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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die magyarische Unabhärlgigkeitsbewegung mit der österreichische Reichsgedanke

Hälften immer mehr die Neigung zeigte, die Wünsche des Starken auf Kosten
des Schwachen zu befriedigen. Darauf ist es auch zurückzuführen, daß sich
Ungarn besonders im Hinblick auf seiue Verkehrs- und Jndustriepolitik nicht
an seine mit Österreich getroffnen Abmachungen halten zu müssen glaubte,
und in demselben Augenblick, wo es von Osterreich wesentliche Tarifbegün-
stigungen forderte und auch erreichte, eine der österreichischen Industrie feind¬
liche Tarifpolitik einschlug und österreichische Jndustrieprodukte immer mehr
von öffentlichen Lieferungen in Ungarn ausschloß, um eine eigne vater¬
ländische ungarische Industrie aufziehen zu können. Auch für dieses Vorhaben
war der Ausgleich ganz günstig, hatte man doch vergessen, auch die gewerb¬
liche und die sozialpolitische Gesetzgebung nach denselben Grundsätzen zu ordnen,
sodaß es Ungarn möglich war, durch eine von der österreichischen verschiedne
Gesetzgebung betreffend den Patent- und Musterschutz die österreichische Industrie
arg zu übervorteilen und durch fast völlige Untätigkeit auf sozialpolitischen
Gebiete die Gestehungskosten der ungarischen Industrie weit niedriger zu halten
als die der österreichischen.

So hatte Graf Julius Andrassy nicht ganz Unrecht, als er seinen Lands¬
leuten die Vorzüge des Ausgleichs von 1867 mit den Worten begreiflich
machte: "Der Ausgleich gibt uns 70 Prozent Rechte und belastet uns nur
mit 30 Prozent Pflichten: er ist ein glänzendes Geschüft, wie man es sonst
nur mit Südseeinsulanern abzuschließen pflegt, denen man echte Perlen für
böhmische Granaten abtauscht." Trotz der großen Vorteile aber, die Ungarn
aus dieser Gemeinschaft mit Osterreich zog, kam in Ungarn jene Bewegung
nicht zum Stillstande, die auf die vollständige wirtschaftliche und politische
Unabhängigkeit des Landes zielte. Deal, der eigentliche Schöpfer des Aus¬
gleichs, war sicher von der Überzeugung durchdrungen gewesen, daß sein Werk
ein abschließender Akt in der staatsrechtlichen Entwicklung Ungarns sei, jedoch
noch bei seinen Lebzeiten tauchten schon andre Ansichten auf, und zwar nicht
nur im Schoße der sogenannten Opposition von 1848, sondern in der Re¬
gierungspartei selbst. Oppositionelle und Minister vertraten sehr bald die
Ansicht, daß mit dem Ausgleich von 1867 die verfassungsrechtliche Entwicklung
Ungarns nicht abgeschlossen habe, sondern daß er nur der Nahmen sei, worin
sich Ungarn erst zur vollen Selbständigkeit entwickeln solle. Hauptsächlich von
der Opposition genährt, von der Regierungspartei aber stillschweigend gefördert
bewegten sich diese Bestrebungen in drei Richtungen: erstens in der der Durch¬
brechung des Reichsgedankens, zweitens in der der Untergrabung der Einheit¬
lichkeit der Armee und drittens in der der allmählichen Auflösung jeder wirt¬
schaftlichen Gemeinsamkeit.

Schon Ende des Jahres 1868, also kaum ein Jahr nach dem Abschlüsse
des Ausgleichs, konnte der damalige ungarische Ministerpräsident im Reichs¬
tage mitteilen, daß die "Kaiserl. königl. österreichisch-ungarische Monarchie"
in eine "Kaiserl. und königl. österreichisch-ungarische Monarchie" umgewandelt


Die magyarische Unabhärlgigkeitsbewegung mit der österreichische Reichsgedanke

Hälften immer mehr die Neigung zeigte, die Wünsche des Starken auf Kosten
des Schwachen zu befriedigen. Darauf ist es auch zurückzuführen, daß sich
Ungarn besonders im Hinblick auf seiue Verkehrs- und Jndustriepolitik nicht
an seine mit Österreich getroffnen Abmachungen halten zu müssen glaubte,
und in demselben Augenblick, wo es von Osterreich wesentliche Tarifbegün-
stigungen forderte und auch erreichte, eine der österreichischen Industrie feind¬
liche Tarifpolitik einschlug und österreichische Jndustrieprodukte immer mehr
von öffentlichen Lieferungen in Ungarn ausschloß, um eine eigne vater¬
ländische ungarische Industrie aufziehen zu können. Auch für dieses Vorhaben
war der Ausgleich ganz günstig, hatte man doch vergessen, auch die gewerb¬
liche und die sozialpolitische Gesetzgebung nach denselben Grundsätzen zu ordnen,
sodaß es Ungarn möglich war, durch eine von der österreichischen verschiedne
Gesetzgebung betreffend den Patent- und Musterschutz die österreichische Industrie
arg zu übervorteilen und durch fast völlige Untätigkeit auf sozialpolitischen
Gebiete die Gestehungskosten der ungarischen Industrie weit niedriger zu halten
als die der österreichischen.

So hatte Graf Julius Andrassy nicht ganz Unrecht, als er seinen Lands¬
leuten die Vorzüge des Ausgleichs von 1867 mit den Worten begreiflich
machte: „Der Ausgleich gibt uns 70 Prozent Rechte und belastet uns nur
mit 30 Prozent Pflichten: er ist ein glänzendes Geschüft, wie man es sonst
nur mit Südseeinsulanern abzuschließen pflegt, denen man echte Perlen für
böhmische Granaten abtauscht." Trotz der großen Vorteile aber, die Ungarn
aus dieser Gemeinschaft mit Osterreich zog, kam in Ungarn jene Bewegung
nicht zum Stillstande, die auf die vollständige wirtschaftliche und politische
Unabhängigkeit des Landes zielte. Deal, der eigentliche Schöpfer des Aus¬
gleichs, war sicher von der Überzeugung durchdrungen gewesen, daß sein Werk
ein abschließender Akt in der staatsrechtlichen Entwicklung Ungarns sei, jedoch
noch bei seinen Lebzeiten tauchten schon andre Ansichten auf, und zwar nicht
nur im Schoße der sogenannten Opposition von 1848, sondern in der Re¬
gierungspartei selbst. Oppositionelle und Minister vertraten sehr bald die
Ansicht, daß mit dem Ausgleich von 1867 die verfassungsrechtliche Entwicklung
Ungarns nicht abgeschlossen habe, sondern daß er nur der Nahmen sei, worin
sich Ungarn erst zur vollen Selbständigkeit entwickeln solle. Hauptsächlich von
der Opposition genährt, von der Regierungspartei aber stillschweigend gefördert
bewegten sich diese Bestrebungen in drei Richtungen: erstens in der der Durch¬
brechung des Reichsgedankens, zweitens in der der Untergrabung der Einheit¬
lichkeit der Armee und drittens in der der allmählichen Auflösung jeder wirt¬
schaftlichen Gemeinsamkeit.

Schon Ende des Jahres 1868, also kaum ein Jahr nach dem Abschlüsse
des Ausgleichs, konnte der damalige ungarische Ministerpräsident im Reichs¬
tage mitteilen, daß die „Kaiserl. königl. österreichisch-ungarische Monarchie"
in eine „Kaiserl. und königl. österreichisch-ungarische Monarchie" umgewandelt


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[0448] Die magyarische Unabhärlgigkeitsbewegung mit der österreichische Reichsgedanke Hälften immer mehr die Neigung zeigte, die Wünsche des Starken auf Kosten des Schwachen zu befriedigen. Darauf ist es auch zurückzuführen, daß sich Ungarn besonders im Hinblick auf seiue Verkehrs- und Jndustriepolitik nicht an seine mit Österreich getroffnen Abmachungen halten zu müssen glaubte, und in demselben Augenblick, wo es von Osterreich wesentliche Tarifbegün- stigungen forderte und auch erreichte, eine der österreichischen Industrie feind¬ liche Tarifpolitik einschlug und österreichische Jndustrieprodukte immer mehr von öffentlichen Lieferungen in Ungarn ausschloß, um eine eigne vater¬ ländische ungarische Industrie aufziehen zu können. Auch für dieses Vorhaben war der Ausgleich ganz günstig, hatte man doch vergessen, auch die gewerb¬ liche und die sozialpolitische Gesetzgebung nach denselben Grundsätzen zu ordnen, sodaß es Ungarn möglich war, durch eine von der österreichischen verschiedne Gesetzgebung betreffend den Patent- und Musterschutz die österreichische Industrie arg zu übervorteilen und durch fast völlige Untätigkeit auf sozialpolitischen Gebiete die Gestehungskosten der ungarischen Industrie weit niedriger zu halten als die der österreichischen. So hatte Graf Julius Andrassy nicht ganz Unrecht, als er seinen Lands¬ leuten die Vorzüge des Ausgleichs von 1867 mit den Worten begreiflich machte: „Der Ausgleich gibt uns 70 Prozent Rechte und belastet uns nur mit 30 Prozent Pflichten: er ist ein glänzendes Geschüft, wie man es sonst nur mit Südseeinsulanern abzuschließen pflegt, denen man echte Perlen für böhmische Granaten abtauscht." Trotz der großen Vorteile aber, die Ungarn aus dieser Gemeinschaft mit Osterreich zog, kam in Ungarn jene Bewegung nicht zum Stillstande, die auf die vollständige wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit des Landes zielte. Deal, der eigentliche Schöpfer des Aus¬ gleichs, war sicher von der Überzeugung durchdrungen gewesen, daß sein Werk ein abschließender Akt in der staatsrechtlichen Entwicklung Ungarns sei, jedoch noch bei seinen Lebzeiten tauchten schon andre Ansichten auf, und zwar nicht nur im Schoße der sogenannten Opposition von 1848, sondern in der Re¬ gierungspartei selbst. Oppositionelle und Minister vertraten sehr bald die Ansicht, daß mit dem Ausgleich von 1867 die verfassungsrechtliche Entwicklung Ungarns nicht abgeschlossen habe, sondern daß er nur der Nahmen sei, worin sich Ungarn erst zur vollen Selbständigkeit entwickeln solle. Hauptsächlich von der Opposition genährt, von der Regierungspartei aber stillschweigend gefördert bewegten sich diese Bestrebungen in drei Richtungen: erstens in der der Durch¬ brechung des Reichsgedankens, zweitens in der der Untergrabung der Einheit¬ lichkeit der Armee und drittens in der der allmählichen Auflösung jeder wirt¬ schaftlichen Gemeinsamkeit. Schon Ende des Jahres 1868, also kaum ein Jahr nach dem Abschlüsse des Ausgleichs, konnte der damalige ungarische Ministerpräsident im Reichs¬ tage mitteilen, daß die „Kaiserl. königl. österreichisch-ungarische Monarchie" in eine „Kaiserl. und königl. österreichisch-ungarische Monarchie" umgewandelt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/448>, abgerufen am 23.07.2024.