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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Deutscher Unterricht und deutsche Dichtung

Einseitigkeit wird das gedanklich Gründliche und in der Stilform Sorgfältige
bevorzugt vor kräftiger, leidenschaftlicher, ringender und suchender Eigenart;
so vermag er Freytags "Fabler" zu preisen und den Faust abzulehnen, überhaupt
die neuere und neueste Literatur, von Kleist, Grillparzer, Hebbel, Ludwig bis auf
unsre Tage nur sehr stiefmütterlich, als "epigonenhaft", zu behandeln; Uhland soll
der "Spätromantik" angehören, Mörike, Storm, Keller, Scheffel u. v. a. kommen
nicht zu ihrem Recht. Trotz alledem ist die Arbeit als Ganzes gediegen.

Paul Geyer behandelt den deutschen Aufsatz und die Fülle der Fragen,
die dieses Gebiet des Unterrichts umfaßt, in weitschauender und tiefgründiger
Weise. Gerade in unsern Tagen kreuzen sich die verschiedensten Richtungen
über die Stilbildung der Jugend; die einen überschätzen diese, die andern
unterschätzen sie; die einen knien ehrfürchtig vor jeder Kundgebung des kind¬
lichen (oder kindischen) Geistes, wie der sentimentale Naturfreund vor einem
Waldblümchen, die andern wollen an dem jungen Pflänzchen, das da Knaben¬
seele oder -- deutscher Aufsatz heißt, alles zurechtstutzen und beschneiden.
Geyer hält die Mitte zwischen dem akademischen und dem seminaristischen
Verfahren. Und das ist recht. Man darf nicht wild wuchern lassen, die
Frucht davon ist Unsinn; man muß Richtung geben zu klarem, lichtvollen
Denken und klarem, lichtvollen Ausdruck der Gedanken; man muß den engen
und armen Kreis der Vorstellungen erweitern und bereichern und allmählich
den knabenhaften Sinn zu Höheren emporführen. Gewiß kann der Lehrer
viel lernen von der Jugend selbst an Natürlichkeit und Frische der Anschauung,
besonders auf der untern Stufe, aber es gibt auch Jahre ungefüger Art (in
körperlicher und geistiger Entwicklung), da tut eine feste Hand zur Führung
not; man soll nicht abrichten, aber doch auch leiten und unterweisen; auch die
Handschrift bildet sich erst allmählich, so auch der Stil; man muß den Mut
zur Selbsttätigkeit wecken, denn Freudigkeit ist auch hier die Mutter aller
Tugenden. Geyer führt uns in feinster, gediegenster Weise durch die ver-
schiednen Klassenstufen und ihre geeigneten Stoffe hindurch. Sein Buch hat
die Fülle und die Frische des blühenden Lebens; es ist entstanden, es ist nicht
gemacht worden; die Früchte reiften in der Stille, und am Ende bedürfte es
nur leisen Schüttelns, und sie fielen dem Gärtner in den Schoß. Besonders
erfreulich ist neben der Umsicht und Vielseitigkeit die Heiterkeit, die über dem
Ganzen wie ein goldiger Schein liegt. Die ethisch-philosophische Durchdringung
der Fragen liegt dem Verfasser mit vollem Recht auf den obern Stufen haupt¬
sächlich am Herzen; nichts ist fruchtbarer als solche Gedankengänge über all¬
gemeine Begriffe und Probleme.*) Aber Geyer weiß auch, daß sich auch noch
andre Gebiete, als er behandelt, erfolgreich für den deutschen Aufsatz nutz¬
bringend erschließen lassen; er geht nicht nur auf Geschichte und Poesie und



Vgl. meine "Pädagogik und Poesie", Neue Folge (Berlin, Weidmann, 1905).
Kapitel IV und VI.
Grenzboten III 1906 ^
Deutscher Unterricht und deutsche Dichtung

Einseitigkeit wird das gedanklich Gründliche und in der Stilform Sorgfältige
bevorzugt vor kräftiger, leidenschaftlicher, ringender und suchender Eigenart;
so vermag er Freytags „Fabler" zu preisen und den Faust abzulehnen, überhaupt
die neuere und neueste Literatur, von Kleist, Grillparzer, Hebbel, Ludwig bis auf
unsre Tage nur sehr stiefmütterlich, als „epigonenhaft", zu behandeln; Uhland soll
der „Spätromantik" angehören, Mörike, Storm, Keller, Scheffel u. v. a. kommen
nicht zu ihrem Recht. Trotz alledem ist die Arbeit als Ganzes gediegen.

Paul Geyer behandelt den deutschen Aufsatz und die Fülle der Fragen,
die dieses Gebiet des Unterrichts umfaßt, in weitschauender und tiefgründiger
Weise. Gerade in unsern Tagen kreuzen sich die verschiedensten Richtungen
über die Stilbildung der Jugend; die einen überschätzen diese, die andern
unterschätzen sie; die einen knien ehrfürchtig vor jeder Kundgebung des kind¬
lichen (oder kindischen) Geistes, wie der sentimentale Naturfreund vor einem
Waldblümchen, die andern wollen an dem jungen Pflänzchen, das da Knaben¬
seele oder — deutscher Aufsatz heißt, alles zurechtstutzen und beschneiden.
Geyer hält die Mitte zwischen dem akademischen und dem seminaristischen
Verfahren. Und das ist recht. Man darf nicht wild wuchern lassen, die
Frucht davon ist Unsinn; man muß Richtung geben zu klarem, lichtvollen
Denken und klarem, lichtvollen Ausdruck der Gedanken; man muß den engen
und armen Kreis der Vorstellungen erweitern und bereichern und allmählich
den knabenhaften Sinn zu Höheren emporführen. Gewiß kann der Lehrer
viel lernen von der Jugend selbst an Natürlichkeit und Frische der Anschauung,
besonders auf der untern Stufe, aber es gibt auch Jahre ungefüger Art (in
körperlicher und geistiger Entwicklung), da tut eine feste Hand zur Führung
not; man soll nicht abrichten, aber doch auch leiten und unterweisen; auch die
Handschrift bildet sich erst allmählich, so auch der Stil; man muß den Mut
zur Selbsttätigkeit wecken, denn Freudigkeit ist auch hier die Mutter aller
Tugenden. Geyer führt uns in feinster, gediegenster Weise durch die ver-
schiednen Klassenstufen und ihre geeigneten Stoffe hindurch. Sein Buch hat
die Fülle und die Frische des blühenden Lebens; es ist entstanden, es ist nicht
gemacht worden; die Früchte reiften in der Stille, und am Ende bedürfte es
nur leisen Schüttelns, und sie fielen dem Gärtner in den Schoß. Besonders
erfreulich ist neben der Umsicht und Vielseitigkeit die Heiterkeit, die über dem
Ganzen wie ein goldiger Schein liegt. Die ethisch-philosophische Durchdringung
der Fragen liegt dem Verfasser mit vollem Recht auf den obern Stufen haupt¬
sächlich am Herzen; nichts ist fruchtbarer als solche Gedankengänge über all¬
gemeine Begriffe und Probleme.*) Aber Geyer weiß auch, daß sich auch noch
andre Gebiete, als er behandelt, erfolgreich für den deutschen Aufsatz nutz¬
bringend erschließen lassen; er geht nicht nur auf Geschichte und Poesie und



Vgl. meine „Pädagogik und Poesie", Neue Folge (Berlin, Weidmann, 1905).
Kapitel IV und VI.
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[0417] Deutscher Unterricht und deutsche Dichtung Einseitigkeit wird das gedanklich Gründliche und in der Stilform Sorgfältige bevorzugt vor kräftiger, leidenschaftlicher, ringender und suchender Eigenart; so vermag er Freytags „Fabler" zu preisen und den Faust abzulehnen, überhaupt die neuere und neueste Literatur, von Kleist, Grillparzer, Hebbel, Ludwig bis auf unsre Tage nur sehr stiefmütterlich, als „epigonenhaft", zu behandeln; Uhland soll der „Spätromantik" angehören, Mörike, Storm, Keller, Scheffel u. v. a. kommen nicht zu ihrem Recht. Trotz alledem ist die Arbeit als Ganzes gediegen. Paul Geyer behandelt den deutschen Aufsatz und die Fülle der Fragen, die dieses Gebiet des Unterrichts umfaßt, in weitschauender und tiefgründiger Weise. Gerade in unsern Tagen kreuzen sich die verschiedensten Richtungen über die Stilbildung der Jugend; die einen überschätzen diese, die andern unterschätzen sie; die einen knien ehrfürchtig vor jeder Kundgebung des kind¬ lichen (oder kindischen) Geistes, wie der sentimentale Naturfreund vor einem Waldblümchen, die andern wollen an dem jungen Pflänzchen, das da Knaben¬ seele oder — deutscher Aufsatz heißt, alles zurechtstutzen und beschneiden. Geyer hält die Mitte zwischen dem akademischen und dem seminaristischen Verfahren. Und das ist recht. Man darf nicht wild wuchern lassen, die Frucht davon ist Unsinn; man muß Richtung geben zu klarem, lichtvollen Denken und klarem, lichtvollen Ausdruck der Gedanken; man muß den engen und armen Kreis der Vorstellungen erweitern und bereichern und allmählich den knabenhaften Sinn zu Höheren emporführen. Gewiß kann der Lehrer viel lernen von der Jugend selbst an Natürlichkeit und Frische der Anschauung, besonders auf der untern Stufe, aber es gibt auch Jahre ungefüger Art (in körperlicher und geistiger Entwicklung), da tut eine feste Hand zur Führung not; man soll nicht abrichten, aber doch auch leiten und unterweisen; auch die Handschrift bildet sich erst allmählich, so auch der Stil; man muß den Mut zur Selbsttätigkeit wecken, denn Freudigkeit ist auch hier die Mutter aller Tugenden. Geyer führt uns in feinster, gediegenster Weise durch die ver- schiednen Klassenstufen und ihre geeigneten Stoffe hindurch. Sein Buch hat die Fülle und die Frische des blühenden Lebens; es ist entstanden, es ist nicht gemacht worden; die Früchte reiften in der Stille, und am Ende bedürfte es nur leisen Schüttelns, und sie fielen dem Gärtner in den Schoß. Besonders erfreulich ist neben der Umsicht und Vielseitigkeit die Heiterkeit, die über dem Ganzen wie ein goldiger Schein liegt. Die ethisch-philosophische Durchdringung der Fragen liegt dem Verfasser mit vollem Recht auf den obern Stufen haupt¬ sächlich am Herzen; nichts ist fruchtbarer als solche Gedankengänge über all¬ gemeine Begriffe und Probleme.*) Aber Geyer weiß auch, daß sich auch noch andre Gebiete, als er behandelt, erfolgreich für den deutschen Aufsatz nutz¬ bringend erschließen lassen; er geht nicht nur auf Geschichte und Poesie und Vgl. meine „Pädagogik und Poesie", Neue Folge (Berlin, Weidmann, 1905). Kapitel IV und VI. Grenzboten III 1906 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/417>, abgerufen am 27.12.2024.