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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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kandschaftsbilder von der Rüste Norwegens

Anhöhe begrüßte uns schon die Sonne, und bald wetteiferte das Blau des
wolkenlosen Himmels an Reinheit mit der leuchtendweißen, nirgends unter-
brochner Schneefläche. Nach vier Stunden hatten wir mit etwa 1600 Metern
die Paßhöhe erreicht und sahen staunend und schweigend in das unbegrenzte
weiße Wunderland ringsum.

Ich Hütte der Welt gewünscht, daß der Dichter der Bergpsalmen, unser
Scheffel, einmal da oben gestanden hätte; mir aber wünschte ich die Flügel¬
sohlen der Schneeschuhe, um befreit von der irdischen Schwere durch diese
Wunderwelt dahinzueilen. Aber das Schönste sollte noch kommen: nach dem
verjüngenden Hauch des Hochgebirges, nach dem leuchtenden Glase des Winters
der Zauber des Frühlings und seine Schmeichellüfte. Der Abstieg über die
Schneeflächen war bald zu einem Absausen über Schneehalden geworden, als
wir plötzlich das Rauschen von Quellen hörten. Nach einer kleinen Biegung
des Weges standen wir an des Stromes Mutterhaus. Unter dem weit vor¬
springenden Schirmdach des Schnees sprudelten reiche Quellen lustig hervor
und tanzten und sprangen weiter über den moorigen Boden. Rechts und links
aber waren schwellende Polster von Gräsern und von ganz niedrigen Weiden,
die ihre riesigen Palmkätzchcn der warmen Sonne entgegenstreckten, dazu überall
ein fröhliches Treiben von Hummeln und andern geflügelten Gästen. Tief
unter uns lag wie ein breiter Strom der grüne Fjord und an seinem Ende
die Holzhüuschen von Obba, und ihnen gegenüber lag auch unser Schiff, das
wir nach einem steilen Abstieg, zuletzt durch einen prächtigen Buchenwald, um
neun Uhr Morgens erreichten.

Ich hatte noch zweimal Gelegenheit, vom Schiff weg und in das Land
hineinzukommen, beidemal in der Weise, daß ich, von einem Fjord ausgehend,
der Straße durch das dazu gehörende Flußtal bis auf die Hochfläche folgte,
dann die trennende Landzunge überschritt, um nach dem benachbarten Fjord
abzusteigen. Bei beiden Touren war der Anstieg verhältnismäßig langsam und
lang, der Abstieg steil und entsprechend kurz.

Der erste der beiden Ausflüge war die weltberühmte Tour von Voßwcmgen
über Stahlheim nach Gudwangen am Näröfjord. Der Aufstieg nach Stahlheim
ist für den einigermaßen gebirgsverwöhnten Reisenden eine fortgesetzte Ent¬
täuschung, aber der Blick und der steile Abstieg von der Stahlheim-Kiep, d. h.
Stahlheim-Klippe, hinunter in den schluchtartigen Beginn des Närötales mit
seinen beiden Prachtwasserfällcn ist überwältigend.

Unvergleichlich großartiger ist der Übergang vom Nordfjord nach dem
Geircmgerfjord, von Visnäs über Grotii nach Merok; es ist ein Weg von
82 Kilometern, den wir in anderthalbem Tag mit den bekannten Stoolkarren
zurücklegten. Die ganze Tour ist nicht bloß landschaftlich außerordentlich
lohnend, sondern auch für den Freund typischer geographischer Bilder äußerst
interessant, da sie alle Einzelheiten der norwegischen Landschaft in prächtigen
Charakterbildern darbietet. Unsre kleine Gesellschaft, drei Damen und drei
Herren, hatte außerdem das Glück, alle diese Schönheiten noch unentweiht


kandschaftsbilder von der Rüste Norwegens

Anhöhe begrüßte uns schon die Sonne, und bald wetteiferte das Blau des
wolkenlosen Himmels an Reinheit mit der leuchtendweißen, nirgends unter-
brochner Schneefläche. Nach vier Stunden hatten wir mit etwa 1600 Metern
die Paßhöhe erreicht und sahen staunend und schweigend in das unbegrenzte
weiße Wunderland ringsum.

Ich Hütte der Welt gewünscht, daß der Dichter der Bergpsalmen, unser
Scheffel, einmal da oben gestanden hätte; mir aber wünschte ich die Flügel¬
sohlen der Schneeschuhe, um befreit von der irdischen Schwere durch diese
Wunderwelt dahinzueilen. Aber das Schönste sollte noch kommen: nach dem
verjüngenden Hauch des Hochgebirges, nach dem leuchtenden Glase des Winters
der Zauber des Frühlings und seine Schmeichellüfte. Der Abstieg über die
Schneeflächen war bald zu einem Absausen über Schneehalden geworden, als
wir plötzlich das Rauschen von Quellen hörten. Nach einer kleinen Biegung
des Weges standen wir an des Stromes Mutterhaus. Unter dem weit vor¬
springenden Schirmdach des Schnees sprudelten reiche Quellen lustig hervor
und tanzten und sprangen weiter über den moorigen Boden. Rechts und links
aber waren schwellende Polster von Gräsern und von ganz niedrigen Weiden,
die ihre riesigen Palmkätzchcn der warmen Sonne entgegenstreckten, dazu überall
ein fröhliches Treiben von Hummeln und andern geflügelten Gästen. Tief
unter uns lag wie ein breiter Strom der grüne Fjord und an seinem Ende
die Holzhüuschen von Obba, und ihnen gegenüber lag auch unser Schiff, das
wir nach einem steilen Abstieg, zuletzt durch einen prächtigen Buchenwald, um
neun Uhr Morgens erreichten.

Ich hatte noch zweimal Gelegenheit, vom Schiff weg und in das Land
hineinzukommen, beidemal in der Weise, daß ich, von einem Fjord ausgehend,
der Straße durch das dazu gehörende Flußtal bis auf die Hochfläche folgte,
dann die trennende Landzunge überschritt, um nach dem benachbarten Fjord
abzusteigen. Bei beiden Touren war der Anstieg verhältnismäßig langsam und
lang, der Abstieg steil und entsprechend kurz.

Der erste der beiden Ausflüge war die weltberühmte Tour von Voßwcmgen
über Stahlheim nach Gudwangen am Näröfjord. Der Aufstieg nach Stahlheim
ist für den einigermaßen gebirgsverwöhnten Reisenden eine fortgesetzte Ent¬
täuschung, aber der Blick und der steile Abstieg von der Stahlheim-Kiep, d. h.
Stahlheim-Klippe, hinunter in den schluchtartigen Beginn des Närötales mit
seinen beiden Prachtwasserfällcn ist überwältigend.

Unvergleichlich großartiger ist der Übergang vom Nordfjord nach dem
Geircmgerfjord, von Visnäs über Grotii nach Merok; es ist ein Weg von
82 Kilometern, den wir in anderthalbem Tag mit den bekannten Stoolkarren
zurücklegten. Die ganze Tour ist nicht bloß landschaftlich außerordentlich
lohnend, sondern auch für den Freund typischer geographischer Bilder äußerst
interessant, da sie alle Einzelheiten der norwegischen Landschaft in prächtigen
Charakterbildern darbietet. Unsre kleine Gesellschaft, drei Damen und drei
Herren, hatte außerdem das Glück, alle diese Schönheiten noch unentweiht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/370>, abgerufen am 23.07.2024.