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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Tragischen

in den Hintergrund drängt. Der Klassizist, der strenge Ästhetiker (was man
heute einen Ästheten nennt, das ist etwas ganz andres) muß sich schon für
befriedigt erklären, wenn in einem modernen Drama der Wust von Laster,
Verbrechen, Häßlichkeit und Schmutz nicht gar zu unförmlich über die Schön¬
heitslinie hinausquillt. Damit ist zugleich die Streitfrage entschieden, ob die
Polizei das Recht habe, Kunstwerke zu zensurieren und ihre Aufführung oder
Verbreitung zu verbieten. Wenn alle Kunstwerke so wie die Arabesken, die
Landschaften, die Stillleben, die Bauwerke bloß ästhetisch wirkten, dann hätte
die Polizei selbstverständlich in Kunstangelegenheiten nichts zu sagen, würde
auch gar kein Verlangen danach tragen, sich einzumischen. Aber einen
Menschen, sei es ein wirklicher oder ein abgebildeter, nur als ästhetische
Figur anzusehen, das ist uns ganz unmöglich; darum wirken Kunstwerke, in
denen Menschen vorkommen, niemals rein ästhetisch, sondern zugleich durch
Weckung von Sympathien und Antipathien, Trieben und Leidenschaften, und
in vielen, wahrscheinlich in den meisten Fällen übertönt diese Wirkung die
ästhetische. Das Premierenpublikum, das einer sogenannten neuen Moral
zujauchzt, der Volkshaufe, der sich durch ein Revolutionsstück zu wilden Taten
aufgestachelt fühlt, der Knabe, in dem eine pikante Photographie vorzeitige
Lüsternheit weckt, die fragen nicht nach dem ästhetischen Werte des Kunstwerks;
darum soll auch die Obrigkeit nicht danach fragen. Damit ist natürlich noch
kein Urteil über den einzelnen Fall gesprochen. Es kann sein, daß die Moral
der "Intellektuellen" höher steht als die der Polizei, wozu in Nußland nicht
viel gehören würde, daß das Verbot eines Theaterstücks aus politischen
Gründen eine große politische Dummheit, und daß frühzeitige Gewöhnung der
Jugend an den Anblick des Nackten die beste sexuelle Pädagogik ist. Es soll
nur konstatiert werden, daß die Künstler und die Kunstfreunde nicht berechtigt
sind, im Namen der Ästhetik zu entscheiden, in Dingen, die mit der Ästhetik
gar nichts zu schaffen haben. Was ist denn Ästhetisches an den häßlichen
Fratzen des Simplicissimus und an den noch häßlichem Ausbrüchen seines
Hasses gegen Stände, Personen und Institutionen?

Das Ästhetische bedeutet uns zweierlei. Erstens eine Erscheinung, die
durch gewisse Verhältnisse im Beschauer oder Hörer angenehme Empfindungen
hervorruft: das ist das Ästhetische in dem bisher erörterten Sinne, und die
Ästhetik, die sich darauf bezieht, ist die Wissenschaft vom Schönen. Zweitens
rechnen wir zum Ästhetischen alles, was nicht Ernst sondern Spiel ist und
dadurch ergötzt, also das, was Schiller seiner Ästhetik zugrunde gelegt hat.
Es ist aber ein Irrtum, das Wohlgefallen am Schönen und die Freude am
Spiel für zwei Seiten derselben Sache anzusehen, und aus diesem Irrtum
entspringen, wie mir scheint, die meisten Streitigkeiten über das Ästhetische.
Wir haben es vielmehr mit zwei verschiednen Gebieten zu tun, die einander
auf mehrfache Weise berühren und durchdringen und darum von den Theo¬
retikern in einem und demselben Kessel untereinander gerührt worden sind,


Zur Ästhetik des Tragischen

in den Hintergrund drängt. Der Klassizist, der strenge Ästhetiker (was man
heute einen Ästheten nennt, das ist etwas ganz andres) muß sich schon für
befriedigt erklären, wenn in einem modernen Drama der Wust von Laster,
Verbrechen, Häßlichkeit und Schmutz nicht gar zu unförmlich über die Schön¬
heitslinie hinausquillt. Damit ist zugleich die Streitfrage entschieden, ob die
Polizei das Recht habe, Kunstwerke zu zensurieren und ihre Aufführung oder
Verbreitung zu verbieten. Wenn alle Kunstwerke so wie die Arabesken, die
Landschaften, die Stillleben, die Bauwerke bloß ästhetisch wirkten, dann hätte
die Polizei selbstverständlich in Kunstangelegenheiten nichts zu sagen, würde
auch gar kein Verlangen danach tragen, sich einzumischen. Aber einen
Menschen, sei es ein wirklicher oder ein abgebildeter, nur als ästhetische
Figur anzusehen, das ist uns ganz unmöglich; darum wirken Kunstwerke, in
denen Menschen vorkommen, niemals rein ästhetisch, sondern zugleich durch
Weckung von Sympathien und Antipathien, Trieben und Leidenschaften, und
in vielen, wahrscheinlich in den meisten Fällen übertönt diese Wirkung die
ästhetische. Das Premierenpublikum, das einer sogenannten neuen Moral
zujauchzt, der Volkshaufe, der sich durch ein Revolutionsstück zu wilden Taten
aufgestachelt fühlt, der Knabe, in dem eine pikante Photographie vorzeitige
Lüsternheit weckt, die fragen nicht nach dem ästhetischen Werte des Kunstwerks;
darum soll auch die Obrigkeit nicht danach fragen. Damit ist natürlich noch
kein Urteil über den einzelnen Fall gesprochen. Es kann sein, daß die Moral
der „Intellektuellen" höher steht als die der Polizei, wozu in Nußland nicht
viel gehören würde, daß das Verbot eines Theaterstücks aus politischen
Gründen eine große politische Dummheit, und daß frühzeitige Gewöhnung der
Jugend an den Anblick des Nackten die beste sexuelle Pädagogik ist. Es soll
nur konstatiert werden, daß die Künstler und die Kunstfreunde nicht berechtigt
sind, im Namen der Ästhetik zu entscheiden, in Dingen, die mit der Ästhetik
gar nichts zu schaffen haben. Was ist denn Ästhetisches an den häßlichen
Fratzen des Simplicissimus und an den noch häßlichem Ausbrüchen seines
Hasses gegen Stände, Personen und Institutionen?

Das Ästhetische bedeutet uns zweierlei. Erstens eine Erscheinung, die
durch gewisse Verhältnisse im Beschauer oder Hörer angenehme Empfindungen
hervorruft: das ist das Ästhetische in dem bisher erörterten Sinne, und die
Ästhetik, die sich darauf bezieht, ist die Wissenschaft vom Schönen. Zweitens
rechnen wir zum Ästhetischen alles, was nicht Ernst sondern Spiel ist und
dadurch ergötzt, also das, was Schiller seiner Ästhetik zugrunde gelegt hat.
Es ist aber ein Irrtum, das Wohlgefallen am Schönen und die Freude am
Spiel für zwei Seiten derselben Sache anzusehen, und aus diesem Irrtum
entspringen, wie mir scheint, die meisten Streitigkeiten über das Ästhetische.
Wir haben es vielmehr mit zwei verschiednen Gebieten zu tun, die einander
auf mehrfache Weise berühren und durchdringen und darum von den Theo¬
retikern in einem und demselben Kessel untereinander gerührt worden sind,


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[0352] Zur Ästhetik des Tragischen in den Hintergrund drängt. Der Klassizist, der strenge Ästhetiker (was man heute einen Ästheten nennt, das ist etwas ganz andres) muß sich schon für befriedigt erklären, wenn in einem modernen Drama der Wust von Laster, Verbrechen, Häßlichkeit und Schmutz nicht gar zu unförmlich über die Schön¬ heitslinie hinausquillt. Damit ist zugleich die Streitfrage entschieden, ob die Polizei das Recht habe, Kunstwerke zu zensurieren und ihre Aufführung oder Verbreitung zu verbieten. Wenn alle Kunstwerke so wie die Arabesken, die Landschaften, die Stillleben, die Bauwerke bloß ästhetisch wirkten, dann hätte die Polizei selbstverständlich in Kunstangelegenheiten nichts zu sagen, würde auch gar kein Verlangen danach tragen, sich einzumischen. Aber einen Menschen, sei es ein wirklicher oder ein abgebildeter, nur als ästhetische Figur anzusehen, das ist uns ganz unmöglich; darum wirken Kunstwerke, in denen Menschen vorkommen, niemals rein ästhetisch, sondern zugleich durch Weckung von Sympathien und Antipathien, Trieben und Leidenschaften, und in vielen, wahrscheinlich in den meisten Fällen übertönt diese Wirkung die ästhetische. Das Premierenpublikum, das einer sogenannten neuen Moral zujauchzt, der Volkshaufe, der sich durch ein Revolutionsstück zu wilden Taten aufgestachelt fühlt, der Knabe, in dem eine pikante Photographie vorzeitige Lüsternheit weckt, die fragen nicht nach dem ästhetischen Werte des Kunstwerks; darum soll auch die Obrigkeit nicht danach fragen. Damit ist natürlich noch kein Urteil über den einzelnen Fall gesprochen. Es kann sein, daß die Moral der „Intellektuellen" höher steht als die der Polizei, wozu in Nußland nicht viel gehören würde, daß das Verbot eines Theaterstücks aus politischen Gründen eine große politische Dummheit, und daß frühzeitige Gewöhnung der Jugend an den Anblick des Nackten die beste sexuelle Pädagogik ist. Es soll nur konstatiert werden, daß die Künstler und die Kunstfreunde nicht berechtigt sind, im Namen der Ästhetik zu entscheiden, in Dingen, die mit der Ästhetik gar nichts zu schaffen haben. Was ist denn Ästhetisches an den häßlichen Fratzen des Simplicissimus und an den noch häßlichem Ausbrüchen seines Hasses gegen Stände, Personen und Institutionen? Das Ästhetische bedeutet uns zweierlei. Erstens eine Erscheinung, die durch gewisse Verhältnisse im Beschauer oder Hörer angenehme Empfindungen hervorruft: das ist das Ästhetische in dem bisher erörterten Sinne, und die Ästhetik, die sich darauf bezieht, ist die Wissenschaft vom Schönen. Zweitens rechnen wir zum Ästhetischen alles, was nicht Ernst sondern Spiel ist und dadurch ergötzt, also das, was Schiller seiner Ästhetik zugrunde gelegt hat. Es ist aber ein Irrtum, das Wohlgefallen am Schönen und die Freude am Spiel für zwei Seiten derselben Sache anzusehen, und aus diesem Irrtum entspringen, wie mir scheint, die meisten Streitigkeiten über das Ästhetische. Wir haben es vielmehr mit zwei verschiednen Gebieten zu tun, die einander auf mehrfache Weise berühren und durchdringen und darum von den Theo¬ retikern in einem und demselben Kessel untereinander gerührt worden sind,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/352>, abgerufen am 23.07.2024.