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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die Entwicklung der Luftschiffahrt

so füllten die Montgolsiers ihre Ballons, die sie immer mehr vergrößerten,
wieder mit Wasserdampf.

Am 4. Juni 1783 stieg eine aus Leinwand und Papier gefertigte "Mont-
golfiere" von dreizehn Metern Durchmesser bei Annonay, der Heimatstadt der Er¬
finder, zu bedeutender Höhe empor und machte in zehn Minuten eine Luftreise
von sechs Kilometern. Dieses noch nicht dagewesene Ereignis erregte solches Auf¬
sehen, daß sich sogar die Pariser Akademie damit beschäftigte. Ehe jedoch die
von ihr eingesetzte Kommission ihre Prüfung beendet hatte, bildete sich schon
ein Komitee von Privatleuten, eine bedeutende Geldsumme wurde zusammen¬
gebracht, und man beauftragte den berühmten Physiker Charles mit dem Bau
eines Ballons.

Bis auf die Füllung ging alles ganz glatt, doch darüber machten die
Montgolsiers keine Angaben. Infolgedessen blieb nichts andres übrig, als unter
großen Schwierigkeiten und Kosten eine bis dahin unerhörte Menge von Wasser¬
stoffgas herzustellen. Nach fünftägiger Mühe verlief aber dafür auch der Auf¬
stieg der "Charliere" glänzend.

Der Unterschied zwischen "Montgolfieren" (Füllung mit erwärmter Luft
oder Wafserdampffüllung) und "Charlieren" (Wasserstoffgasfüllung) blieb für
die Folge bestehn. Beide hatten sich als brauchbar erwiesen, und nun wollte
man ihre Auftriebskraft benutzen, den Menschen in die Lüfte emporzutragen.
Doch wer sollte sein Leben einem so unsichern, wenig erprobten Gefährt anver¬
trauen? Auch den Tollkühnsten fehlte dazu noch der Mut. So mußten denn
zunächst ein Schaf, ein Huhn und eine Ente als Versuchsobjekte dienen. Als
die ersten Lebewesen entführte sie der Ballon unter dem Jubel der Zuschauer und
landete sie auch glücklich. Nun wollten Marquis d'Urlande und Pilätre de
Rösler einen Aufstieg unternehmen, doch da erklärte König Ludwig der Sech¬
zehnte dieses wegen der großen Lebensgefahr für die beiden Herren nicht er¬
lauben zu können. Es bedürfte der Fürsprache der einflußreichsten Persönlich¬
keiten, bis endlich der König seine Zustimmung gab.

Am 21. Oktober 1783 war natürlich halb Paris auf den Beinen, um die
erste Luftfahrt von Menschen mit anzusehen. Der Aufstieg und noch mehr die
glückliche Landung der kühnen Luftschiffer versetzte alle in einen Taumel des Ent¬
zückens, nur einer sah die Sache mit nüchternen, klaren Augen an: das war der
berühmte Benjamin Franklin. Als man seine Ansicht über dieses weltbedeutende
Ereignis hören wollte, sagte er nur: "Der Ballon ist ein neugebornes Kind."

Diese Antwort mag manchem nicht gefallen haben, der voller Begeisterung
sich selbst schon als Aeronauten sah; denn daß die neue Erfindung binnen
kurzem zur Vollkommenheit gebracht werden würde, daran zweifelten wohl die
wenigsten. Sicherlich aber ahnte es niemand, daß dieses "neugeborne Kind"
mehr als hundert Jahre auf seiner ersten Entwicklungsstufe so ziemlich stehn
bleiben würde. Denn während der nächsten Jahrzehnte wurden Ballonaufstiege
und -fahrten mehr und mehr in das Programm der Volksbelustigungen auf-


Die Entwicklung der Luftschiffahrt

so füllten die Montgolsiers ihre Ballons, die sie immer mehr vergrößerten,
wieder mit Wasserdampf.

Am 4. Juni 1783 stieg eine aus Leinwand und Papier gefertigte „Mont-
golfiere" von dreizehn Metern Durchmesser bei Annonay, der Heimatstadt der Er¬
finder, zu bedeutender Höhe empor und machte in zehn Minuten eine Luftreise
von sechs Kilometern. Dieses noch nicht dagewesene Ereignis erregte solches Auf¬
sehen, daß sich sogar die Pariser Akademie damit beschäftigte. Ehe jedoch die
von ihr eingesetzte Kommission ihre Prüfung beendet hatte, bildete sich schon
ein Komitee von Privatleuten, eine bedeutende Geldsumme wurde zusammen¬
gebracht, und man beauftragte den berühmten Physiker Charles mit dem Bau
eines Ballons.

Bis auf die Füllung ging alles ganz glatt, doch darüber machten die
Montgolsiers keine Angaben. Infolgedessen blieb nichts andres übrig, als unter
großen Schwierigkeiten und Kosten eine bis dahin unerhörte Menge von Wasser¬
stoffgas herzustellen. Nach fünftägiger Mühe verlief aber dafür auch der Auf¬
stieg der „Charliere" glänzend.

Der Unterschied zwischen „Montgolfieren" (Füllung mit erwärmter Luft
oder Wafserdampffüllung) und „Charlieren" (Wasserstoffgasfüllung) blieb für
die Folge bestehn. Beide hatten sich als brauchbar erwiesen, und nun wollte
man ihre Auftriebskraft benutzen, den Menschen in die Lüfte emporzutragen.
Doch wer sollte sein Leben einem so unsichern, wenig erprobten Gefährt anver¬
trauen? Auch den Tollkühnsten fehlte dazu noch der Mut. So mußten denn
zunächst ein Schaf, ein Huhn und eine Ente als Versuchsobjekte dienen. Als
die ersten Lebewesen entführte sie der Ballon unter dem Jubel der Zuschauer und
landete sie auch glücklich. Nun wollten Marquis d'Urlande und Pilätre de
Rösler einen Aufstieg unternehmen, doch da erklärte König Ludwig der Sech¬
zehnte dieses wegen der großen Lebensgefahr für die beiden Herren nicht er¬
lauben zu können. Es bedürfte der Fürsprache der einflußreichsten Persönlich¬
keiten, bis endlich der König seine Zustimmung gab.

Am 21. Oktober 1783 war natürlich halb Paris auf den Beinen, um die
erste Luftfahrt von Menschen mit anzusehen. Der Aufstieg und noch mehr die
glückliche Landung der kühnen Luftschiffer versetzte alle in einen Taumel des Ent¬
zückens, nur einer sah die Sache mit nüchternen, klaren Augen an: das war der
berühmte Benjamin Franklin. Als man seine Ansicht über dieses weltbedeutende
Ereignis hören wollte, sagte er nur: „Der Ballon ist ein neugebornes Kind."

Diese Antwort mag manchem nicht gefallen haben, der voller Begeisterung
sich selbst schon als Aeronauten sah; denn daß die neue Erfindung binnen
kurzem zur Vollkommenheit gebracht werden würde, daran zweifelten wohl die
wenigsten. Sicherlich aber ahnte es niemand, daß dieses „neugeborne Kind"
mehr als hundert Jahre auf seiner ersten Entwicklungsstufe so ziemlich stehn
bleiben würde. Denn während der nächsten Jahrzehnte wurden Ballonaufstiege
und -fahrten mehr und mehr in das Programm der Volksbelustigungen auf-


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[0320] Die Entwicklung der Luftschiffahrt so füllten die Montgolsiers ihre Ballons, die sie immer mehr vergrößerten, wieder mit Wasserdampf. Am 4. Juni 1783 stieg eine aus Leinwand und Papier gefertigte „Mont- golfiere" von dreizehn Metern Durchmesser bei Annonay, der Heimatstadt der Er¬ finder, zu bedeutender Höhe empor und machte in zehn Minuten eine Luftreise von sechs Kilometern. Dieses noch nicht dagewesene Ereignis erregte solches Auf¬ sehen, daß sich sogar die Pariser Akademie damit beschäftigte. Ehe jedoch die von ihr eingesetzte Kommission ihre Prüfung beendet hatte, bildete sich schon ein Komitee von Privatleuten, eine bedeutende Geldsumme wurde zusammen¬ gebracht, und man beauftragte den berühmten Physiker Charles mit dem Bau eines Ballons. Bis auf die Füllung ging alles ganz glatt, doch darüber machten die Montgolsiers keine Angaben. Infolgedessen blieb nichts andres übrig, als unter großen Schwierigkeiten und Kosten eine bis dahin unerhörte Menge von Wasser¬ stoffgas herzustellen. Nach fünftägiger Mühe verlief aber dafür auch der Auf¬ stieg der „Charliere" glänzend. Der Unterschied zwischen „Montgolfieren" (Füllung mit erwärmter Luft oder Wafserdampffüllung) und „Charlieren" (Wasserstoffgasfüllung) blieb für die Folge bestehn. Beide hatten sich als brauchbar erwiesen, und nun wollte man ihre Auftriebskraft benutzen, den Menschen in die Lüfte emporzutragen. Doch wer sollte sein Leben einem so unsichern, wenig erprobten Gefährt anver¬ trauen? Auch den Tollkühnsten fehlte dazu noch der Mut. So mußten denn zunächst ein Schaf, ein Huhn und eine Ente als Versuchsobjekte dienen. Als die ersten Lebewesen entführte sie der Ballon unter dem Jubel der Zuschauer und landete sie auch glücklich. Nun wollten Marquis d'Urlande und Pilätre de Rösler einen Aufstieg unternehmen, doch da erklärte König Ludwig der Sech¬ zehnte dieses wegen der großen Lebensgefahr für die beiden Herren nicht er¬ lauben zu können. Es bedürfte der Fürsprache der einflußreichsten Persönlich¬ keiten, bis endlich der König seine Zustimmung gab. Am 21. Oktober 1783 war natürlich halb Paris auf den Beinen, um die erste Luftfahrt von Menschen mit anzusehen. Der Aufstieg und noch mehr die glückliche Landung der kühnen Luftschiffer versetzte alle in einen Taumel des Ent¬ zückens, nur einer sah die Sache mit nüchternen, klaren Augen an: das war der berühmte Benjamin Franklin. Als man seine Ansicht über dieses weltbedeutende Ereignis hören wollte, sagte er nur: „Der Ballon ist ein neugebornes Kind." Diese Antwort mag manchem nicht gefallen haben, der voller Begeisterung sich selbst schon als Aeronauten sah; denn daß die neue Erfindung binnen kurzem zur Vollkommenheit gebracht werden würde, daran zweifelten wohl die wenigsten. Sicherlich aber ahnte es niemand, daß dieses „neugeborne Kind" mehr als hundert Jahre auf seiner ersten Entwicklungsstufe so ziemlich stehn bleiben würde. Denn während der nächsten Jahrzehnte wurden Ballonaufstiege und -fahrten mehr und mehr in das Programm der Volksbelustigungen auf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/320>, abgerufen am 27.12.2024.