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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

system erfolgte bis zum Jahre 1898 von zehn zu zehn Jahren, desgleichen
die Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses; über die Bestreitung der
gemeinsamen Ausgaben wurde bestimmt, daß das Neinerträgnis der Zollein¬
nahmen nicht gesondert zu verrechnen, sondern als gemeinsame Zolleinnahme
an den Reichsfinanzminister abzuliefern, der noch nicht dadurch gedeckte Rest
der gemeinsamen Ausgaben aber von den beiden Reichshälften in einem Ver¬
hältnis zu decken sei, das zwischen beiden Gesetzgebungen ebenfalls von zehn
zu zehn Jahren vereinbart werden solle. Die erste dieser Vereinbarungen
lautete dahin, daß Österreich 70 und Ungarn 30 Prozent zu dem durch die
Zolleinnahmen nicht gedeckten gemeinsamen Erfordernis beisteuern solle.

Die Vorteile, die aus diesen Abmachungen Ungarn erwuchsen, waren
außerordentlich. Die Gemeinsamkeit des Münz- und zum Teil auch des
Kreditwesens gab nicht nur dem öffentlichen Kredit Ungarns erst eine feste
Grundlage, sondern förderte auch insofern die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns,
als die Einrichtung der gemeinsamen Bank dem ungarischen Hypothekarkredit
weit mehr Nutzen als dem österreichischen brachte, da dieser seine Befriedigung
weitaus zu dem größten Teile bei eignen österreichischen Instituten fand; das
Quotenverhältnis von 30 zu 70 mochte wohl ursprünglich der beiderseitigen
Leistungsfähigkeit entsprechen, später war das jedoch nicht mehr der Fall, ab¬
gesehen davon wurde es aber noch durch jene Bestimmung wesentlich zugunsten
Ungarns verschoben, wonach das Reinerträgnis der Zolleinnahmen in Bausch
und Bogen der gemeinsamen Reichskasse zugeführt wurde. Die jährliche"
Zolleinnahmen Österreichs betrugen in den letzten dreißig Jahren durchschnitt¬
lich 84, die Ungarns 16 Prozent. Berücksichtigt man nun, daß ein Teil der
österreichischen Zolleinnahmen für nach Ungarn bestimmte Durchfuhrgüter ein¬
genommen wurde, so stellt sich nach den vorliegenden Berechnungen die öster¬
reichische Zolleinnahme auf 81, die ungarische auf 19 Prozent. Österreich
deckte also von einem bedeutenden Teil der gemeinsamen Ausgaben nicht 70,
sondern 81 Prozent.

Alle diese Vorteile für Ungarn vergrößerten sich aber im Laufe der
Jahre noch infolge der ganz verschiednen Beschaffenheit des ungarischen Reichs¬
tags und des österreichischen Reichsrath. Jener war eine national durchaus
gleichartige Körperschaft, da die Magyaren der ungarischen Verfassung von
vornherein einen streng nationalen Charakter aufgeprägt hatten und ihn auch
aufrechterhalten konnten, weil die Nichtmagyaren fast gar keine politische
Organisation, vor allem aber keinen Adel hatten; der österreichische Neichsrat
hingegen war von Anbeginn an durch nationale Spaltungen zerrüttet und ge¬
schwächt. Gewiß hat die Krone niemals auf der Höhe der Aufgabe gestanden,
°le ihr als Mittler zwischen den beiden Reichshälften und als Wahrer der
Reichseinheit zugefallen war; aber es war jedenfalls menschlich begreiflich,
sie, zwischen den starken ungarischen Reichstag und den schwachen öster¬
reichischen Reichsrat gestellt, bei'allen Konflikten zwischen den beiden Reichs-


Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke

system erfolgte bis zum Jahre 1898 von zehn zu zehn Jahren, desgleichen
die Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses; über die Bestreitung der
gemeinsamen Ausgaben wurde bestimmt, daß das Neinerträgnis der Zollein¬
nahmen nicht gesondert zu verrechnen, sondern als gemeinsame Zolleinnahme
an den Reichsfinanzminister abzuliefern, der noch nicht dadurch gedeckte Rest
der gemeinsamen Ausgaben aber von den beiden Reichshälften in einem Ver¬
hältnis zu decken sei, das zwischen beiden Gesetzgebungen ebenfalls von zehn
zu zehn Jahren vereinbart werden solle. Die erste dieser Vereinbarungen
lautete dahin, daß Österreich 70 und Ungarn 30 Prozent zu dem durch die
Zolleinnahmen nicht gedeckten gemeinsamen Erfordernis beisteuern solle.

Die Vorteile, die aus diesen Abmachungen Ungarn erwuchsen, waren
außerordentlich. Die Gemeinsamkeit des Münz- und zum Teil auch des
Kreditwesens gab nicht nur dem öffentlichen Kredit Ungarns erst eine feste
Grundlage, sondern förderte auch insofern die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns,
als die Einrichtung der gemeinsamen Bank dem ungarischen Hypothekarkredit
weit mehr Nutzen als dem österreichischen brachte, da dieser seine Befriedigung
weitaus zu dem größten Teile bei eignen österreichischen Instituten fand; das
Quotenverhältnis von 30 zu 70 mochte wohl ursprünglich der beiderseitigen
Leistungsfähigkeit entsprechen, später war das jedoch nicht mehr der Fall, ab¬
gesehen davon wurde es aber noch durch jene Bestimmung wesentlich zugunsten
Ungarns verschoben, wonach das Reinerträgnis der Zolleinnahmen in Bausch
und Bogen der gemeinsamen Reichskasse zugeführt wurde. Die jährliche»
Zolleinnahmen Österreichs betrugen in den letzten dreißig Jahren durchschnitt¬
lich 84, die Ungarns 16 Prozent. Berücksichtigt man nun, daß ein Teil der
österreichischen Zolleinnahmen für nach Ungarn bestimmte Durchfuhrgüter ein¬
genommen wurde, so stellt sich nach den vorliegenden Berechnungen die öster¬
reichische Zolleinnahme auf 81, die ungarische auf 19 Prozent. Österreich
deckte also von einem bedeutenden Teil der gemeinsamen Ausgaben nicht 70,
sondern 81 Prozent.

Alle diese Vorteile für Ungarn vergrößerten sich aber im Laufe der
Jahre noch infolge der ganz verschiednen Beschaffenheit des ungarischen Reichs¬
tags und des österreichischen Reichsrath. Jener war eine national durchaus
gleichartige Körperschaft, da die Magyaren der ungarischen Verfassung von
vornherein einen streng nationalen Charakter aufgeprägt hatten und ihn auch
aufrechterhalten konnten, weil die Nichtmagyaren fast gar keine politische
Organisation, vor allem aber keinen Adel hatten; der österreichische Neichsrat
hingegen war von Anbeginn an durch nationale Spaltungen zerrüttet und ge¬
schwächt. Gewiß hat die Krone niemals auf der Höhe der Aufgabe gestanden,
°le ihr als Mittler zwischen den beiden Reichshälften und als Wahrer der
Reichseinheit zugefallen war; aber es war jedenfalls menschlich begreiflich,
sie, zwischen den starken ungarischen Reichstag und den schwachen öster¬
reichischen Reichsrat gestellt, bei'allen Konflikten zwischen den beiden Reichs-


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[0447] Die magyarische Unabhängigkeitsbewegung und der österreichische Reichsgedanke system erfolgte bis zum Jahre 1898 von zehn zu zehn Jahren, desgleichen die Erneuerung des Zoll- und Handelsbündnisses; über die Bestreitung der gemeinsamen Ausgaben wurde bestimmt, daß das Neinerträgnis der Zollein¬ nahmen nicht gesondert zu verrechnen, sondern als gemeinsame Zolleinnahme an den Reichsfinanzminister abzuliefern, der noch nicht dadurch gedeckte Rest der gemeinsamen Ausgaben aber von den beiden Reichshälften in einem Ver¬ hältnis zu decken sei, das zwischen beiden Gesetzgebungen ebenfalls von zehn zu zehn Jahren vereinbart werden solle. Die erste dieser Vereinbarungen lautete dahin, daß Österreich 70 und Ungarn 30 Prozent zu dem durch die Zolleinnahmen nicht gedeckten gemeinsamen Erfordernis beisteuern solle. Die Vorteile, die aus diesen Abmachungen Ungarn erwuchsen, waren außerordentlich. Die Gemeinsamkeit des Münz- und zum Teil auch des Kreditwesens gab nicht nur dem öffentlichen Kredit Ungarns erst eine feste Grundlage, sondern förderte auch insofern die wirtschaftliche Entwicklung Ungarns, als die Einrichtung der gemeinsamen Bank dem ungarischen Hypothekarkredit weit mehr Nutzen als dem österreichischen brachte, da dieser seine Befriedigung weitaus zu dem größten Teile bei eignen österreichischen Instituten fand; das Quotenverhältnis von 30 zu 70 mochte wohl ursprünglich der beiderseitigen Leistungsfähigkeit entsprechen, später war das jedoch nicht mehr der Fall, ab¬ gesehen davon wurde es aber noch durch jene Bestimmung wesentlich zugunsten Ungarns verschoben, wonach das Reinerträgnis der Zolleinnahmen in Bausch und Bogen der gemeinsamen Reichskasse zugeführt wurde. Die jährliche» Zolleinnahmen Österreichs betrugen in den letzten dreißig Jahren durchschnitt¬ lich 84, die Ungarns 16 Prozent. Berücksichtigt man nun, daß ein Teil der österreichischen Zolleinnahmen für nach Ungarn bestimmte Durchfuhrgüter ein¬ genommen wurde, so stellt sich nach den vorliegenden Berechnungen die öster¬ reichische Zolleinnahme auf 81, die ungarische auf 19 Prozent. Österreich deckte also von einem bedeutenden Teil der gemeinsamen Ausgaben nicht 70, sondern 81 Prozent. Alle diese Vorteile für Ungarn vergrößerten sich aber im Laufe der Jahre noch infolge der ganz verschiednen Beschaffenheit des ungarischen Reichs¬ tags und des österreichischen Reichsrath. Jener war eine national durchaus gleichartige Körperschaft, da die Magyaren der ungarischen Verfassung von vornherein einen streng nationalen Charakter aufgeprägt hatten und ihn auch aufrechterhalten konnten, weil die Nichtmagyaren fast gar keine politische Organisation, vor allem aber keinen Adel hatten; der österreichische Neichsrat hingegen war von Anbeginn an durch nationale Spaltungen zerrüttet und ge¬ schwächt. Gewiß hat die Krone niemals auf der Höhe der Aufgabe gestanden, °le ihr als Mittler zwischen den beiden Reichshälften und als Wahrer der Reichseinheit zugefallen war; aber es war jedenfalls menschlich begreiflich, sie, zwischen den starken ungarischen Reichstag und den schwachen öster¬ reichischen Reichsrat gestellt, bei'allen Konflikten zwischen den beiden Reichs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/447>, abgerufen am 23.07.2024.