Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

Gulden profitierte. So geringfügig diese Kompensation war, Ungarn setzte
es schon im Jahre 1877 durch, daß diese Rückvergütungen nicht mehr aus
den Zolleinnahmen, sondern von den beiden Neichshälften nach Maßgabe der
Erzeugung in beiden Ländern bestritten wurden. Abgesehen davon, daß
Osterreich dadurch geschädigt wurde, wurde dadurch auch die kaum gewonnene
Gemeinsamkeit der Regelung der indirekten Abgaben wieder gestört. Dasselbe
gilt von der ungarischen Jndustrieförderungspolitik, der EinHebung einer
statistischen Gebühr auf österreichische Waren an der ungarischen Grenze und
der Donautransportsteuer, durchweg Maßregeln, die mit der Verfassung von
1867 im Widerspruch standen und das deutliche Bestreben der ungarischen
Regierungen verrieten, die Gemeinsamkeit überall dort aufzulösen, wo sie dem
vermeintlichen Interesse Ungarns nicht entsprach.

Wie der Tropfen den Stein höhlt, so hatte die ungarische Unabhängig¬
keitsbewegung im Verlaufe von dreißig Jahren nahezu unbemerkt so manches
wertvolle Stück der Gemeinsamkeit hinweggespült, aber die Entwicklung dieses
Prozesses beschleunigte sich zusehends, als es Ende der neunziger Jahre zur
dritten Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs zwischen beiden Neichs¬
hälften kommen sollte. Diesseits wie jenseits hatten sich die Verhältnisse der
Erhaltung der Gemeinsamkeit recht ungünstig gestaltet. In Österreich hatte
sich der Bevölkerung, besonders der deutschen, eine tiefe Unzufriedenheit über
die unverhältnismäßig schweren Lasten bemächtigt, die der Ausgleich mit Ungarn
Österreich aufbürdete. "Während der Dauer des Zoll- und Handelsbündnisfes
-- so heißt es in einer Denkschrift des niederösterreichischen Gewerbevereins
aus jener Zeit -- hat Ungarn den Löwenanteil der wirtschaftlichen Erfolge
davongetragen, während Österreich gerade in derselben Zeit die Früchte jahr¬
hundertelanger Beziehungen mit Ungarn der Gefahr einer langsamen Ab-
bröcklung ausgesetzt sieht." Hier und da hörte man auch schon den Ruf:
"Los von Ungarn!" Praktisch äußerte sich jedoch diese tiefe Verstimmung
vorerst nur in dem Bestreben, bei der bevorstehenden Erneuerung des wirt¬
schaftlichen Ausgleichs bessere Bedingungen für Österreich zu erlangen. Das
Ministerium Badeni hatte jedoch nicht die Fähigkeit und die Kraft, der
ungarischen Regierung einige Vorteile abzugewinnen, und so wurde die Er¬
neuerung des Ausgleichs unter Bedingungen vereinbart, die im österreichischen
Abgeordnetenhause auf den heftigsten Widerstand stoßen mußten. Allerdings
^igten sich die alten Parteien der Rechten geneigt, die Ausgleichsvorlagen
bewilligen, aber die Rechte hatte nicht mehr die Majorität, und die Jung¬
tschechen erklärten, nur dann die Regierung unterstützen zu wollen, wenn diese
^e Einführung der innern tschechischen Amtssprache in Böhmen und in
Mührer verfügen würde. Dem Ministerium Badeni blieb kaum eine andre
Wahl, als dieses Angebot anzunehmen. Die bekannten Badenischen Sprachen¬
verordnungen erschienen, riefen aber in der deutschen Bevölkerung eine Er¬
regung hervor, die die deutschen Parteien im Abgeordnetenhause bestimmte,


Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

Gulden profitierte. So geringfügig diese Kompensation war, Ungarn setzte
es schon im Jahre 1877 durch, daß diese Rückvergütungen nicht mehr aus
den Zolleinnahmen, sondern von den beiden Neichshälften nach Maßgabe der
Erzeugung in beiden Ländern bestritten wurden. Abgesehen davon, daß
Osterreich dadurch geschädigt wurde, wurde dadurch auch die kaum gewonnene
Gemeinsamkeit der Regelung der indirekten Abgaben wieder gestört. Dasselbe
gilt von der ungarischen Jndustrieförderungspolitik, der EinHebung einer
statistischen Gebühr auf österreichische Waren an der ungarischen Grenze und
der Donautransportsteuer, durchweg Maßregeln, die mit der Verfassung von
1867 im Widerspruch standen und das deutliche Bestreben der ungarischen
Regierungen verrieten, die Gemeinsamkeit überall dort aufzulösen, wo sie dem
vermeintlichen Interesse Ungarns nicht entsprach.

Wie der Tropfen den Stein höhlt, so hatte die ungarische Unabhängig¬
keitsbewegung im Verlaufe von dreißig Jahren nahezu unbemerkt so manches
wertvolle Stück der Gemeinsamkeit hinweggespült, aber die Entwicklung dieses
Prozesses beschleunigte sich zusehends, als es Ende der neunziger Jahre zur
dritten Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs zwischen beiden Neichs¬
hälften kommen sollte. Diesseits wie jenseits hatten sich die Verhältnisse der
Erhaltung der Gemeinsamkeit recht ungünstig gestaltet. In Österreich hatte
sich der Bevölkerung, besonders der deutschen, eine tiefe Unzufriedenheit über
die unverhältnismäßig schweren Lasten bemächtigt, die der Ausgleich mit Ungarn
Österreich aufbürdete. „Während der Dauer des Zoll- und Handelsbündnisfes
— so heißt es in einer Denkschrift des niederösterreichischen Gewerbevereins
aus jener Zeit — hat Ungarn den Löwenanteil der wirtschaftlichen Erfolge
davongetragen, während Österreich gerade in derselben Zeit die Früchte jahr¬
hundertelanger Beziehungen mit Ungarn der Gefahr einer langsamen Ab-
bröcklung ausgesetzt sieht." Hier und da hörte man auch schon den Ruf:
"Los von Ungarn!" Praktisch äußerte sich jedoch diese tiefe Verstimmung
vorerst nur in dem Bestreben, bei der bevorstehenden Erneuerung des wirt¬
schaftlichen Ausgleichs bessere Bedingungen für Österreich zu erlangen. Das
Ministerium Badeni hatte jedoch nicht die Fähigkeit und die Kraft, der
ungarischen Regierung einige Vorteile abzugewinnen, und so wurde die Er¬
neuerung des Ausgleichs unter Bedingungen vereinbart, die im österreichischen
Abgeordnetenhause auf den heftigsten Widerstand stoßen mußten. Allerdings
^igten sich die alten Parteien der Rechten geneigt, die Ausgleichsvorlagen
bewilligen, aber die Rechte hatte nicht mehr die Majorität, und die Jung¬
tschechen erklärten, nur dann die Regierung unterstützen zu wollen, wenn diese
^e Einführung der innern tschechischen Amtssprache in Böhmen und in
Mührer verfügen würde. Dem Ministerium Badeni blieb kaum eine andre
Wahl, als dieses Angebot anzunehmen. Die bekannten Badenischen Sprachen¬
verordnungen erschienen, riefen aber in der deutschen Bevölkerung eine Er¬
regung hervor, die die deutschen Parteien im Abgeordnetenhause bestimmte,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0451" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300238"/>
          <fw type="header" place="top"> Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1710" prev="#ID_1709"> Gulden profitierte. So geringfügig diese Kompensation war, Ungarn setzte<lb/>
es schon im Jahre 1877 durch, daß diese Rückvergütungen nicht mehr aus<lb/>
den Zolleinnahmen, sondern von den beiden Neichshälften nach Maßgabe der<lb/>
Erzeugung in beiden Ländern bestritten wurden. Abgesehen davon, daß<lb/>
Osterreich dadurch geschädigt wurde, wurde dadurch auch die kaum gewonnene<lb/>
Gemeinsamkeit der Regelung der indirekten Abgaben wieder gestört. Dasselbe<lb/>
gilt von der ungarischen Jndustrieförderungspolitik, der EinHebung einer<lb/>
statistischen Gebühr auf österreichische Waren an der ungarischen Grenze und<lb/>
der Donautransportsteuer, durchweg Maßregeln, die mit der Verfassung von<lb/>
1867 im Widerspruch standen und das deutliche Bestreben der ungarischen<lb/>
Regierungen verrieten, die Gemeinsamkeit überall dort aufzulösen, wo sie dem<lb/>
vermeintlichen Interesse Ungarns nicht entsprach.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1711" next="#ID_1712"> Wie der Tropfen den Stein höhlt, so hatte die ungarische Unabhängig¬<lb/>
keitsbewegung im Verlaufe von dreißig Jahren nahezu unbemerkt so manches<lb/>
wertvolle Stück der Gemeinsamkeit hinweggespült, aber die Entwicklung dieses<lb/>
Prozesses beschleunigte sich zusehends, als es Ende der neunziger Jahre zur<lb/>
dritten Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs zwischen beiden Neichs¬<lb/>
hälften kommen sollte. Diesseits wie jenseits hatten sich die Verhältnisse der<lb/>
Erhaltung der Gemeinsamkeit recht ungünstig gestaltet. In Österreich hatte<lb/>
sich der Bevölkerung, besonders der deutschen, eine tiefe Unzufriedenheit über<lb/>
die unverhältnismäßig schweren Lasten bemächtigt, die der Ausgleich mit Ungarn<lb/>
Österreich aufbürdete. &#x201E;Während der Dauer des Zoll- und Handelsbündnisfes<lb/>
&#x2014; so heißt es in einer Denkschrift des niederösterreichischen Gewerbevereins<lb/>
aus jener Zeit &#x2014; hat Ungarn den Löwenanteil der wirtschaftlichen Erfolge<lb/>
davongetragen, während Österreich gerade in derselben Zeit die Früchte jahr¬<lb/>
hundertelanger Beziehungen mit Ungarn der Gefahr einer langsamen Ab-<lb/>
bröcklung ausgesetzt sieht." Hier und da hörte man auch schon den Ruf:<lb/>
"Los von Ungarn!" Praktisch äußerte sich jedoch diese tiefe Verstimmung<lb/>
vorerst nur in dem Bestreben, bei der bevorstehenden Erneuerung des wirt¬<lb/>
schaftlichen Ausgleichs bessere Bedingungen für Österreich zu erlangen. Das<lb/>
Ministerium Badeni hatte jedoch nicht die Fähigkeit und die Kraft, der<lb/>
ungarischen Regierung einige Vorteile abzugewinnen, und so wurde die Er¬<lb/>
neuerung des Ausgleichs unter Bedingungen vereinbart, die im österreichischen<lb/>
Abgeordnetenhause auf den heftigsten Widerstand stoßen mußten. Allerdings<lb/>
^igten sich die alten Parteien der Rechten geneigt, die Ausgleichsvorlagen<lb/>
bewilligen, aber die Rechte hatte nicht mehr die Majorität, und die Jung¬<lb/>
tschechen erklärten, nur dann die Regierung unterstützen zu wollen, wenn diese<lb/>
^e Einführung der innern tschechischen Amtssprache in Böhmen und in<lb/>
Mührer verfügen würde. Dem Ministerium Badeni blieb kaum eine andre<lb/>
Wahl, als dieses Angebot anzunehmen. Die bekannten Badenischen Sprachen¬<lb/>
verordnungen erschienen, riefen aber in der deutschen Bevölkerung eine Er¬<lb/>
regung hervor, die die deutschen Parteien im Abgeordnetenhause bestimmte,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0451] Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke Gulden profitierte. So geringfügig diese Kompensation war, Ungarn setzte es schon im Jahre 1877 durch, daß diese Rückvergütungen nicht mehr aus den Zolleinnahmen, sondern von den beiden Neichshälften nach Maßgabe der Erzeugung in beiden Ländern bestritten wurden. Abgesehen davon, daß Osterreich dadurch geschädigt wurde, wurde dadurch auch die kaum gewonnene Gemeinsamkeit der Regelung der indirekten Abgaben wieder gestört. Dasselbe gilt von der ungarischen Jndustrieförderungspolitik, der EinHebung einer statistischen Gebühr auf österreichische Waren an der ungarischen Grenze und der Donautransportsteuer, durchweg Maßregeln, die mit der Verfassung von 1867 im Widerspruch standen und das deutliche Bestreben der ungarischen Regierungen verrieten, die Gemeinsamkeit überall dort aufzulösen, wo sie dem vermeintlichen Interesse Ungarns nicht entsprach. Wie der Tropfen den Stein höhlt, so hatte die ungarische Unabhängig¬ keitsbewegung im Verlaufe von dreißig Jahren nahezu unbemerkt so manches wertvolle Stück der Gemeinsamkeit hinweggespült, aber die Entwicklung dieses Prozesses beschleunigte sich zusehends, als es Ende der neunziger Jahre zur dritten Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs zwischen beiden Neichs¬ hälften kommen sollte. Diesseits wie jenseits hatten sich die Verhältnisse der Erhaltung der Gemeinsamkeit recht ungünstig gestaltet. In Österreich hatte sich der Bevölkerung, besonders der deutschen, eine tiefe Unzufriedenheit über die unverhältnismäßig schweren Lasten bemächtigt, die der Ausgleich mit Ungarn Österreich aufbürdete. „Während der Dauer des Zoll- und Handelsbündnisfes — so heißt es in einer Denkschrift des niederösterreichischen Gewerbevereins aus jener Zeit — hat Ungarn den Löwenanteil der wirtschaftlichen Erfolge davongetragen, während Österreich gerade in derselben Zeit die Früchte jahr¬ hundertelanger Beziehungen mit Ungarn der Gefahr einer langsamen Ab- bröcklung ausgesetzt sieht." Hier und da hörte man auch schon den Ruf: "Los von Ungarn!" Praktisch äußerte sich jedoch diese tiefe Verstimmung vorerst nur in dem Bestreben, bei der bevorstehenden Erneuerung des wirt¬ schaftlichen Ausgleichs bessere Bedingungen für Österreich zu erlangen. Das Ministerium Badeni hatte jedoch nicht die Fähigkeit und die Kraft, der ungarischen Regierung einige Vorteile abzugewinnen, und so wurde die Er¬ neuerung des Ausgleichs unter Bedingungen vereinbart, die im österreichischen Abgeordnetenhause auf den heftigsten Widerstand stoßen mußten. Allerdings ^igten sich die alten Parteien der Rechten geneigt, die Ausgleichsvorlagen bewilligen, aber die Rechte hatte nicht mehr die Majorität, und die Jung¬ tschechen erklärten, nur dann die Regierung unterstützen zu wollen, wenn diese ^e Einführung der innern tschechischen Amtssprache in Böhmen und in Mührer verfügen würde. Dem Ministerium Badeni blieb kaum eine andre Wahl, als dieses Angebot anzunehmen. Die bekannten Badenischen Sprachen¬ verordnungen erschienen, riefen aber in der deutschen Bevölkerung eine Er¬ regung hervor, die die deutschen Parteien im Abgeordnetenhause bestimmte,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/451
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/451>, abgerufen am 23.07.2024.