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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

durch Obstruktion die gesamte Gesetzgebung zum Stillstand zu bringen. Die
parlamentarische Erledigung des Banffy-Badenischen Ausgleichs war damit un¬
möglich geworden, eine Folge davon war aber eine weitere Lockerung der
Gemeinsamkeit.

Wohl wurde der Ausgleich erneuert, jedoch nicht unter Mitwirkung des
österreichischen Parlaments, sondern mit Hilfe des kaiserlichen Notverordnungs¬
rechts; diesen konstitutionellen Mangel benützte aber der ungarische Reichs¬
tag, zu erklären, daß unter diesen Verhältnissen von einer Erneuerung des
wirtschaftlichen Ausgleichs, wie sie die Gesetze von 1867 vorsehen, nicht die
Rede sein könne; da nämlich in Österreich die parlamentarische Genehmigung
hierzu nicht zu erlangen sei, trete automatisch die wirtschaftliche Selbständigkeit
Ungarns wieder in Kraft, jedoch sei Ungarn bereit, sich bis Ende 1917 an
die Banffy-Badenischen Vereinbarungen zu halten, solange Österreich dasselbe
tue. Theoretisch war damit schon die wirtschaftliche Trennung der beiden
Reichshälften ausgesprochen, beruhte die wirtschaftliche Gemeinsamkeit doch
nicht mehr auf dem Verzichte der beiden Reichshälften auf die handelspolitische
Selbständigkeit, sondern nur mehr auf einem Reziprozitütsverhültnis, das
jederzeit von dem einen oder von dem andern Teile gelöst werden konnte.
Mittlerweile hatten aber die Verhältnisse in Ungarn eine Wendung genommen,
die für die Reichsverfassung das Schlimmste befürchten ließ.

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre war Franz Kossuth, der Sohn
Ludwig Kossuths, nach Ungarn zurückgekehrt und sofort als Kandidat der Un¬
abhängigkeitspartei zum Abgeordneten gewählt worden. Die Partei hatte in ihm
einen Führer gewonnen, der wohl nicht durch besondre politische Befähigung
hervorragte, durch seinen Namen allein aber in der magyarischen Bevölkerung
die Erinnerungen an die Revolution des Jahres 1848 weckte und dadurch der
Unabhängigkeitsbewegung neue Schwungkraft verlieh. Die Partei gewann zu¬
sehends an Macht und Einfluß im Lande, und ihre Aussichten wuchsen noch,
als mit dem Sturze des Ministeriums Banffy der einzige Führer der alten
liberalen Partei gefallen war, der durch eine allerdings ebenso skrupellose wie
gewalttätige Wahlpolitik nicht nur in den nichtmagyarischen, sondern auch in
den magyarischen Bezirken die Opposition niederzuhalten verstanden hatte.
Sein Nachfolger, Herr von Szell, suchte der wachsenden Macht der Unab¬
hängigkeitspartei durch die Fusion der Regierungspartei mit der unter der
Führung des Grafen Apponyi stehenden Nationalpartei zu begegnen. Die
Grundlage dieser Vereinigung bildete ein Abkommen, das die Reinheit der
Wahlen -- natürlich nur in den magyarischen Bezirken -- sowie die Be¬
rücksichtigung der Wünsche der Nation bei der Erneuerung des Wehrgesetzes
sicherstellen sollte. Herr von Szell erfüllte zunächst die erste der beiden Be¬
dingungen durch Vorlage eines Gesetzes über die Wahlgerichtsbarkeit, und die
darauf folgenden Neuwahlen ergaben wirklich eine Mehrheit für die Regierung,
die durch ihre numerische Stärke nach außen wenigstens imponieren mußte.


Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

durch Obstruktion die gesamte Gesetzgebung zum Stillstand zu bringen. Die
parlamentarische Erledigung des Banffy-Badenischen Ausgleichs war damit un¬
möglich geworden, eine Folge davon war aber eine weitere Lockerung der
Gemeinsamkeit.

Wohl wurde der Ausgleich erneuert, jedoch nicht unter Mitwirkung des
österreichischen Parlaments, sondern mit Hilfe des kaiserlichen Notverordnungs¬
rechts; diesen konstitutionellen Mangel benützte aber der ungarische Reichs¬
tag, zu erklären, daß unter diesen Verhältnissen von einer Erneuerung des
wirtschaftlichen Ausgleichs, wie sie die Gesetze von 1867 vorsehen, nicht die
Rede sein könne; da nämlich in Österreich die parlamentarische Genehmigung
hierzu nicht zu erlangen sei, trete automatisch die wirtschaftliche Selbständigkeit
Ungarns wieder in Kraft, jedoch sei Ungarn bereit, sich bis Ende 1917 an
die Banffy-Badenischen Vereinbarungen zu halten, solange Österreich dasselbe
tue. Theoretisch war damit schon die wirtschaftliche Trennung der beiden
Reichshälften ausgesprochen, beruhte die wirtschaftliche Gemeinsamkeit doch
nicht mehr auf dem Verzichte der beiden Reichshälften auf die handelspolitische
Selbständigkeit, sondern nur mehr auf einem Reziprozitütsverhültnis, das
jederzeit von dem einen oder von dem andern Teile gelöst werden konnte.
Mittlerweile hatten aber die Verhältnisse in Ungarn eine Wendung genommen,
die für die Reichsverfassung das Schlimmste befürchten ließ.

In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre war Franz Kossuth, der Sohn
Ludwig Kossuths, nach Ungarn zurückgekehrt und sofort als Kandidat der Un¬
abhängigkeitspartei zum Abgeordneten gewählt worden. Die Partei hatte in ihm
einen Führer gewonnen, der wohl nicht durch besondre politische Befähigung
hervorragte, durch seinen Namen allein aber in der magyarischen Bevölkerung
die Erinnerungen an die Revolution des Jahres 1848 weckte und dadurch der
Unabhängigkeitsbewegung neue Schwungkraft verlieh. Die Partei gewann zu¬
sehends an Macht und Einfluß im Lande, und ihre Aussichten wuchsen noch,
als mit dem Sturze des Ministeriums Banffy der einzige Führer der alten
liberalen Partei gefallen war, der durch eine allerdings ebenso skrupellose wie
gewalttätige Wahlpolitik nicht nur in den nichtmagyarischen, sondern auch in
den magyarischen Bezirken die Opposition niederzuhalten verstanden hatte.
Sein Nachfolger, Herr von Szell, suchte der wachsenden Macht der Unab¬
hängigkeitspartei durch die Fusion der Regierungspartei mit der unter der
Führung des Grafen Apponyi stehenden Nationalpartei zu begegnen. Die
Grundlage dieser Vereinigung bildete ein Abkommen, das die Reinheit der
Wahlen — natürlich nur in den magyarischen Bezirken — sowie die Be¬
rücksichtigung der Wünsche der Nation bei der Erneuerung des Wehrgesetzes
sicherstellen sollte. Herr von Szell erfüllte zunächst die erste der beiden Be¬
dingungen durch Vorlage eines Gesetzes über die Wahlgerichtsbarkeit, und die
darauf folgenden Neuwahlen ergaben wirklich eine Mehrheit für die Regierung,
die durch ihre numerische Stärke nach außen wenigstens imponieren mußte.


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[0452] Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke durch Obstruktion die gesamte Gesetzgebung zum Stillstand zu bringen. Die parlamentarische Erledigung des Banffy-Badenischen Ausgleichs war damit un¬ möglich geworden, eine Folge davon war aber eine weitere Lockerung der Gemeinsamkeit. Wohl wurde der Ausgleich erneuert, jedoch nicht unter Mitwirkung des österreichischen Parlaments, sondern mit Hilfe des kaiserlichen Notverordnungs¬ rechts; diesen konstitutionellen Mangel benützte aber der ungarische Reichs¬ tag, zu erklären, daß unter diesen Verhältnissen von einer Erneuerung des wirtschaftlichen Ausgleichs, wie sie die Gesetze von 1867 vorsehen, nicht die Rede sein könne; da nämlich in Österreich die parlamentarische Genehmigung hierzu nicht zu erlangen sei, trete automatisch die wirtschaftliche Selbständigkeit Ungarns wieder in Kraft, jedoch sei Ungarn bereit, sich bis Ende 1917 an die Banffy-Badenischen Vereinbarungen zu halten, solange Österreich dasselbe tue. Theoretisch war damit schon die wirtschaftliche Trennung der beiden Reichshälften ausgesprochen, beruhte die wirtschaftliche Gemeinsamkeit doch nicht mehr auf dem Verzichte der beiden Reichshälften auf die handelspolitische Selbständigkeit, sondern nur mehr auf einem Reziprozitütsverhültnis, das jederzeit von dem einen oder von dem andern Teile gelöst werden konnte. Mittlerweile hatten aber die Verhältnisse in Ungarn eine Wendung genommen, die für die Reichsverfassung das Schlimmste befürchten ließ. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre war Franz Kossuth, der Sohn Ludwig Kossuths, nach Ungarn zurückgekehrt und sofort als Kandidat der Un¬ abhängigkeitspartei zum Abgeordneten gewählt worden. Die Partei hatte in ihm einen Führer gewonnen, der wohl nicht durch besondre politische Befähigung hervorragte, durch seinen Namen allein aber in der magyarischen Bevölkerung die Erinnerungen an die Revolution des Jahres 1848 weckte und dadurch der Unabhängigkeitsbewegung neue Schwungkraft verlieh. Die Partei gewann zu¬ sehends an Macht und Einfluß im Lande, und ihre Aussichten wuchsen noch, als mit dem Sturze des Ministeriums Banffy der einzige Führer der alten liberalen Partei gefallen war, der durch eine allerdings ebenso skrupellose wie gewalttätige Wahlpolitik nicht nur in den nichtmagyarischen, sondern auch in den magyarischen Bezirken die Opposition niederzuhalten verstanden hatte. Sein Nachfolger, Herr von Szell, suchte der wachsenden Macht der Unab¬ hängigkeitspartei durch die Fusion der Regierungspartei mit der unter der Führung des Grafen Apponyi stehenden Nationalpartei zu begegnen. Die Grundlage dieser Vereinigung bildete ein Abkommen, das die Reinheit der Wahlen — natürlich nur in den magyarischen Bezirken — sowie die Be¬ rücksichtigung der Wünsche der Nation bei der Erneuerung des Wehrgesetzes sicherstellen sollte. Herr von Szell erfüllte zunächst die erste der beiden Be¬ dingungen durch Vorlage eines Gesetzes über die Wahlgerichtsbarkeit, und die darauf folgenden Neuwahlen ergaben wirklich eine Mehrheit für die Regierung, die durch ihre numerische Stärke nach außen wenigstens imponieren mußte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/452>, abgerufen am 29.12.2024.