Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Von um so größerer Wichtigkeit wird für uns das Gebiet der Polenpolitik. Die Enthüllungen über die tief bedauerlichen Mißstände in der Kolonialverwaltung Grenzboten III 1906 43
Maßgebliches und Unmaßgebliches Von um so größerer Wichtigkeit wird für uns das Gebiet der Polenpolitik. Die Enthüllungen über die tief bedauerlichen Mißstände in der Kolonialverwaltung Grenzboten III 1906 43
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0337" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300124"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1224"> Von um so größerer Wichtigkeit wird für uns das Gebiet der Polenpolitik.<lb/> Ein verfassungsmäßig regiertes Rußland wird im Schoße seiner Vertretung eine<lb/> starke polnische „Intelligenz" haben, die sehr bald auf den „polnischen Landtag" in<lb/> Warschau als Zukunftsbild eines polnischen „Reichstages" hinarbeiten wird. Es<lb/> ist keineswegs ausgeschlossen, daß die russischen Polen, wenn auch zunächst nicht einen<lb/> autonomen Landtag, so doch einen entwicklungsfähigen Provinzicillandtag erreichen^<lb/> je nachdem der nationalrussische Gedanke künftig bei der Regierung und der Volks¬<lb/> vertretung Rußlands stärker oder schwächer sein wird. An Persönlichkeiten, die zu<lb/> weitgehenden Konzessionen an die Polen bereit waren, hat es in der obersten Sphäre<lb/> Rußlands nie gefehlt, die Polen selbst haben durch törichte Überspannung ihrer<lb/> Ziele das Erreichbare verscherzt. Immerhin werden wir uns damit vertraut zu<lb/> machen haben, daß in einer der vielen Phasen, die die Wiedergeburt Rußlands<lb/> voraussichtlich noch zu durchlaufen hat, die national-polnische Frage stärker in den<lb/> Vordergrund treten wird. Bei dem außerordentlich expansiven Charakter, den die<lb/> polnische Bewegung bei uns angenommen hat, und der nicht nur im Wachstum der<lb/> Zahl der polnischen Bevölkerung, sondern auch im Wachstum ihres Wohlstandes<lb/> und in ihrer örtlichen Verbreitung zum Ausdruck gelangt, wäre unvermeidlich damit<lb/> zu rechnen, daß eine starke national-polnische Bewegung in Russisch-Polen, nicht eine<lb/> sozialrevolutionäre, bei unsern Polen ein lebhaftes Echo wecken würde. Der Effekt<lb/> wird davon abhängen, wie in Galizien die Drähte gezogen werden, für die national¬<lb/> polnische Bewegung sind die Lemberger Jesuiten und ihre reichen Mittel ja wesentlich<lb/> entscheidend. Leider haben wir unsre polnische Bevölkerung durch den unaufhör¬<lb/> lichen Zuzug aus Russisch-Polen und Galizien verstärkt, dessen die Landwirtschaft<lb/> in Posen, Westpreußen und Oberschlesien nicht entraten zu können glaubt. All¬<lb/> mählich ist daraus die starke Abwanderung nach Westen entstanden, weil die west¬<lb/> liche Industrie die polnischen Arbeiter lange Jahre hindurch als einen Jungbrunnen<lb/> gegenüber der Sozialdemokratie begrüßte. Heute ist das schon wesentlich anders<lb/> geworden. Die Abwanderung nach dem Westen hat nicht etwa eine Verminderung<lb/> des polnischen Zuwachses in Posen, Westpreußen und Schlesien zur Folge gehabt.<lb/> Im Gegenteil, er geht unaufhaltsam weiter, hat auch in den mittlern Provinzen<lb/> Preußens mit starken Gruppen festen Fuß gefaßt und steht im Begriff, nachdem er<lb/> mit Erfolg begonnen hat, Oberschlesien durch den Stimmzettel zu erobern, sich über<lb/> ganz Schlesien zu ergießen. Die Ersatzwahl in Kattowitz-Zabrze mit den für den<lb/> Nationalpolen Napieralski abgegebnen 26000 Stimmen, diese Eroberung eines alten<lb/> Zentrumswahlkreises durch die polnische Agitation und die im „Katolik" von einem<lb/> Geistlichen ergangne Ankündigung, daß „das nationale Empfinden" des oberschlesischen<lb/> Volkes endlich zum siegreichen Durchbruch komme und die Waffen weder vor der<lb/> Geistlichkeit noch vor dem Bischof strecken werde, zeigen deutlich, daß die polnische<lb/> Agitation zu einer Gefahr angewachsen ist, gegen die die bisherigen Mittelchen<lb/> nichts mehr helfen. In Oberschlesien hat es vor dreißig oder vierzig Jahren Polen<lb/> nur in einer kaum nennenswerten Anzahl gegeben. Gewiß sind unter normalen Ver¬<lb/> hältnissen die 3V-- Millionen polnischer Preußen keine Gefahr für den Staat, aber<lb/> sowohl bei ernsten innern Gäruugen wie bei internationalen Verwicklungen würden<lb/> sie in ihren Reihen eine nicht unbedenkliche Masse schwieriger, wenn nicht feindlicher<lb/> Elemente bergen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1225" next="#ID_1226"> Die Enthüllungen über die tief bedauerlichen Mißstände in der Kolonialverwaltung<lb/> haben dazu geführt, daß die Erkenntnis der Notwendigkeit, der völlig unsachgemäßen<lb/> Organisation der obersten Kolonialbehörde ein Ende zu machen und ihr eine ihrem<lb/> Geschäftskreise wie ihrer Verantwortlichkeit entsprechende Form zu geben, nachgerade<lb/> ziemlich allgemein geworden ist. Sogar der Vorwärts muß sich aus seinem eignen</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1906 43</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0337]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Von um so größerer Wichtigkeit wird für uns das Gebiet der Polenpolitik.
Ein verfassungsmäßig regiertes Rußland wird im Schoße seiner Vertretung eine
starke polnische „Intelligenz" haben, die sehr bald auf den „polnischen Landtag" in
Warschau als Zukunftsbild eines polnischen „Reichstages" hinarbeiten wird. Es
ist keineswegs ausgeschlossen, daß die russischen Polen, wenn auch zunächst nicht einen
autonomen Landtag, so doch einen entwicklungsfähigen Provinzicillandtag erreichen^
je nachdem der nationalrussische Gedanke künftig bei der Regierung und der Volks¬
vertretung Rußlands stärker oder schwächer sein wird. An Persönlichkeiten, die zu
weitgehenden Konzessionen an die Polen bereit waren, hat es in der obersten Sphäre
Rußlands nie gefehlt, die Polen selbst haben durch törichte Überspannung ihrer
Ziele das Erreichbare verscherzt. Immerhin werden wir uns damit vertraut zu
machen haben, daß in einer der vielen Phasen, die die Wiedergeburt Rußlands
voraussichtlich noch zu durchlaufen hat, die national-polnische Frage stärker in den
Vordergrund treten wird. Bei dem außerordentlich expansiven Charakter, den die
polnische Bewegung bei uns angenommen hat, und der nicht nur im Wachstum der
Zahl der polnischen Bevölkerung, sondern auch im Wachstum ihres Wohlstandes
und in ihrer örtlichen Verbreitung zum Ausdruck gelangt, wäre unvermeidlich damit
zu rechnen, daß eine starke national-polnische Bewegung in Russisch-Polen, nicht eine
sozialrevolutionäre, bei unsern Polen ein lebhaftes Echo wecken würde. Der Effekt
wird davon abhängen, wie in Galizien die Drähte gezogen werden, für die national¬
polnische Bewegung sind die Lemberger Jesuiten und ihre reichen Mittel ja wesentlich
entscheidend. Leider haben wir unsre polnische Bevölkerung durch den unaufhör¬
lichen Zuzug aus Russisch-Polen und Galizien verstärkt, dessen die Landwirtschaft
in Posen, Westpreußen und Oberschlesien nicht entraten zu können glaubt. All¬
mählich ist daraus die starke Abwanderung nach Westen entstanden, weil die west¬
liche Industrie die polnischen Arbeiter lange Jahre hindurch als einen Jungbrunnen
gegenüber der Sozialdemokratie begrüßte. Heute ist das schon wesentlich anders
geworden. Die Abwanderung nach dem Westen hat nicht etwa eine Verminderung
des polnischen Zuwachses in Posen, Westpreußen und Schlesien zur Folge gehabt.
Im Gegenteil, er geht unaufhaltsam weiter, hat auch in den mittlern Provinzen
Preußens mit starken Gruppen festen Fuß gefaßt und steht im Begriff, nachdem er
mit Erfolg begonnen hat, Oberschlesien durch den Stimmzettel zu erobern, sich über
ganz Schlesien zu ergießen. Die Ersatzwahl in Kattowitz-Zabrze mit den für den
Nationalpolen Napieralski abgegebnen 26000 Stimmen, diese Eroberung eines alten
Zentrumswahlkreises durch die polnische Agitation und die im „Katolik" von einem
Geistlichen ergangne Ankündigung, daß „das nationale Empfinden" des oberschlesischen
Volkes endlich zum siegreichen Durchbruch komme und die Waffen weder vor der
Geistlichkeit noch vor dem Bischof strecken werde, zeigen deutlich, daß die polnische
Agitation zu einer Gefahr angewachsen ist, gegen die die bisherigen Mittelchen
nichts mehr helfen. In Oberschlesien hat es vor dreißig oder vierzig Jahren Polen
nur in einer kaum nennenswerten Anzahl gegeben. Gewiß sind unter normalen Ver¬
hältnissen die 3V-- Millionen polnischer Preußen keine Gefahr für den Staat, aber
sowohl bei ernsten innern Gäruugen wie bei internationalen Verwicklungen würden
sie in ihren Reihen eine nicht unbedenkliche Masse schwieriger, wenn nicht feindlicher
Elemente bergen.
Die Enthüllungen über die tief bedauerlichen Mißstände in der Kolonialverwaltung
haben dazu geführt, daß die Erkenntnis der Notwendigkeit, der völlig unsachgemäßen
Organisation der obersten Kolonialbehörde ein Ende zu machen und ihr eine ihrem
Geschäftskreise wie ihrer Verantwortlichkeit entsprechende Form zu geben, nachgerade
ziemlich allgemein geworden ist. Sogar der Vorwärts muß sich aus seinem eignen
Grenzboten III 1906 43
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