Staats zu verkündigen: die Baronie oder der Adel für den höhern, die Ritter, die Esquires, die Gentlemen und die Commons für den niedern Teil der Staatsgemeinschaft, und die Bischöfe für den Klerus. Nach reiflicher Erwägung, wobei jede Bill dreimal gelesen und nach der Gewohnheit jedes Hauses in jedem der beiden Häuser diskutiert worden ist, geben sie ihren Konsens, jedes für sich nach erfolgter Abstimmung. Sodann erteilt der Landesfürst in Gegenwart beider Häuser seine Sanktion, und dadurch tritt das Gesetz in Kraft. Das Parlament schasst alte Gesetze ab und macht neue, schafft Ordnung für vergangne Dinge und für solche, die erst kommen sollen, ändert die Rechte und den Besitz von Privat¬ personen, legitimiert Bastarde, setzt neue Formen der Religion ein, ändert Maß und Gewicht, bestimmt die Thronfolge, gewährt Subsidien und Steuern, erläßt Strafen, widerruft Ächtungen und spricht, als höchster Gerichtshof, schuldig und frei. Um es kurz zu sagen: all das, was das römische Volk in seinen Centuriat- und Tributkomitien getan hat, alles das kann auch durch das Parlament von England getan werden, das die Macht des ganzen Königreichs repräsentiert und in sich sowohl Körper als Geist vereinigt. Denn es wird angenommen, daß jeder Engländer dort vertreten ist, sei es in Person oder durch Bevollmächtigung und Stellvertretung, jedermann ohne Unterschied des Standes und Ranges, vom König angefangen bis zur niedrigsten Person. . . . Wie im Oberhause, so wird auch im Unterhause verhandelt. Der speaker, in einem erhöhten Stuhle sitzend, sodaß er von allen gesehen werden kann, hat vor sich in einem niedrigen Sitze seinen Clerk, der die Bills, die zuerst im Unterhause vorgelegt werden, oder wie sie von den Lords herabgesandt worden sind, vorträgt. Alle Bills werden dreimal an drei verschiednen Tagen gelesen und diskutiert, bevor darüber abgestimmt wird. In der Diskussion ist eine wunderbar schöne Ordnung in Übung. Wer entblößten Hauptes aufsteht, der macht dadurch bemerkbar, daß er zur Bill sprechen will. Stehn mehrere auf, so wird der zuerst gehört, von dem man erachtet, daß er zuerst auf¬ gestanden sei. sJst das nicht auszumachen, so entscheidet der speaker, sagt ein andrer Autor jener Zeit.s Obgleich nun der eine für das Gesetz, der andre dagegen spricht, so findet doch kein Gezänk oder keine Widerrede zwischen beiden statt, denn jedes Mitglied spricht zum speaker gewandt, nicht zu einem andern Mitgliede, da solches als gegen die Ordnung des Hauses verstoßend erachtet wird. Als ordnungswidrig gilt es auch, einen, den man widerlegen will, mit Namen zu nennen; sondern es ist Sitte, diesen durch Umschreibungen zu bezeichnen, indem man ihn den Vorredner oder den Gegner der Bill oder ähnlich nennt. Und so hält jeder seine Rede in ununterbrochnem Vortrag, nicht in Zwiegespräch oder Streit mit den andern, bis ans Ende. Wer einmal zu einer Bill gesprochen hat, darf, mag ihm auch direkt widersprochen sein, an diesem Tage nicht replizieren, auch dann nicht, wenn er seine Meinung geändert hätte, sodaß man zu ein und derselben Bill an einem Tage nicht zweimal sprechen darf, sonst würden ein oder zwei Abgeordnete mit Rede und Widerrede leicht die ganze Zeit in Anspruch nehmen. Am nächsten Tage darf er wieder sprechen, dann aber auch nur einmal. Beschimpfende oder höhnische Worte dürfen nicht gebraucht werden, sonst ruft das ganze Haus: Das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/460>, abgerufen am 29.12.2024.