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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Landschaftsbilder von der Küste Norwegens

man in Gedanken einmal unsre mit der norwegischen Küste genau parallel
laufende Alb bis nach Königsberg und läßt man ihre Höhenlinie auf das
Dreifache oder das Vierfache anschwellen, so braucht man, wenn man das
schönste Gegenstück zu Skandinavien haben will, nur noch ein klein wenig
Phantasie und Meerwasser.

Die Wissenschaft nimmt an, daß die norwegischen Fjorde alte Flußtäler
sind, die später durch Eisströme ausgefüllt und ausgearbeitet und schließlich
infolge einer Senkung des Landes unter Wasser gesetzt worden sind. Jeder
Fjord endigt gegen das Land zu in ein Tal mit einem Fluß, manchmal auch
nur in eine Art Tal, besser gesagt, in eine Absturzrinne, in der der Fluß als
eine Kette von tosenden Wasserfallen herunterstürzt. Jedes dieser ehemaligen
Täter, der jetzigen Fjorde, hat natürlich seine Nebentäler, und das Haupttal
ist vielfach rechtwinklig oder gar spitzwinklig geknickt. Infolge dieser Krümmungen
schneiden die Fjordwasserstraßen trotz einer Länge von 200 Kilometern und
mehr verhältnismäßig nicht tiefer in das skandinavische Festland ein als unsre
Albflüßchen und endigen vielfach wie diese in schluchtenartigen Gebirgsrinnen,
deren steile Wände bis zu 1500 Metern ansteigen. Die Hauptrichtung der
Fjorde ist wie die der Albtrauftäler eine westöstliche, und zwischen je zwei
Fjorden entsteht wie dort eine Halbinsel. Das Plateau dieser Halbinseln
besteht vielfach aus riesigen Firnscldern, die an einzelnen Stellen Eisströme
zu den Fjorden hinabsenden.

Der erste Fjord, den wir besuchten, war der Hardanger Fjord, der für den
lieblichsten der Fjorde gilt. Ich möchte ihn im Charakter mit dem Vierwald-
stütter See vergleichen.

Nach mehrstündiger Fahrt befand sich unser Schiff dem Hof Sundal gegen¬
über vor einem der schönsten Seitentäler, dessen Abschluß ein wunderbarer
Gletscher, der Bondhusbrae, bildet. Hier ließ ich mich Abends acht Uhr mit zwei
Gefährten ausbooten, um am Rande dieses Gletschers auf das Plateau hinauf¬
zusteigen und nach dessen Durchauerung wieder zum Fjord, und zwar an dessen
Ende, hinunterzusteigen. Die Situation war, um wieder auf den Vergleich
mit der Alb zurückzukommen, wie wenn ich das tief überschwemmte Filstal
bis in die Höhe von Göppingen hinaufgefahren und in Voll gelandet wäre,
um von dort über den Bosler und das Albplateau wandernd das große Knie
des "Filsfjord" abzuschneiden und in einer Talrunse möglichst steil gegen
Ditzenbach hinabzusteigen.

Wir erreichten "bei Nacht" elf Uhr, aber noch bei ganz gutem Tageslicht,
bei etwa 700 Metern die Schneegrenze und rasteten zwei Stunden in einer
Sennhütte auf Renntierfellen, die uns die Hirten abtraten. Um diese Renntier¬
felle herum war ein Verschlag, der aber einem Frühbeet viel ähnlicher war
als einer Bettstelle, was unserm Schlaf aber keinen Abbruch tat. Um ein Uhr
war es hell genug für unsre Wanderung über das mehrere Quadratmeilen
große Schnee- und Firnfeld des Folgefonds. Die Wanderung über diese gro߬
artige Wüste von zuckerkörnigem Schnee war köstlich. Hinter der nächsten


Landschaftsbilder von der Küste Norwegens

man in Gedanken einmal unsre mit der norwegischen Küste genau parallel
laufende Alb bis nach Königsberg und läßt man ihre Höhenlinie auf das
Dreifache oder das Vierfache anschwellen, so braucht man, wenn man das
schönste Gegenstück zu Skandinavien haben will, nur noch ein klein wenig
Phantasie und Meerwasser.

Die Wissenschaft nimmt an, daß die norwegischen Fjorde alte Flußtäler
sind, die später durch Eisströme ausgefüllt und ausgearbeitet und schließlich
infolge einer Senkung des Landes unter Wasser gesetzt worden sind. Jeder
Fjord endigt gegen das Land zu in ein Tal mit einem Fluß, manchmal auch
nur in eine Art Tal, besser gesagt, in eine Absturzrinne, in der der Fluß als
eine Kette von tosenden Wasserfallen herunterstürzt. Jedes dieser ehemaligen
Täter, der jetzigen Fjorde, hat natürlich seine Nebentäler, und das Haupttal
ist vielfach rechtwinklig oder gar spitzwinklig geknickt. Infolge dieser Krümmungen
schneiden die Fjordwasserstraßen trotz einer Länge von 200 Kilometern und
mehr verhältnismäßig nicht tiefer in das skandinavische Festland ein als unsre
Albflüßchen und endigen vielfach wie diese in schluchtenartigen Gebirgsrinnen,
deren steile Wände bis zu 1500 Metern ansteigen. Die Hauptrichtung der
Fjorde ist wie die der Albtrauftäler eine westöstliche, und zwischen je zwei
Fjorden entsteht wie dort eine Halbinsel. Das Plateau dieser Halbinseln
besteht vielfach aus riesigen Firnscldern, die an einzelnen Stellen Eisströme
zu den Fjorden hinabsenden.

Der erste Fjord, den wir besuchten, war der Hardanger Fjord, der für den
lieblichsten der Fjorde gilt. Ich möchte ihn im Charakter mit dem Vierwald-
stütter See vergleichen.

Nach mehrstündiger Fahrt befand sich unser Schiff dem Hof Sundal gegen¬
über vor einem der schönsten Seitentäler, dessen Abschluß ein wunderbarer
Gletscher, der Bondhusbrae, bildet. Hier ließ ich mich Abends acht Uhr mit zwei
Gefährten ausbooten, um am Rande dieses Gletschers auf das Plateau hinauf¬
zusteigen und nach dessen Durchauerung wieder zum Fjord, und zwar an dessen
Ende, hinunterzusteigen. Die Situation war, um wieder auf den Vergleich
mit der Alb zurückzukommen, wie wenn ich das tief überschwemmte Filstal
bis in die Höhe von Göppingen hinaufgefahren und in Voll gelandet wäre,
um von dort über den Bosler und das Albplateau wandernd das große Knie
des „Filsfjord" abzuschneiden und in einer Talrunse möglichst steil gegen
Ditzenbach hinabzusteigen.

Wir erreichten „bei Nacht" elf Uhr, aber noch bei ganz gutem Tageslicht,
bei etwa 700 Metern die Schneegrenze und rasteten zwei Stunden in einer
Sennhütte auf Renntierfellen, die uns die Hirten abtraten. Um diese Renntier¬
felle herum war ein Verschlag, der aber einem Frühbeet viel ähnlicher war
als einer Bettstelle, was unserm Schlaf aber keinen Abbruch tat. Um ein Uhr
war es hell genug für unsre Wanderung über das mehrere Quadratmeilen
große Schnee- und Firnfeld des Folgefonds. Die Wanderung über diese gro߬
artige Wüste von zuckerkörnigem Schnee war köstlich. Hinter der nächsten


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[0369] Landschaftsbilder von der Küste Norwegens man in Gedanken einmal unsre mit der norwegischen Küste genau parallel laufende Alb bis nach Königsberg und läßt man ihre Höhenlinie auf das Dreifache oder das Vierfache anschwellen, so braucht man, wenn man das schönste Gegenstück zu Skandinavien haben will, nur noch ein klein wenig Phantasie und Meerwasser. Die Wissenschaft nimmt an, daß die norwegischen Fjorde alte Flußtäler sind, die später durch Eisströme ausgefüllt und ausgearbeitet und schließlich infolge einer Senkung des Landes unter Wasser gesetzt worden sind. Jeder Fjord endigt gegen das Land zu in ein Tal mit einem Fluß, manchmal auch nur in eine Art Tal, besser gesagt, in eine Absturzrinne, in der der Fluß als eine Kette von tosenden Wasserfallen herunterstürzt. Jedes dieser ehemaligen Täter, der jetzigen Fjorde, hat natürlich seine Nebentäler, und das Haupttal ist vielfach rechtwinklig oder gar spitzwinklig geknickt. Infolge dieser Krümmungen schneiden die Fjordwasserstraßen trotz einer Länge von 200 Kilometern und mehr verhältnismäßig nicht tiefer in das skandinavische Festland ein als unsre Albflüßchen und endigen vielfach wie diese in schluchtenartigen Gebirgsrinnen, deren steile Wände bis zu 1500 Metern ansteigen. Die Hauptrichtung der Fjorde ist wie die der Albtrauftäler eine westöstliche, und zwischen je zwei Fjorden entsteht wie dort eine Halbinsel. Das Plateau dieser Halbinseln besteht vielfach aus riesigen Firnscldern, die an einzelnen Stellen Eisströme zu den Fjorden hinabsenden. Der erste Fjord, den wir besuchten, war der Hardanger Fjord, der für den lieblichsten der Fjorde gilt. Ich möchte ihn im Charakter mit dem Vierwald- stütter See vergleichen. Nach mehrstündiger Fahrt befand sich unser Schiff dem Hof Sundal gegen¬ über vor einem der schönsten Seitentäler, dessen Abschluß ein wunderbarer Gletscher, der Bondhusbrae, bildet. Hier ließ ich mich Abends acht Uhr mit zwei Gefährten ausbooten, um am Rande dieses Gletschers auf das Plateau hinauf¬ zusteigen und nach dessen Durchauerung wieder zum Fjord, und zwar an dessen Ende, hinunterzusteigen. Die Situation war, um wieder auf den Vergleich mit der Alb zurückzukommen, wie wenn ich das tief überschwemmte Filstal bis in die Höhe von Göppingen hinaufgefahren und in Voll gelandet wäre, um von dort über den Bosler und das Albplateau wandernd das große Knie des „Filsfjord" abzuschneiden und in einer Talrunse möglichst steil gegen Ditzenbach hinabzusteigen. Wir erreichten „bei Nacht" elf Uhr, aber noch bei ganz gutem Tageslicht, bei etwa 700 Metern die Schneegrenze und rasteten zwei Stunden in einer Sennhütte auf Renntierfellen, die uns die Hirten abtraten. Um diese Renntier¬ felle herum war ein Verschlag, der aber einem Frühbeet viel ähnlicher war als einer Bettstelle, was unserm Schlaf aber keinen Abbruch tat. Um ein Uhr war es hell genug für unsre Wanderung über das mehrere Quadratmeilen große Schnee- und Firnfeld des Folgefonds. Die Wanderung über diese gro߬ artige Wüste von zuckerkörnigem Schnee war köstlich. Hinter der nächsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/369>, abgerufen am 28.12.2024.