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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

Abgabe offizieller Äußerungen berechtigt war. Als nun im Jahre 1895 der
damalige ungarische Ministerpräsident Baron Banffy im ungarischen Abge¬
ordnetenhause in einer auswärtigen Angelegenheit eine Erklärung abgab, ohne
hierzu von dem damaligen Minister des Äußern, Grafen Kalnoky, autorisiert
zu sein, erklärte dieser nur dann im Amte bleiben zu können, wenn sichere
Garantien gegen die Wiederholung solcher verfassungswidrigen Eingriffe in
den Wirkungskreis des Ministeriums des Äußern gegeben würden. Baron
Banffy zeigte hierzu jedoch nicht die mindeste Lust, und Graf Kalnoky gab
seine Entlassung in der Hoffnung, daß es durch die Ausscheidung des Persön¬
lichen aus der Krise möglich sein werde, die im Interesse der Stetigkeit und
der Einheitlichkeit der auswärtigen Politik notwendigen Garantien zu erhalten.
Das offiziöse Fremdenblatt schrieb damals: "Die ruhende Achse, um die
bisher die Geschicke der Monarchie in ruhigen Bahnen sich bewegen konnten,
ist in die Kämpfe der Parteien gezogen worden, und niemand weiß, wie der
Wiederkehr solcher Erschütterungen zu begegnen sei. Graf Kalnoky hat einen
Curtiussprung unternommen. Mit seiner Person wollte er die Krisen be¬
schwören, die in der letzten Zeit immer von neuem ausbrachen. Aber wir
fürchten sehr, es ist ihm nicht gelungen, den Schlund zu schließen, aus dem
sie emporgestiegen sind." Ging daraus einerseits hervor, daß die Bemühungen
der Magyaren, die Stellung des Ministers des Auswärtigen hinabzudrücken,
schon ältern Datums waren, so bestätigte es sich andrerseits, daß der Nach¬
folger des Grafen Kalnoky, Graf Goluchowski, die Banffysche Auffassung von
der Kompetenz der ungarischen Regierung in auswärtigen Angelegenheiten
ohne weiteres acceptierte. Unmittelbare Folgen hatte diese Verschiebung der
Kompetenzen allerdings nicht, denn es ist eine alte und erprobte Taktik
ungarischer Staatsmänner, neuerworbne Rechte sich erst theoretisch einbürgern
zu lassen, bevor sie sie im Geiste der ungarischen Unabhängigkeitsidee aus¬
nützen.

Nicht minder zielbewußt strebten die Magyaren endlich der allmählichen
Wiederauflösung jeder wirtschaftlichen Gemeinsamkeit mit Österreich zu. Während
die ungarischen Regierungen einerseits unter Mißachtung der mit Österreich
geschlossenen Verträge der Einfuhr österreichischer Jndustrieprodukte nach Ungarn
entgegenarbeiteten, waren sie andrerseits mit Erfolg bestrebt, den Kreis jener
Angelegenheiten, die nach gemeinsam festzustellenden Grundsätzen behandelt
werden sollten, immer mehr einzuengen, sofern das natürlich ihren Interessen
entsprach. Es ist schon erwähnt worden, daß Österreich dadurch über Gebühr
zu der Bestreitung der gemeinsamen Ausgaben herangezogen wurde, daß der
Reinertrag der Zölle pauschaliter an die Reichskasse abgeliefert wurde. Eine
wenn auch nur kleine Entschädigung dafür lag für Österreich ursprünglich in
der Bestimmung, daß die Ausfuhrvergütung für Bier, Branntwein und Zucker,
also hauptsächlich österreichischer Exportartikel, aus dem Ertrage der gemein¬
samen Zölle zu bestreiten sei, wodurch Österreich jährlich etwa 1,16 Millionen


Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

Abgabe offizieller Äußerungen berechtigt war. Als nun im Jahre 1895 der
damalige ungarische Ministerpräsident Baron Banffy im ungarischen Abge¬
ordnetenhause in einer auswärtigen Angelegenheit eine Erklärung abgab, ohne
hierzu von dem damaligen Minister des Äußern, Grafen Kalnoky, autorisiert
zu sein, erklärte dieser nur dann im Amte bleiben zu können, wenn sichere
Garantien gegen die Wiederholung solcher verfassungswidrigen Eingriffe in
den Wirkungskreis des Ministeriums des Äußern gegeben würden. Baron
Banffy zeigte hierzu jedoch nicht die mindeste Lust, und Graf Kalnoky gab
seine Entlassung in der Hoffnung, daß es durch die Ausscheidung des Persön¬
lichen aus der Krise möglich sein werde, die im Interesse der Stetigkeit und
der Einheitlichkeit der auswärtigen Politik notwendigen Garantien zu erhalten.
Das offiziöse Fremdenblatt schrieb damals: „Die ruhende Achse, um die
bisher die Geschicke der Monarchie in ruhigen Bahnen sich bewegen konnten,
ist in die Kämpfe der Parteien gezogen worden, und niemand weiß, wie der
Wiederkehr solcher Erschütterungen zu begegnen sei. Graf Kalnoky hat einen
Curtiussprung unternommen. Mit seiner Person wollte er die Krisen be¬
schwören, die in der letzten Zeit immer von neuem ausbrachen. Aber wir
fürchten sehr, es ist ihm nicht gelungen, den Schlund zu schließen, aus dem
sie emporgestiegen sind." Ging daraus einerseits hervor, daß die Bemühungen
der Magyaren, die Stellung des Ministers des Auswärtigen hinabzudrücken,
schon ältern Datums waren, so bestätigte es sich andrerseits, daß der Nach¬
folger des Grafen Kalnoky, Graf Goluchowski, die Banffysche Auffassung von
der Kompetenz der ungarischen Regierung in auswärtigen Angelegenheiten
ohne weiteres acceptierte. Unmittelbare Folgen hatte diese Verschiebung der
Kompetenzen allerdings nicht, denn es ist eine alte und erprobte Taktik
ungarischer Staatsmänner, neuerworbne Rechte sich erst theoretisch einbürgern
zu lassen, bevor sie sie im Geiste der ungarischen Unabhängigkeitsidee aus¬
nützen.

Nicht minder zielbewußt strebten die Magyaren endlich der allmählichen
Wiederauflösung jeder wirtschaftlichen Gemeinsamkeit mit Österreich zu. Während
die ungarischen Regierungen einerseits unter Mißachtung der mit Österreich
geschlossenen Verträge der Einfuhr österreichischer Jndustrieprodukte nach Ungarn
entgegenarbeiteten, waren sie andrerseits mit Erfolg bestrebt, den Kreis jener
Angelegenheiten, die nach gemeinsam festzustellenden Grundsätzen behandelt
werden sollten, immer mehr einzuengen, sofern das natürlich ihren Interessen
entsprach. Es ist schon erwähnt worden, daß Österreich dadurch über Gebühr
zu der Bestreitung der gemeinsamen Ausgaben herangezogen wurde, daß der
Reinertrag der Zölle pauschaliter an die Reichskasse abgeliefert wurde. Eine
wenn auch nur kleine Entschädigung dafür lag für Österreich ursprünglich in
der Bestimmung, daß die Ausfuhrvergütung für Bier, Branntwein und Zucker,
also hauptsächlich österreichischer Exportartikel, aus dem Ertrage der gemein¬
samen Zölle zu bestreiten sei, wodurch Österreich jährlich etwa 1,16 Millionen


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[0450] Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke Abgabe offizieller Äußerungen berechtigt war. Als nun im Jahre 1895 der damalige ungarische Ministerpräsident Baron Banffy im ungarischen Abge¬ ordnetenhause in einer auswärtigen Angelegenheit eine Erklärung abgab, ohne hierzu von dem damaligen Minister des Äußern, Grafen Kalnoky, autorisiert zu sein, erklärte dieser nur dann im Amte bleiben zu können, wenn sichere Garantien gegen die Wiederholung solcher verfassungswidrigen Eingriffe in den Wirkungskreis des Ministeriums des Äußern gegeben würden. Baron Banffy zeigte hierzu jedoch nicht die mindeste Lust, und Graf Kalnoky gab seine Entlassung in der Hoffnung, daß es durch die Ausscheidung des Persön¬ lichen aus der Krise möglich sein werde, die im Interesse der Stetigkeit und der Einheitlichkeit der auswärtigen Politik notwendigen Garantien zu erhalten. Das offiziöse Fremdenblatt schrieb damals: „Die ruhende Achse, um die bisher die Geschicke der Monarchie in ruhigen Bahnen sich bewegen konnten, ist in die Kämpfe der Parteien gezogen worden, und niemand weiß, wie der Wiederkehr solcher Erschütterungen zu begegnen sei. Graf Kalnoky hat einen Curtiussprung unternommen. Mit seiner Person wollte er die Krisen be¬ schwören, die in der letzten Zeit immer von neuem ausbrachen. Aber wir fürchten sehr, es ist ihm nicht gelungen, den Schlund zu schließen, aus dem sie emporgestiegen sind." Ging daraus einerseits hervor, daß die Bemühungen der Magyaren, die Stellung des Ministers des Auswärtigen hinabzudrücken, schon ältern Datums waren, so bestätigte es sich andrerseits, daß der Nach¬ folger des Grafen Kalnoky, Graf Goluchowski, die Banffysche Auffassung von der Kompetenz der ungarischen Regierung in auswärtigen Angelegenheiten ohne weiteres acceptierte. Unmittelbare Folgen hatte diese Verschiebung der Kompetenzen allerdings nicht, denn es ist eine alte und erprobte Taktik ungarischer Staatsmänner, neuerworbne Rechte sich erst theoretisch einbürgern zu lassen, bevor sie sie im Geiste der ungarischen Unabhängigkeitsidee aus¬ nützen. Nicht minder zielbewußt strebten die Magyaren endlich der allmählichen Wiederauflösung jeder wirtschaftlichen Gemeinsamkeit mit Österreich zu. Während die ungarischen Regierungen einerseits unter Mißachtung der mit Österreich geschlossenen Verträge der Einfuhr österreichischer Jndustrieprodukte nach Ungarn entgegenarbeiteten, waren sie andrerseits mit Erfolg bestrebt, den Kreis jener Angelegenheiten, die nach gemeinsam festzustellenden Grundsätzen behandelt werden sollten, immer mehr einzuengen, sofern das natürlich ihren Interessen entsprach. Es ist schon erwähnt worden, daß Österreich dadurch über Gebühr zu der Bestreitung der gemeinsamen Ausgaben herangezogen wurde, daß der Reinertrag der Zölle pauschaliter an die Reichskasse abgeliefert wurde. Eine wenn auch nur kleine Entschädigung dafür lag für Österreich ursprünglich in der Bestimmung, daß die Ausfuhrvergütung für Bier, Branntwein und Zucker, also hauptsächlich österreichischer Exportartikel, aus dem Ertrage der gemein¬ samen Zölle zu bestreiten sei, wodurch Österreich jährlich etwa 1,16 Millionen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/450>, abgerufen am 28.12.2024.