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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Deutscher Unterricht und deutsche Dichtung

Stilistik, Poetik, Altertumskunde, Sage, Literatur und ihre Behandlung in der
Schule umspannend. Voran leuchtet dem Ganzen als Leitstern der Satz: "Es
erscheint heutzutage einfach als eine nationale Pflicht und eine pädagogische
Forderung ersten Ranges, daß unsre Jugend ein Anrecht darauf habe, in das
Verständnis ihrer Muttersprache und deren Geschichte, in des eignen Volkes
Literatur und Geistesleben eingeführt und so der Pflege heimischer Empfindungen
und vaterländischen Sinnes in vollem Umfange teilhaftig zu werden." Der
Verfasser der "Praktischen Pädagogik" legt auch hier den Nachdruck auf die
Praxis, nicht auf die Theorie, und so ist es denn auch in den beiden zunächst
erschienenen Bänden (Paul Goldscheider, Lesestücke und Schriftwerk
im deutschen Unterricht, und Paul Geyer, Der deutsche Aufsatz) das
bedeutsamste, daß tüchtige, erfahrne und besonnene Schulmänner zeigen, wie
sie es gemacht haben, und wie sich dies bewährt hat.

Bei Goldscheider ist besonders die Kunst bewundernswert, mit der er die
Entfaltung des Lesestückes und des Schriftwerkes von den verschiedensten Seiten
her beginnt, wie er unter gleichmüßiger Heranziehung der Poesiearten und der
Prosaabhandlungen der Einwirkung auf Gemüt und Phantasie sowie auf den
Verstand gerecht zu werden weiß. Ist es doch ungemein schwer, hier die
Grenze zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig inne zu halten, zwischen sachlicher
Gründlichkeit und dem reinen, unbefangnen Genuß. Goldscheiders Darstellungs¬
weise ist freilich nicht ganz leicht und durchsichtig, da er bald Betrachtung
und Erklärung und Kritik, bald Schilderung aus der Praxis bietet; aber wer
ihm ernst prüfend folgt, wird reich belohnt; vortreffliche Mahnungen und
Warnungen werden überall eingestreut; man soll nicht zu weit ausholen und
zu viel herbeischleppen, nicht schon vorher alle Steine für das Verständnis
wegräumen; das Lesen muß im Mittelpunkte stehn, sachliches und Ästhetisches
müssen sich durchdringen. "Lies das Ganze, ehe du über das Einzelne urteilst!
Suche den Inhalt, suche die Form, vergleiche Inhalt und Form miteinander!
Betrachte zunächst das Werk für sich und dann auch im Flusse der Er¬
scheinungen!" Das klingt einfach und selbstverständlich, enthält aber eine
Reihe sehr schwieriger Probleme für die Praxis. Ein goldnes Wort lautet:
"Du, Erklärer des Dichterwerkes, in dem Menschenwelt und Menschenleben
in vollendeter Kunstform veranschaulicht werden, erkläre, rede aus der Tiefe
deiner menschlichen Eigenart heraus und nicht bloß als gelehrte und durch
Verfügungen geregelte Lehrmaschine! Sprich wie ein Mensch zu Menschen;
zu Menschen, die allerdings noch unreif, täppisch, oberflächlich sind, die aber
sämtlich die Fähigkeit besitzen, mit dir und wie du von jener kunstvoll durch¬
geistigten Darstellung des Menschenlebens ergriffen und gepackt zu werden."
Die Proben kurzer Dichterbiographien für die einzelnen Klassenstufen und vor
allem die Beispiele der Erläuterung sind höchst anregend; der Abdruck der
Texte dazu im Anhang war Verschwendung. Was den literarisch-ästhetischen
Standpunkt Goldscheiders betrifft, so ist er gar zu konservativ; mit gewisser


Deutscher Unterricht und deutsche Dichtung

Stilistik, Poetik, Altertumskunde, Sage, Literatur und ihre Behandlung in der
Schule umspannend. Voran leuchtet dem Ganzen als Leitstern der Satz: „Es
erscheint heutzutage einfach als eine nationale Pflicht und eine pädagogische
Forderung ersten Ranges, daß unsre Jugend ein Anrecht darauf habe, in das
Verständnis ihrer Muttersprache und deren Geschichte, in des eignen Volkes
Literatur und Geistesleben eingeführt und so der Pflege heimischer Empfindungen
und vaterländischen Sinnes in vollem Umfange teilhaftig zu werden." Der
Verfasser der „Praktischen Pädagogik" legt auch hier den Nachdruck auf die
Praxis, nicht auf die Theorie, und so ist es denn auch in den beiden zunächst
erschienenen Bänden (Paul Goldscheider, Lesestücke und Schriftwerk
im deutschen Unterricht, und Paul Geyer, Der deutsche Aufsatz) das
bedeutsamste, daß tüchtige, erfahrne und besonnene Schulmänner zeigen, wie
sie es gemacht haben, und wie sich dies bewährt hat.

Bei Goldscheider ist besonders die Kunst bewundernswert, mit der er die
Entfaltung des Lesestückes und des Schriftwerkes von den verschiedensten Seiten
her beginnt, wie er unter gleichmüßiger Heranziehung der Poesiearten und der
Prosaabhandlungen der Einwirkung auf Gemüt und Phantasie sowie auf den
Verstand gerecht zu werden weiß. Ist es doch ungemein schwer, hier die
Grenze zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig inne zu halten, zwischen sachlicher
Gründlichkeit und dem reinen, unbefangnen Genuß. Goldscheiders Darstellungs¬
weise ist freilich nicht ganz leicht und durchsichtig, da er bald Betrachtung
und Erklärung und Kritik, bald Schilderung aus der Praxis bietet; aber wer
ihm ernst prüfend folgt, wird reich belohnt; vortreffliche Mahnungen und
Warnungen werden überall eingestreut; man soll nicht zu weit ausholen und
zu viel herbeischleppen, nicht schon vorher alle Steine für das Verständnis
wegräumen; das Lesen muß im Mittelpunkte stehn, sachliches und Ästhetisches
müssen sich durchdringen. „Lies das Ganze, ehe du über das Einzelne urteilst!
Suche den Inhalt, suche die Form, vergleiche Inhalt und Form miteinander!
Betrachte zunächst das Werk für sich und dann auch im Flusse der Er¬
scheinungen!" Das klingt einfach und selbstverständlich, enthält aber eine
Reihe sehr schwieriger Probleme für die Praxis. Ein goldnes Wort lautet:
„Du, Erklärer des Dichterwerkes, in dem Menschenwelt und Menschenleben
in vollendeter Kunstform veranschaulicht werden, erkläre, rede aus der Tiefe
deiner menschlichen Eigenart heraus und nicht bloß als gelehrte und durch
Verfügungen geregelte Lehrmaschine! Sprich wie ein Mensch zu Menschen;
zu Menschen, die allerdings noch unreif, täppisch, oberflächlich sind, die aber
sämtlich die Fähigkeit besitzen, mit dir und wie du von jener kunstvoll durch¬
geistigten Darstellung des Menschenlebens ergriffen und gepackt zu werden."
Die Proben kurzer Dichterbiographien für die einzelnen Klassenstufen und vor
allem die Beispiele der Erläuterung sind höchst anregend; der Abdruck der
Texte dazu im Anhang war Verschwendung. Was den literarisch-ästhetischen
Standpunkt Goldscheiders betrifft, so ist er gar zu konservativ; mit gewisser


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[0416] Deutscher Unterricht und deutsche Dichtung Stilistik, Poetik, Altertumskunde, Sage, Literatur und ihre Behandlung in der Schule umspannend. Voran leuchtet dem Ganzen als Leitstern der Satz: „Es erscheint heutzutage einfach als eine nationale Pflicht und eine pädagogische Forderung ersten Ranges, daß unsre Jugend ein Anrecht darauf habe, in das Verständnis ihrer Muttersprache und deren Geschichte, in des eignen Volkes Literatur und Geistesleben eingeführt und so der Pflege heimischer Empfindungen und vaterländischen Sinnes in vollem Umfange teilhaftig zu werden." Der Verfasser der „Praktischen Pädagogik" legt auch hier den Nachdruck auf die Praxis, nicht auf die Theorie, und so ist es denn auch in den beiden zunächst erschienenen Bänden (Paul Goldscheider, Lesestücke und Schriftwerk im deutschen Unterricht, und Paul Geyer, Der deutsche Aufsatz) das bedeutsamste, daß tüchtige, erfahrne und besonnene Schulmänner zeigen, wie sie es gemacht haben, und wie sich dies bewährt hat. Bei Goldscheider ist besonders die Kunst bewundernswert, mit der er die Entfaltung des Lesestückes und des Schriftwerkes von den verschiedensten Seiten her beginnt, wie er unter gleichmüßiger Heranziehung der Poesiearten und der Prosaabhandlungen der Einwirkung auf Gemüt und Phantasie sowie auf den Verstand gerecht zu werden weiß. Ist es doch ungemein schwer, hier die Grenze zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig inne zu halten, zwischen sachlicher Gründlichkeit und dem reinen, unbefangnen Genuß. Goldscheiders Darstellungs¬ weise ist freilich nicht ganz leicht und durchsichtig, da er bald Betrachtung und Erklärung und Kritik, bald Schilderung aus der Praxis bietet; aber wer ihm ernst prüfend folgt, wird reich belohnt; vortreffliche Mahnungen und Warnungen werden überall eingestreut; man soll nicht zu weit ausholen und zu viel herbeischleppen, nicht schon vorher alle Steine für das Verständnis wegräumen; das Lesen muß im Mittelpunkte stehn, sachliches und Ästhetisches müssen sich durchdringen. „Lies das Ganze, ehe du über das Einzelne urteilst! Suche den Inhalt, suche die Form, vergleiche Inhalt und Form miteinander! Betrachte zunächst das Werk für sich und dann auch im Flusse der Er¬ scheinungen!" Das klingt einfach und selbstverständlich, enthält aber eine Reihe sehr schwieriger Probleme für die Praxis. Ein goldnes Wort lautet: „Du, Erklärer des Dichterwerkes, in dem Menschenwelt und Menschenleben in vollendeter Kunstform veranschaulicht werden, erkläre, rede aus der Tiefe deiner menschlichen Eigenart heraus und nicht bloß als gelehrte und durch Verfügungen geregelte Lehrmaschine! Sprich wie ein Mensch zu Menschen; zu Menschen, die allerdings noch unreif, täppisch, oberflächlich sind, die aber sämtlich die Fähigkeit besitzen, mit dir und wie du von jener kunstvoll durch¬ geistigten Darstellung des Menschenlebens ergriffen und gepackt zu werden." Die Proben kurzer Dichterbiographien für die einzelnen Klassenstufen und vor allem die Beispiele der Erläuterung sind höchst anregend; der Abdruck der Texte dazu im Anhang war Verschwendung. Was den literarisch-ästhetischen Standpunkt Goldscheiders betrifft, so ist er gar zu konservativ; mit gewisser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/416>, abgerufen am 23.07.2024.