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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Zur Ästhetik des Tragischen

ausgeprägten Formen sich darin als gruppenbildend und zwar als eine möglichst
große Anzahl von Arten und Nebenarten in sich schließend entdecken lassen."
Die psychologische BeHandlungsweise ist um so dringender zu fordern, weil
kein ästhetischer Gegenstand die Seele näher angeht, tiefer ergreift und durch
die Annäherung an den Urgrund alles Seins höher erhebt als das Tragische.
Reicher und stärker als irgendeine andre Art des Ästhetischen offenbart das
Tragische das "Menschlich-Bedeutungsvolle", den bedeutenden, den wertvollen
Inhalt der Menschenseele und des Menschenlebens. "Das Tragische gestaltet
sich unter Aufgebot der tiefsten und innerlichsten Kräfte der menschlichen
Natur, unter Aufmühlung der ganzen Seele, unter Zutagetreten der großen
wie der gemeinen, der gesunden wie der kranken Seiten des Menschlichen,
unter Offenbarwerden dessen, was für den Sinn des menschlichen Daseins,
für Wert und Unwert menschlichen Strebens entscheidend ist. Vor allem sind
an der Entwicklung des Tragischen die schwersten und letzten Widersprüche
der menschlichen Natur beteiligt. So entläßt uns daher auch jede gute
Tragödie mit dem Eindruck: wir sind in dem Bewußtsein dessen, was es heiße,
ein Mensch zu sein, reifer geworden."

Soll sich im Tragischen das volle und reiche Menschenleben offenbaren,
so darf sein Begriff nicht zu eng gefaßt werden. Volkelt bekämpft deswegen
alle einschränkenden Bestimmungen, zum Beispiel daß der tragische Held sterben,
daß er seinen Untergang verschuldet haben müsse, wodurch eine Menge gute
Dramen von entschieden tragischen Charakter aus der Gattung Tragödie aus¬
geschlossen werden. Es ist darum auch nicht zu verwundern, daß er die be¬
kannte Definition des Aristoteles ungenügend, dürftig findet. "Vor allem
kommt die ganze Masse der zuständlich persönlichen Gefühle i)vie Beklemmung,
KontrastgefiW bei ihm nicht vor; die ganze Stufenleiter der niederdrückenden
und erhebenden Gefühle bleibt unbeachtet. Aber auch die teilnehmenden Ge¬
fühle sind nur sehr unvollständig berücksichtigt. Weder das tapfere Mit-Leiden
noch das Mitleidsgrcmscn lassen sich einfach unter den Begriff des Mitleids
bringen. Ebensowenig aber lassen sich die Gefühle des sittlichen Abscheus,
ohne künstlich zu werden, einfach als Furcht hinstellen. Ferner fehlt jedwede
Berücksichtigung der Gefühle der Anerkennung, der Bewunderung, des Zu¬
trauens, und endlich sind die tragischen Weltgefühle in keiner Weise erwähnt."
Weltgefühle nennt Volkelt die von der Tragödie erweckten Gefühle, sofern die
sann verbundn- Betrachtung bei dem Einzelfall nicht stehn bleibt. "Indem
die tragischen Gestalten und Entwicklungen an uns vorüberziehn, erscheint
uns das Weltgetriebe gemäß der Grundstimmung des Tragischen als etwas
Banges, Unruhe, Angst und Grausen Einflößendes, zugleich aber, insoweit er¬
hebende Augenblicke fühlbar werden, als ein Geschehen, das uns zu Vertrauen,
zu mutiger Zustimmung auffordert."

Was Volkelt dann weiter von der Aristotelischen Katharsis sagt, veranlaßt
mich, meine Ansicht über eine Grundfrage der Ästhetik, eigentlich die Grund-


Grenzboten III 1S06 ^
Zur Ästhetik des Tragischen

ausgeprägten Formen sich darin als gruppenbildend und zwar als eine möglichst
große Anzahl von Arten und Nebenarten in sich schließend entdecken lassen."
Die psychologische BeHandlungsweise ist um so dringender zu fordern, weil
kein ästhetischer Gegenstand die Seele näher angeht, tiefer ergreift und durch
die Annäherung an den Urgrund alles Seins höher erhebt als das Tragische.
Reicher und stärker als irgendeine andre Art des Ästhetischen offenbart das
Tragische das „Menschlich-Bedeutungsvolle", den bedeutenden, den wertvollen
Inhalt der Menschenseele und des Menschenlebens. „Das Tragische gestaltet
sich unter Aufgebot der tiefsten und innerlichsten Kräfte der menschlichen
Natur, unter Aufmühlung der ganzen Seele, unter Zutagetreten der großen
wie der gemeinen, der gesunden wie der kranken Seiten des Menschlichen,
unter Offenbarwerden dessen, was für den Sinn des menschlichen Daseins,
für Wert und Unwert menschlichen Strebens entscheidend ist. Vor allem sind
an der Entwicklung des Tragischen die schwersten und letzten Widersprüche
der menschlichen Natur beteiligt. So entläßt uns daher auch jede gute
Tragödie mit dem Eindruck: wir sind in dem Bewußtsein dessen, was es heiße,
ein Mensch zu sein, reifer geworden."

Soll sich im Tragischen das volle und reiche Menschenleben offenbaren,
so darf sein Begriff nicht zu eng gefaßt werden. Volkelt bekämpft deswegen
alle einschränkenden Bestimmungen, zum Beispiel daß der tragische Held sterben,
daß er seinen Untergang verschuldet haben müsse, wodurch eine Menge gute
Dramen von entschieden tragischen Charakter aus der Gattung Tragödie aus¬
geschlossen werden. Es ist darum auch nicht zu verwundern, daß er die be¬
kannte Definition des Aristoteles ungenügend, dürftig findet. „Vor allem
kommt die ganze Masse der zuständlich persönlichen Gefühle i)vie Beklemmung,
KontrastgefiW bei ihm nicht vor; die ganze Stufenleiter der niederdrückenden
und erhebenden Gefühle bleibt unbeachtet. Aber auch die teilnehmenden Ge¬
fühle sind nur sehr unvollständig berücksichtigt. Weder das tapfere Mit-Leiden
noch das Mitleidsgrcmscn lassen sich einfach unter den Begriff des Mitleids
bringen. Ebensowenig aber lassen sich die Gefühle des sittlichen Abscheus,
ohne künstlich zu werden, einfach als Furcht hinstellen. Ferner fehlt jedwede
Berücksichtigung der Gefühle der Anerkennung, der Bewunderung, des Zu¬
trauens, und endlich sind die tragischen Weltgefühle in keiner Weise erwähnt."
Weltgefühle nennt Volkelt die von der Tragödie erweckten Gefühle, sofern die
sann verbundn- Betrachtung bei dem Einzelfall nicht stehn bleibt. „Indem
die tragischen Gestalten und Entwicklungen an uns vorüberziehn, erscheint
uns das Weltgetriebe gemäß der Grundstimmung des Tragischen als etwas
Banges, Unruhe, Angst und Grausen Einflößendes, zugleich aber, insoweit er¬
hebende Augenblicke fühlbar werden, als ein Geschehen, das uns zu Vertrauen,
zu mutiger Zustimmung auffordert."

Was Volkelt dann weiter von der Aristotelischen Katharsis sagt, veranlaßt
mich, meine Ansicht über eine Grundfrage der Ästhetik, eigentlich die Grund-


Grenzboten III 1S06 ^
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[0349] Zur Ästhetik des Tragischen ausgeprägten Formen sich darin als gruppenbildend und zwar als eine möglichst große Anzahl von Arten und Nebenarten in sich schließend entdecken lassen." Die psychologische BeHandlungsweise ist um so dringender zu fordern, weil kein ästhetischer Gegenstand die Seele näher angeht, tiefer ergreift und durch die Annäherung an den Urgrund alles Seins höher erhebt als das Tragische. Reicher und stärker als irgendeine andre Art des Ästhetischen offenbart das Tragische das „Menschlich-Bedeutungsvolle", den bedeutenden, den wertvollen Inhalt der Menschenseele und des Menschenlebens. „Das Tragische gestaltet sich unter Aufgebot der tiefsten und innerlichsten Kräfte der menschlichen Natur, unter Aufmühlung der ganzen Seele, unter Zutagetreten der großen wie der gemeinen, der gesunden wie der kranken Seiten des Menschlichen, unter Offenbarwerden dessen, was für den Sinn des menschlichen Daseins, für Wert und Unwert menschlichen Strebens entscheidend ist. Vor allem sind an der Entwicklung des Tragischen die schwersten und letzten Widersprüche der menschlichen Natur beteiligt. So entläßt uns daher auch jede gute Tragödie mit dem Eindruck: wir sind in dem Bewußtsein dessen, was es heiße, ein Mensch zu sein, reifer geworden." Soll sich im Tragischen das volle und reiche Menschenleben offenbaren, so darf sein Begriff nicht zu eng gefaßt werden. Volkelt bekämpft deswegen alle einschränkenden Bestimmungen, zum Beispiel daß der tragische Held sterben, daß er seinen Untergang verschuldet haben müsse, wodurch eine Menge gute Dramen von entschieden tragischen Charakter aus der Gattung Tragödie aus¬ geschlossen werden. Es ist darum auch nicht zu verwundern, daß er die be¬ kannte Definition des Aristoteles ungenügend, dürftig findet. „Vor allem kommt die ganze Masse der zuständlich persönlichen Gefühle i)vie Beklemmung, KontrastgefiW bei ihm nicht vor; die ganze Stufenleiter der niederdrückenden und erhebenden Gefühle bleibt unbeachtet. Aber auch die teilnehmenden Ge¬ fühle sind nur sehr unvollständig berücksichtigt. Weder das tapfere Mit-Leiden noch das Mitleidsgrcmscn lassen sich einfach unter den Begriff des Mitleids bringen. Ebensowenig aber lassen sich die Gefühle des sittlichen Abscheus, ohne künstlich zu werden, einfach als Furcht hinstellen. Ferner fehlt jedwede Berücksichtigung der Gefühle der Anerkennung, der Bewunderung, des Zu¬ trauens, und endlich sind die tragischen Weltgefühle in keiner Weise erwähnt." Weltgefühle nennt Volkelt die von der Tragödie erweckten Gefühle, sofern die sann verbundn- Betrachtung bei dem Einzelfall nicht stehn bleibt. „Indem die tragischen Gestalten und Entwicklungen an uns vorüberziehn, erscheint uns das Weltgetriebe gemäß der Grundstimmung des Tragischen als etwas Banges, Unruhe, Angst und Grausen Einflößendes, zugleich aber, insoweit er¬ hebende Augenblicke fühlbar werden, als ein Geschehen, das uns zu Vertrauen, zu mutiger Zustimmung auffordert." Was Volkelt dann weiter von der Aristotelischen Katharsis sagt, veranlaßt mich, meine Ansicht über eine Grundfrage der Ästhetik, eigentlich die Grund- Grenzboten III 1S06 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/349>, abgerufen am 23.07.2024.