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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Tragischen

auf festen arithmetischen Verhältnissen beruht, so geht uns damit der Gedanke
der das Weltall durchwaltenden Gesetzlichkeit auf, die uns den Mut verleiht,
zu hoffen, es werde sich dereinst die gleiche Gesetzlichkeit in der Gestalt einer
vollkommnen Gerechtigkeit auch im Menschenleben und Menschenschicksal ent¬
hüllen, sodaß also gerade die Herbartische Ästhetik zu einer befriedigenden Welt¬
anschauung hinleitet.

Und dann: es muß ja im Drama nicht alles ästhetisch sein, ja in keinem
Drama ist alles ästhetisch; es ist ein gemischtes Gebilde, sodaß sich in ihm
außer der ästhetischen Form auch noch vielerlei Stoff finden kann, der eine
Weltanschauung offenbart oder an eine solche anknüpft. Volkelt läßt es dahin¬
gestellt sein, ob Aristoteles mit der Katharsis die Entladung der Seele von
Furcht und Mitleid oder, wie andre wollen, die Läuterung dieser Gefühle
gemeint habe. Im zweiten Falle stehe die Aristotelische Theorie auf dem
Boden der Ästhetik, denn jede ästhetische Wirkung reinige das Gefühlsleben.
Im ersten Falle dagegen sei zunächst zu bemerken, daß die Seele meist
gar kein Bedürfnis fühle, ihr Mitleid los zu werden, dann aber, was die
Furcht und die dieser verwandten Gefühle des Schmerzes, der Angst, der Be¬
klemmung, der Niedergeschlagenheit betrifft, daß die Befreiung von diesen gar
kein ästhetischer Vorgang sei; es handle sich dabei "um eine grobstoffliche,
aber psychologisch interessante Wirkung, die in manchen Fällen der tragischen
Dichtung zukommt". Also "in manchen Fällen" bringt das Tragische Wirkungen
hervor, die außerhalb des ästhetischen Gebiets liegen! Wirklich bloß in manchen
Fällen? Wenn ich mit Posa für Freiheit schwärme, mit den Rütlimännern
den Tyrannen hasse, mit Tell ihn morde, mit den Wallensteinischen mich an
einem frischen, wilden, lustigen Soldatenleben ergötze, mit Wallenstein und
seinen Feinden Intriguen spinne, die Größe einer Antigone bewundre,
Richards des Dritten Schandtaten verabscheue, mit Romeo in Zärtlichkeit zer¬
fließe, an Hamlet und Tasso Seelenanalyse übe -- sind das alles ästhetische,
rein ästhetische Tätigkeiten oder Genüsse? Sind die beim Lesen oder Schauen
und Hören der Dramen erregten Gefühle nicht größtenteils sittlicher oder
sinnlicher Art, und tritt nicht oft auch der Genuß hinzu, den die Befriedigung
der intellektuellen Triebe gewährt, zum Beispiel wenn wir eine sinnreiche
Intrigue einfädeln und gelingen oder mißlingen sehen? Ein Hochmoderner
schrieb vor ein paar Jahren einmal, die ganze Ästhetik sei leeres Geschwätz;
was an schönen Menschen und an Bildern von solchen gefalle und erfreue,
das sei -- das Erotische. Das ist nun zwar Unfug, aber dem Unfug liegt
Fug zugrunde. Wir sind nicht allein berechtigt, sondern wenn wir einer
Menge von Unklarheiten und Streitigkeiten ein Ende machen wollen, genötigt,
anzuerkennen, daß bei allen Kunstwerken, die den Menschen zum Gegen¬
stande haben, außer den ästhetischen Gefühlen noch viele andre erweckt werden,
und daß im Drama, das den Menschen am vollständigsten darstellt, die Masse
dieser andern Gefühle die rein ästhetischen weit überwiegt und manchmal ganz


Zur Ästhetik des Tragischen

auf festen arithmetischen Verhältnissen beruht, so geht uns damit der Gedanke
der das Weltall durchwaltenden Gesetzlichkeit auf, die uns den Mut verleiht,
zu hoffen, es werde sich dereinst die gleiche Gesetzlichkeit in der Gestalt einer
vollkommnen Gerechtigkeit auch im Menschenleben und Menschenschicksal ent¬
hüllen, sodaß also gerade die Herbartische Ästhetik zu einer befriedigenden Welt¬
anschauung hinleitet.

Und dann: es muß ja im Drama nicht alles ästhetisch sein, ja in keinem
Drama ist alles ästhetisch; es ist ein gemischtes Gebilde, sodaß sich in ihm
außer der ästhetischen Form auch noch vielerlei Stoff finden kann, der eine
Weltanschauung offenbart oder an eine solche anknüpft. Volkelt läßt es dahin¬
gestellt sein, ob Aristoteles mit der Katharsis die Entladung der Seele von
Furcht und Mitleid oder, wie andre wollen, die Läuterung dieser Gefühle
gemeint habe. Im zweiten Falle stehe die Aristotelische Theorie auf dem
Boden der Ästhetik, denn jede ästhetische Wirkung reinige das Gefühlsleben.
Im ersten Falle dagegen sei zunächst zu bemerken, daß die Seele meist
gar kein Bedürfnis fühle, ihr Mitleid los zu werden, dann aber, was die
Furcht und die dieser verwandten Gefühle des Schmerzes, der Angst, der Be¬
klemmung, der Niedergeschlagenheit betrifft, daß die Befreiung von diesen gar
kein ästhetischer Vorgang sei; es handle sich dabei „um eine grobstoffliche,
aber psychologisch interessante Wirkung, die in manchen Fällen der tragischen
Dichtung zukommt". Also „in manchen Fällen" bringt das Tragische Wirkungen
hervor, die außerhalb des ästhetischen Gebiets liegen! Wirklich bloß in manchen
Fällen? Wenn ich mit Posa für Freiheit schwärme, mit den Rütlimännern
den Tyrannen hasse, mit Tell ihn morde, mit den Wallensteinischen mich an
einem frischen, wilden, lustigen Soldatenleben ergötze, mit Wallenstein und
seinen Feinden Intriguen spinne, die Größe einer Antigone bewundre,
Richards des Dritten Schandtaten verabscheue, mit Romeo in Zärtlichkeit zer¬
fließe, an Hamlet und Tasso Seelenanalyse übe — sind das alles ästhetische,
rein ästhetische Tätigkeiten oder Genüsse? Sind die beim Lesen oder Schauen
und Hören der Dramen erregten Gefühle nicht größtenteils sittlicher oder
sinnlicher Art, und tritt nicht oft auch der Genuß hinzu, den die Befriedigung
der intellektuellen Triebe gewährt, zum Beispiel wenn wir eine sinnreiche
Intrigue einfädeln und gelingen oder mißlingen sehen? Ein Hochmoderner
schrieb vor ein paar Jahren einmal, die ganze Ästhetik sei leeres Geschwätz;
was an schönen Menschen und an Bildern von solchen gefalle und erfreue,
das sei — das Erotische. Das ist nun zwar Unfug, aber dem Unfug liegt
Fug zugrunde. Wir sind nicht allein berechtigt, sondern wenn wir einer
Menge von Unklarheiten und Streitigkeiten ein Ende machen wollen, genötigt,
anzuerkennen, daß bei allen Kunstwerken, die den Menschen zum Gegen¬
stande haben, außer den ästhetischen Gefühlen noch viele andre erweckt werden,
und daß im Drama, das den Menschen am vollständigsten darstellt, die Masse
dieser andern Gefühle die rein ästhetischen weit überwiegt und manchmal ganz


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[0351] Zur Ästhetik des Tragischen auf festen arithmetischen Verhältnissen beruht, so geht uns damit der Gedanke der das Weltall durchwaltenden Gesetzlichkeit auf, die uns den Mut verleiht, zu hoffen, es werde sich dereinst die gleiche Gesetzlichkeit in der Gestalt einer vollkommnen Gerechtigkeit auch im Menschenleben und Menschenschicksal ent¬ hüllen, sodaß also gerade die Herbartische Ästhetik zu einer befriedigenden Welt¬ anschauung hinleitet. Und dann: es muß ja im Drama nicht alles ästhetisch sein, ja in keinem Drama ist alles ästhetisch; es ist ein gemischtes Gebilde, sodaß sich in ihm außer der ästhetischen Form auch noch vielerlei Stoff finden kann, der eine Weltanschauung offenbart oder an eine solche anknüpft. Volkelt läßt es dahin¬ gestellt sein, ob Aristoteles mit der Katharsis die Entladung der Seele von Furcht und Mitleid oder, wie andre wollen, die Läuterung dieser Gefühle gemeint habe. Im zweiten Falle stehe die Aristotelische Theorie auf dem Boden der Ästhetik, denn jede ästhetische Wirkung reinige das Gefühlsleben. Im ersten Falle dagegen sei zunächst zu bemerken, daß die Seele meist gar kein Bedürfnis fühle, ihr Mitleid los zu werden, dann aber, was die Furcht und die dieser verwandten Gefühle des Schmerzes, der Angst, der Be¬ klemmung, der Niedergeschlagenheit betrifft, daß die Befreiung von diesen gar kein ästhetischer Vorgang sei; es handle sich dabei „um eine grobstoffliche, aber psychologisch interessante Wirkung, die in manchen Fällen der tragischen Dichtung zukommt". Also „in manchen Fällen" bringt das Tragische Wirkungen hervor, die außerhalb des ästhetischen Gebiets liegen! Wirklich bloß in manchen Fällen? Wenn ich mit Posa für Freiheit schwärme, mit den Rütlimännern den Tyrannen hasse, mit Tell ihn morde, mit den Wallensteinischen mich an einem frischen, wilden, lustigen Soldatenleben ergötze, mit Wallenstein und seinen Feinden Intriguen spinne, die Größe einer Antigone bewundre, Richards des Dritten Schandtaten verabscheue, mit Romeo in Zärtlichkeit zer¬ fließe, an Hamlet und Tasso Seelenanalyse übe — sind das alles ästhetische, rein ästhetische Tätigkeiten oder Genüsse? Sind die beim Lesen oder Schauen und Hören der Dramen erregten Gefühle nicht größtenteils sittlicher oder sinnlicher Art, und tritt nicht oft auch der Genuß hinzu, den die Befriedigung der intellektuellen Triebe gewährt, zum Beispiel wenn wir eine sinnreiche Intrigue einfädeln und gelingen oder mißlingen sehen? Ein Hochmoderner schrieb vor ein paar Jahren einmal, die ganze Ästhetik sei leeres Geschwätz; was an schönen Menschen und an Bildern von solchen gefalle und erfreue, das sei — das Erotische. Das ist nun zwar Unfug, aber dem Unfug liegt Fug zugrunde. Wir sind nicht allein berechtigt, sondern wenn wir einer Menge von Unklarheiten und Streitigkeiten ein Ende machen wollen, genötigt, anzuerkennen, daß bei allen Kunstwerken, die den Menschen zum Gegen¬ stande haben, außer den ästhetischen Gefühlen noch viele andre erweckt werden, und daß im Drama, das den Menschen am vollständigsten darstellt, die Masse dieser andern Gefühle die rein ästhetischen weit überwiegt und manchmal ganz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/351>, abgerufen am 28.12.2024.