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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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TandschaftsbUder von der Küste Norwegens

von den gelangweilten Blicken der Herdereisenden taufrisch aus der Hand der
Natur zu bekommen. Was wollte es dagegen besagen, daß die Herren von
den 82 Kilometern mehr gehn mußten, als uns lieb war, und daß man an
den noch stark schneeverwehten Stellen die Stoolkarren zum Teil stützen und
schieben mußte! Das zweite Drittel der Straße war für die mit unserm Schiff
erwarteten Reisenden durch ein großes Aufgebot von Leuten eben noch not¬
dürftig geöffnet worden.

Ich habe nnr bedauert, daß ich nicht photographieren konnte, sonst hätte
ich von unserm Wagenzug da oben auf der melancholischen Hochfläche des
Fjeld ein Bild mitgebracht, das an die Kriegsbilder aus der winterlichen
Mandschurei erinnert hätte.

In den ersten Stunden merkte man freilich vom Winter nichts. Bei
strahlendem Sonnenschein ging es von Visnüs am Nordfjord zuerst eine
kleine Anhöhe hinauf, dann ziemlich eben, durch ein frühlingsgrünes Wiesen¬
tal an dem tosenden und schäumenden Strynsfluß entlang, bis an dessen
untersten Reinigungssee, den Strynswand, den wir in etwa zweistündiger
Fahrt auf einem kleinen Dampfer der ganzen Länge nach vom Ausfluß bis
an den Einfluß den Stryns durchfuhren. Kurz vor dem Ende der Fahrt
eröffnete sich rechts der Blick in ein Seitental mit einem bis auf die Talfohle
reichenden Gletscher, den man nur mit seufzender Ergebung unbesucht vorbei-
ziehn lassen konnte. Statt dessen erwartete die Anssteigenden in einer der
reizenden Holzbauten, die die norwegische Fremdenindustrie überall aufzustellen
weiß, ein auch nicht zu verachtendes Mahl, und dann ging es wieder über
einen kleinen Berg in das nun schon viel engere Oberlauftal des Stryn, das
Widetal, hinein. Der Zugang zum Widetal schien gesperrt durch einen riesigen
Wall, worin nur der Fluß und die Straße einen tiefen Einschnitt machten.
Der Wall war eine besonders schöne Stirnmoräne des ehemaligen Widetal-
gletschers, und zwar schon aus der Zeit seines Rückzugs, eine andre, ältere,
hatten wir ungeahnt und unbemerkt gleich nach dem Verlassen des Schiffes
bei Visnns überschritten.

Unser immer noch grünes Widetal wurde enger und steiler, der Strynfluß
immer wilder, bis wir nach etwa anderthalb Stunden an einen vielleicht
200 Meter hohen Querriegel des Tales kamen, den der Fluß in einer Reihe
von Wasserfällen, die prächtige Kunststraße in unzähligen Kehren überwindet.
Oben angekommen war das Bild bei etwa 1000 Metern Höhe ein ganz andres,
wir waren mitten im Schnee. Ein prachtvoller Wasserfall, in den man von oben
hineinsah, steckte zur Hülste in einer Schneerinne, die beschneiten Randbcrge
unsers nunmehr flachen Hochtales zeigten der ganzen Länge nach eine Eiskrone,
und der mehrere Kilometer lange See, an dessen Ufer wir der Karte nach
""hinfahren sollten, wollte ewig nicht kommen; in Wirklichkeit war er unter
dem Schutz seiner tiefen Schneedecke unerkannt fast schon ganz passiert. Wir
waren allmählich zwölf Stunden unterwegs und schon mehrere Stunden auf
der Hochfläche, auf dem Fjeld. dahingezogen und vom Schneestrampfen und


TandschaftsbUder von der Küste Norwegens

von den gelangweilten Blicken der Herdereisenden taufrisch aus der Hand der
Natur zu bekommen. Was wollte es dagegen besagen, daß die Herren von
den 82 Kilometern mehr gehn mußten, als uns lieb war, und daß man an
den noch stark schneeverwehten Stellen die Stoolkarren zum Teil stützen und
schieben mußte! Das zweite Drittel der Straße war für die mit unserm Schiff
erwarteten Reisenden durch ein großes Aufgebot von Leuten eben noch not¬
dürftig geöffnet worden.

Ich habe nnr bedauert, daß ich nicht photographieren konnte, sonst hätte
ich von unserm Wagenzug da oben auf der melancholischen Hochfläche des
Fjeld ein Bild mitgebracht, das an die Kriegsbilder aus der winterlichen
Mandschurei erinnert hätte.

In den ersten Stunden merkte man freilich vom Winter nichts. Bei
strahlendem Sonnenschein ging es von Visnüs am Nordfjord zuerst eine
kleine Anhöhe hinauf, dann ziemlich eben, durch ein frühlingsgrünes Wiesen¬
tal an dem tosenden und schäumenden Strynsfluß entlang, bis an dessen
untersten Reinigungssee, den Strynswand, den wir in etwa zweistündiger
Fahrt auf einem kleinen Dampfer der ganzen Länge nach vom Ausfluß bis
an den Einfluß den Stryns durchfuhren. Kurz vor dem Ende der Fahrt
eröffnete sich rechts der Blick in ein Seitental mit einem bis auf die Talfohle
reichenden Gletscher, den man nur mit seufzender Ergebung unbesucht vorbei-
ziehn lassen konnte. Statt dessen erwartete die Anssteigenden in einer der
reizenden Holzbauten, die die norwegische Fremdenindustrie überall aufzustellen
weiß, ein auch nicht zu verachtendes Mahl, und dann ging es wieder über
einen kleinen Berg in das nun schon viel engere Oberlauftal des Stryn, das
Widetal, hinein. Der Zugang zum Widetal schien gesperrt durch einen riesigen
Wall, worin nur der Fluß und die Straße einen tiefen Einschnitt machten.
Der Wall war eine besonders schöne Stirnmoräne des ehemaligen Widetal-
gletschers, und zwar schon aus der Zeit seines Rückzugs, eine andre, ältere,
hatten wir ungeahnt und unbemerkt gleich nach dem Verlassen des Schiffes
bei Visnns überschritten.

Unser immer noch grünes Widetal wurde enger und steiler, der Strynfluß
immer wilder, bis wir nach etwa anderthalb Stunden an einen vielleicht
200 Meter hohen Querriegel des Tales kamen, den der Fluß in einer Reihe
von Wasserfällen, die prächtige Kunststraße in unzähligen Kehren überwindet.
Oben angekommen war das Bild bei etwa 1000 Metern Höhe ein ganz andres,
wir waren mitten im Schnee. Ein prachtvoller Wasserfall, in den man von oben
hineinsah, steckte zur Hülste in einer Schneerinne, die beschneiten Randbcrge
unsers nunmehr flachen Hochtales zeigten der ganzen Länge nach eine Eiskrone,
und der mehrere Kilometer lange See, an dessen Ufer wir der Karte nach
««hinfahren sollten, wollte ewig nicht kommen; in Wirklichkeit war er unter
dem Schutz seiner tiefen Schneedecke unerkannt fast schon ganz passiert. Wir
waren allmählich zwölf Stunden unterwegs und schon mehrere Stunden auf
der Hochfläche, auf dem Fjeld. dahingezogen und vom Schneestrampfen und


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[0371] TandschaftsbUder von der Küste Norwegens von den gelangweilten Blicken der Herdereisenden taufrisch aus der Hand der Natur zu bekommen. Was wollte es dagegen besagen, daß die Herren von den 82 Kilometern mehr gehn mußten, als uns lieb war, und daß man an den noch stark schneeverwehten Stellen die Stoolkarren zum Teil stützen und schieben mußte! Das zweite Drittel der Straße war für die mit unserm Schiff erwarteten Reisenden durch ein großes Aufgebot von Leuten eben noch not¬ dürftig geöffnet worden. Ich habe nnr bedauert, daß ich nicht photographieren konnte, sonst hätte ich von unserm Wagenzug da oben auf der melancholischen Hochfläche des Fjeld ein Bild mitgebracht, das an die Kriegsbilder aus der winterlichen Mandschurei erinnert hätte. In den ersten Stunden merkte man freilich vom Winter nichts. Bei strahlendem Sonnenschein ging es von Visnüs am Nordfjord zuerst eine kleine Anhöhe hinauf, dann ziemlich eben, durch ein frühlingsgrünes Wiesen¬ tal an dem tosenden und schäumenden Strynsfluß entlang, bis an dessen untersten Reinigungssee, den Strynswand, den wir in etwa zweistündiger Fahrt auf einem kleinen Dampfer der ganzen Länge nach vom Ausfluß bis an den Einfluß den Stryns durchfuhren. Kurz vor dem Ende der Fahrt eröffnete sich rechts der Blick in ein Seitental mit einem bis auf die Talfohle reichenden Gletscher, den man nur mit seufzender Ergebung unbesucht vorbei- ziehn lassen konnte. Statt dessen erwartete die Anssteigenden in einer der reizenden Holzbauten, die die norwegische Fremdenindustrie überall aufzustellen weiß, ein auch nicht zu verachtendes Mahl, und dann ging es wieder über einen kleinen Berg in das nun schon viel engere Oberlauftal des Stryn, das Widetal, hinein. Der Zugang zum Widetal schien gesperrt durch einen riesigen Wall, worin nur der Fluß und die Straße einen tiefen Einschnitt machten. Der Wall war eine besonders schöne Stirnmoräne des ehemaligen Widetal- gletschers, und zwar schon aus der Zeit seines Rückzugs, eine andre, ältere, hatten wir ungeahnt und unbemerkt gleich nach dem Verlassen des Schiffes bei Visnns überschritten. Unser immer noch grünes Widetal wurde enger und steiler, der Strynfluß immer wilder, bis wir nach etwa anderthalb Stunden an einen vielleicht 200 Meter hohen Querriegel des Tales kamen, den der Fluß in einer Reihe von Wasserfällen, die prächtige Kunststraße in unzähligen Kehren überwindet. Oben angekommen war das Bild bei etwa 1000 Metern Höhe ein ganz andres, wir waren mitten im Schnee. Ein prachtvoller Wasserfall, in den man von oben hineinsah, steckte zur Hülste in einer Schneerinne, die beschneiten Randbcrge unsers nunmehr flachen Hochtales zeigten der ganzen Länge nach eine Eiskrone, und der mehrere Kilometer lange See, an dessen Ufer wir der Karte nach ««hinfahren sollten, wollte ewig nicht kommen; in Wirklichkeit war er unter dem Schutz seiner tiefen Schneedecke unerkannt fast schon ganz passiert. Wir waren allmählich zwölf Stunden unterwegs und schon mehrere Stunden auf der Hochfläche, auf dem Fjeld. dahingezogen und vom Schneestrampfen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/371>, abgerufen am 28.12.2024.