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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Tragischen

frage, auszusprechen. Volkelt spricht davon, daß der Dichter eines tragischen
Epos, Dramas oder Romans darin seine Weltanschauung zugrunde lege oder
wenigstens verrate, und daß sich auch die Theorie des Tragischen von Welt-
und Lebensanschauung nicht gänzlich loslösen lasse; manche Ästhetiker ver¬
suchten es trotzdem; wer freilich auf dem Boden der ästhetischen Prinzipien
Herbarts steht, der müsse folgerichtig zur gänzlichen Abtrennung des Tragischen
von der Weltanschauung kommen. Ich halte nun die Herbartische Ästhetik
-- wenigstens ihre Grundsätze, nicht alles, was daraus hergeleitet werden
oder darauf gebaut werden kann -- für richtig und für unentbehrlich, wenn
man die ästhetischen Gefühle als eine besondre Art von Gefühlen von den
andern unterscheiden will. Was ästhetisch angenehm wirkt, das sind gewisse
arithmetische Verhältnisse. Bekanntlich ist das zuerst bei der Musik heraus¬
gefunden worden von den Pythagoreern, und die neuere Physik hat diese
Erkenntnis durch die Berechnung der Schwingungszahlen exakt gemacht. Ob
die Schwingungszahlen des Lichtäthers schon aus ihre Beziehung zu Farben¬
harmonien hin untersucht worden sind, weiß ich nicht, jedenfalls aber beruht
auch die ästhetische Wirkung der Farben und der Farbenzusammenstellungen
auf arithmetischen Verhältnissen. Daß solche für die Schönheit einer geometrischen
Figur ausschlaggebend sind, bezweifelt kein Mensch, und dasselbe gilt natürlich
von der Schönheit aller Gestalten: der Kristalle, der Pflanzen, der Tiere, der
Menschen, der Bauwerke, der Gefäße und Geräte. Es kommt auf dasselbe
heraus, wenn Adolf Götter schreibt: "Das Gefühl des Schönen ist nichts
andres als das Gefühl aus einer hochgesteigerten und störungslos hin¬
strömenden Vorstellungstätigkeit." Wenn wir ein regelmüßiges Polygon mit
dem Blick umkreisen -- der Kreis ist ein Polygon mit unendlich vielen
Seiten --, so läuft unsre Vorstellungsreihe ungestört ab, weil die durch die
erste Seite und den ersten Winkel erregte Erwartung an keiner Ecke getäuscht
wird. Dagegen versetzt eine ganz unregelmäßige Figur unsrer Erwartung so
viel unangenehme Stöße, als sie Ecken hat. (Das Werk des verstorbnen
Professors der Architektur an der Technischen Hochschule in Stuttgart, Adolf
Götter: "Das ästhetische Gefühl, eine Erklärung der Schönheit und Zer¬
gliederung ihres Erfassens auf psychologischer Grundlage", hat sein Sohn in
der Königlichen Hofbuchdruckerei von Zeller und Schmidt 1905 herausgegeben.)
Die Schönheit einer Handlung besteht in ihrer Angemessenheit, in ihrem
richtigen Verhältnis zu den Umständen, die Schönheit eines Charakters in
seiner Harmonie, die nichts andres ist, als ein gewisses Verhältnis der Triebe,
Kräfte und Lebensäußerungen zueinander. Nun hat es zwar der Philosophie
Herbarts, die das ganze Seelenleben in eine Mechanik der Vorstellungen auf¬
löste, nahe gelegen, diese ganze Mechanik samt den Vorstellungsreihen, die
ästhetisch wirken, auf sich selbst zu stellen und vom Weltgrunde abzutrennen.
Aber notwendig ist das nicht; im Gegenteil! Wenn wir erkennen, daß alles,
was den beruhigenden und erfreuenden Eindruck der Schönheit auf uns macht,


Zur Ästhetik des Tragischen

frage, auszusprechen. Volkelt spricht davon, daß der Dichter eines tragischen
Epos, Dramas oder Romans darin seine Weltanschauung zugrunde lege oder
wenigstens verrate, und daß sich auch die Theorie des Tragischen von Welt-
und Lebensanschauung nicht gänzlich loslösen lasse; manche Ästhetiker ver¬
suchten es trotzdem; wer freilich auf dem Boden der ästhetischen Prinzipien
Herbarts steht, der müsse folgerichtig zur gänzlichen Abtrennung des Tragischen
von der Weltanschauung kommen. Ich halte nun die Herbartische Ästhetik
— wenigstens ihre Grundsätze, nicht alles, was daraus hergeleitet werden
oder darauf gebaut werden kann — für richtig und für unentbehrlich, wenn
man die ästhetischen Gefühle als eine besondre Art von Gefühlen von den
andern unterscheiden will. Was ästhetisch angenehm wirkt, das sind gewisse
arithmetische Verhältnisse. Bekanntlich ist das zuerst bei der Musik heraus¬
gefunden worden von den Pythagoreern, und die neuere Physik hat diese
Erkenntnis durch die Berechnung der Schwingungszahlen exakt gemacht. Ob
die Schwingungszahlen des Lichtäthers schon aus ihre Beziehung zu Farben¬
harmonien hin untersucht worden sind, weiß ich nicht, jedenfalls aber beruht
auch die ästhetische Wirkung der Farben und der Farbenzusammenstellungen
auf arithmetischen Verhältnissen. Daß solche für die Schönheit einer geometrischen
Figur ausschlaggebend sind, bezweifelt kein Mensch, und dasselbe gilt natürlich
von der Schönheit aller Gestalten: der Kristalle, der Pflanzen, der Tiere, der
Menschen, der Bauwerke, der Gefäße und Geräte. Es kommt auf dasselbe
heraus, wenn Adolf Götter schreibt: „Das Gefühl des Schönen ist nichts
andres als das Gefühl aus einer hochgesteigerten und störungslos hin¬
strömenden Vorstellungstätigkeit." Wenn wir ein regelmüßiges Polygon mit
dem Blick umkreisen — der Kreis ist ein Polygon mit unendlich vielen
Seiten —, so läuft unsre Vorstellungsreihe ungestört ab, weil die durch die
erste Seite und den ersten Winkel erregte Erwartung an keiner Ecke getäuscht
wird. Dagegen versetzt eine ganz unregelmäßige Figur unsrer Erwartung so
viel unangenehme Stöße, als sie Ecken hat. (Das Werk des verstorbnen
Professors der Architektur an der Technischen Hochschule in Stuttgart, Adolf
Götter: „Das ästhetische Gefühl, eine Erklärung der Schönheit und Zer¬
gliederung ihres Erfassens auf psychologischer Grundlage", hat sein Sohn in
der Königlichen Hofbuchdruckerei von Zeller und Schmidt 1905 herausgegeben.)
Die Schönheit einer Handlung besteht in ihrer Angemessenheit, in ihrem
richtigen Verhältnis zu den Umständen, die Schönheit eines Charakters in
seiner Harmonie, die nichts andres ist, als ein gewisses Verhältnis der Triebe,
Kräfte und Lebensäußerungen zueinander. Nun hat es zwar der Philosophie
Herbarts, die das ganze Seelenleben in eine Mechanik der Vorstellungen auf¬
löste, nahe gelegen, diese ganze Mechanik samt den Vorstellungsreihen, die
ästhetisch wirken, auf sich selbst zu stellen und vom Weltgrunde abzutrennen.
Aber notwendig ist das nicht; im Gegenteil! Wenn wir erkennen, daß alles,
was den beruhigenden und erfreuenden Eindruck der Schönheit auf uns macht,


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[0350] Zur Ästhetik des Tragischen frage, auszusprechen. Volkelt spricht davon, daß der Dichter eines tragischen Epos, Dramas oder Romans darin seine Weltanschauung zugrunde lege oder wenigstens verrate, und daß sich auch die Theorie des Tragischen von Welt- und Lebensanschauung nicht gänzlich loslösen lasse; manche Ästhetiker ver¬ suchten es trotzdem; wer freilich auf dem Boden der ästhetischen Prinzipien Herbarts steht, der müsse folgerichtig zur gänzlichen Abtrennung des Tragischen von der Weltanschauung kommen. Ich halte nun die Herbartische Ästhetik — wenigstens ihre Grundsätze, nicht alles, was daraus hergeleitet werden oder darauf gebaut werden kann — für richtig und für unentbehrlich, wenn man die ästhetischen Gefühle als eine besondre Art von Gefühlen von den andern unterscheiden will. Was ästhetisch angenehm wirkt, das sind gewisse arithmetische Verhältnisse. Bekanntlich ist das zuerst bei der Musik heraus¬ gefunden worden von den Pythagoreern, und die neuere Physik hat diese Erkenntnis durch die Berechnung der Schwingungszahlen exakt gemacht. Ob die Schwingungszahlen des Lichtäthers schon aus ihre Beziehung zu Farben¬ harmonien hin untersucht worden sind, weiß ich nicht, jedenfalls aber beruht auch die ästhetische Wirkung der Farben und der Farbenzusammenstellungen auf arithmetischen Verhältnissen. Daß solche für die Schönheit einer geometrischen Figur ausschlaggebend sind, bezweifelt kein Mensch, und dasselbe gilt natürlich von der Schönheit aller Gestalten: der Kristalle, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, der Bauwerke, der Gefäße und Geräte. Es kommt auf dasselbe heraus, wenn Adolf Götter schreibt: „Das Gefühl des Schönen ist nichts andres als das Gefühl aus einer hochgesteigerten und störungslos hin¬ strömenden Vorstellungstätigkeit." Wenn wir ein regelmüßiges Polygon mit dem Blick umkreisen — der Kreis ist ein Polygon mit unendlich vielen Seiten —, so läuft unsre Vorstellungsreihe ungestört ab, weil die durch die erste Seite und den ersten Winkel erregte Erwartung an keiner Ecke getäuscht wird. Dagegen versetzt eine ganz unregelmäßige Figur unsrer Erwartung so viel unangenehme Stöße, als sie Ecken hat. (Das Werk des verstorbnen Professors der Architektur an der Technischen Hochschule in Stuttgart, Adolf Götter: „Das ästhetische Gefühl, eine Erklärung der Schönheit und Zer¬ gliederung ihres Erfassens auf psychologischer Grundlage", hat sein Sohn in der Königlichen Hofbuchdruckerei von Zeller und Schmidt 1905 herausgegeben.) Die Schönheit einer Handlung besteht in ihrer Angemessenheit, in ihrem richtigen Verhältnis zu den Umständen, die Schönheit eines Charakters in seiner Harmonie, die nichts andres ist, als ein gewisses Verhältnis der Triebe, Kräfte und Lebensäußerungen zueinander. Nun hat es zwar der Philosophie Herbarts, die das ganze Seelenleben in eine Mechanik der Vorstellungen auf¬ löste, nahe gelegen, diese ganze Mechanik samt den Vorstellungsreihen, die ästhetisch wirken, auf sich selbst zu stellen und vom Weltgrunde abzutrennen. Aber notwendig ist das nicht; im Gegenteil! Wenn wir erkennen, daß alles, was den beruhigenden und erfreuenden Eindruck der Schönheit auf uns macht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/350>, abgerufen am 23.07.2024.