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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Allerlei aus einem Strafrechtskommentar der guten alten Zeit

Wenn wir nun, wie der Verfasser seine geneigten Leser bittet, "mit heiterm
Angesicht" den Traktat, der vom Verfahren und den Strafen handelt, wie den
"änderten" von den "Ubelthaten" durchblättern, so kann es sich bei dieser
Plauderei nicht darum handeln, den ganzen Stoff in systematischer Vollständig¬
keit auszugsweise wiederzugeben. Nur das eine und das andre, was dem
heutigen Juristen kulturhistorisch bemerkenswert erscheint und ohne Verletzung des
Empfindens zahlreicher Leser an dieser Stelle wiedergegeben werden kann, mag
hier hervorgehoben werden.

Schon in der alten Zeit henkten die Nürnberger keinen, sie hatten ihn
denn, und schon damals war es, wie Fröhlich erklärt, "die erste Sorg der
Delinquenten nach verübter Missetat, wie selbe dem Gericht entgehen", und
"ihr bester Rat" bestand in der Flucht. Mit Rücksicht hierauf kannte man
neben dem auf die regelmäßige Verhandlung und die Aburteilung eines An¬
wesenden gerichteten Jnquisitionsprozeß den "Bann- und Achtsprozeß" gegen
den sich ein Jahr lang nach begangner Tat in unbekannter Abwesenheit auf¬
haltenden. Durch dieses Verhalten wurde in Verbindung mit den den Be¬
schuldigten betastenden Umständen eine rechtliche Vermutung seiner Schuld be¬
gründet. Das Urteil lautet auf Erklärung in Acht und Bann mit dem Zu¬
sätze, daß auf Betreten des Verurteilten geschehen solle, was Rechtens sei. Als
Wirkung dieses Urteils wird u. a, angegeben, daß dem Verurteilten, auch wenn
er in einem nachfolgenden Jnquisitionsprozesse freigesprochen werden sollte, die
Kosten des Bann- und Achtsprozesses zur Last bleiben. Dagegen wird aus¬
drücklich abgelehnt, daß der Verurteilte vogelfrei, sein Weib zur Witib, die
Kinder zu Waisen gemacht werden, die Tötung des Geächteten straffrei sei,
wenn dies auch in den Füllen zweifelhaft werde, wo nicht in Landes-, sondern
in des heiligen römischen Reichs Acht erklärt worden sei. Wohl zu unter¬
scheiden sei auch der Fall, daß durch ein auf freie und offne Verfolgung an
Leib und Hab lautendes Edikt gewisse Personen vogelfrei gemacht würden, wie
"jüngstlich die Zügeiner als offene Land-Dieb präskribiret" worden seien. Wohl
aber ist jeder verpflichtet, den Geächteten so schleunig wie möglich an das
Gericht auszuliefern, sein schon zur Zeit der Flucht, des Beginns des Ver¬
fahrens beschlagnahmtes Vermögen wird öffentlich liquidiert, und in dem sich
etwa späterhin anschließenden Jnquisitionsprozesse kann die Tatsache der Acht-
und Bannerklürung nach Urteil und Recht die zur Verhängung der Tortur
unzulänglichen Indizien ergänzen helfen.

Übrigens wird, wie heute im Privatklageverfahren, neben dem von Amts
wegen betriebnen Jnquisitionsprozeß noch, und zwar auch dem Gegenstande
nach weit allgemeiner als heute, die Popularklage im Akkusationsprozeß zu¬
gelassen und von Fröhlich der Vollständigkeit wegen mit behandelt. Es er¬
scheint aber schon als ein vielen "Beschwärnussen" uuterworfnes, mehr und
mehr hinter das Offizialverfahren zurücktretendes Verfahren. "Der ist kein ge¬
scheiter Advokatus, der seinem Klienten einen Anklags-Prozeß anzustellen ein-


Allerlei aus einem Strafrechtskommentar der guten alten Zeit

Wenn wir nun, wie der Verfasser seine geneigten Leser bittet, „mit heiterm
Angesicht" den Traktat, der vom Verfahren und den Strafen handelt, wie den
„änderten" von den „Ubelthaten" durchblättern, so kann es sich bei dieser
Plauderei nicht darum handeln, den ganzen Stoff in systematischer Vollständig¬
keit auszugsweise wiederzugeben. Nur das eine und das andre, was dem
heutigen Juristen kulturhistorisch bemerkenswert erscheint und ohne Verletzung des
Empfindens zahlreicher Leser an dieser Stelle wiedergegeben werden kann, mag
hier hervorgehoben werden.

Schon in der alten Zeit henkten die Nürnberger keinen, sie hatten ihn
denn, und schon damals war es, wie Fröhlich erklärt, „die erste Sorg der
Delinquenten nach verübter Missetat, wie selbe dem Gericht entgehen", und
„ihr bester Rat" bestand in der Flucht. Mit Rücksicht hierauf kannte man
neben dem auf die regelmäßige Verhandlung und die Aburteilung eines An¬
wesenden gerichteten Jnquisitionsprozeß den „Bann- und Achtsprozeß" gegen
den sich ein Jahr lang nach begangner Tat in unbekannter Abwesenheit auf¬
haltenden. Durch dieses Verhalten wurde in Verbindung mit den den Be¬
schuldigten betastenden Umständen eine rechtliche Vermutung seiner Schuld be¬
gründet. Das Urteil lautet auf Erklärung in Acht und Bann mit dem Zu¬
sätze, daß auf Betreten des Verurteilten geschehen solle, was Rechtens sei. Als
Wirkung dieses Urteils wird u. a, angegeben, daß dem Verurteilten, auch wenn
er in einem nachfolgenden Jnquisitionsprozesse freigesprochen werden sollte, die
Kosten des Bann- und Achtsprozesses zur Last bleiben. Dagegen wird aus¬
drücklich abgelehnt, daß der Verurteilte vogelfrei, sein Weib zur Witib, die
Kinder zu Waisen gemacht werden, die Tötung des Geächteten straffrei sei,
wenn dies auch in den Füllen zweifelhaft werde, wo nicht in Landes-, sondern
in des heiligen römischen Reichs Acht erklärt worden sei. Wohl zu unter¬
scheiden sei auch der Fall, daß durch ein auf freie und offne Verfolgung an
Leib und Hab lautendes Edikt gewisse Personen vogelfrei gemacht würden, wie
„jüngstlich die Zügeiner als offene Land-Dieb präskribiret" worden seien. Wohl
aber ist jeder verpflichtet, den Geächteten so schleunig wie möglich an das
Gericht auszuliefern, sein schon zur Zeit der Flucht, des Beginns des Ver¬
fahrens beschlagnahmtes Vermögen wird öffentlich liquidiert, und in dem sich
etwa späterhin anschließenden Jnquisitionsprozesse kann die Tatsache der Acht-
und Bannerklürung nach Urteil und Recht die zur Verhängung der Tortur
unzulänglichen Indizien ergänzen helfen.

Übrigens wird, wie heute im Privatklageverfahren, neben dem von Amts
wegen betriebnen Jnquisitionsprozeß noch, und zwar auch dem Gegenstande
nach weit allgemeiner als heute, die Popularklage im Akkusationsprozeß zu¬
gelassen und von Fröhlich der Vollständigkeit wegen mit behandelt. Es er¬
scheint aber schon als ein vielen „Beschwärnussen" uuterworfnes, mehr und
mehr hinter das Offizialverfahren zurücktretendes Verfahren. „Der ist kein ge¬
scheiter Advokatus, der seinem Klienten einen Anklags-Prozeß anzustellen ein-


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[0310] Allerlei aus einem Strafrechtskommentar der guten alten Zeit Wenn wir nun, wie der Verfasser seine geneigten Leser bittet, „mit heiterm Angesicht" den Traktat, der vom Verfahren und den Strafen handelt, wie den „änderten" von den „Ubelthaten" durchblättern, so kann es sich bei dieser Plauderei nicht darum handeln, den ganzen Stoff in systematischer Vollständig¬ keit auszugsweise wiederzugeben. Nur das eine und das andre, was dem heutigen Juristen kulturhistorisch bemerkenswert erscheint und ohne Verletzung des Empfindens zahlreicher Leser an dieser Stelle wiedergegeben werden kann, mag hier hervorgehoben werden. Schon in der alten Zeit henkten die Nürnberger keinen, sie hatten ihn denn, und schon damals war es, wie Fröhlich erklärt, „die erste Sorg der Delinquenten nach verübter Missetat, wie selbe dem Gericht entgehen", und „ihr bester Rat" bestand in der Flucht. Mit Rücksicht hierauf kannte man neben dem auf die regelmäßige Verhandlung und die Aburteilung eines An¬ wesenden gerichteten Jnquisitionsprozeß den „Bann- und Achtsprozeß" gegen den sich ein Jahr lang nach begangner Tat in unbekannter Abwesenheit auf¬ haltenden. Durch dieses Verhalten wurde in Verbindung mit den den Be¬ schuldigten betastenden Umständen eine rechtliche Vermutung seiner Schuld be¬ gründet. Das Urteil lautet auf Erklärung in Acht und Bann mit dem Zu¬ sätze, daß auf Betreten des Verurteilten geschehen solle, was Rechtens sei. Als Wirkung dieses Urteils wird u. a, angegeben, daß dem Verurteilten, auch wenn er in einem nachfolgenden Jnquisitionsprozesse freigesprochen werden sollte, die Kosten des Bann- und Achtsprozesses zur Last bleiben. Dagegen wird aus¬ drücklich abgelehnt, daß der Verurteilte vogelfrei, sein Weib zur Witib, die Kinder zu Waisen gemacht werden, die Tötung des Geächteten straffrei sei, wenn dies auch in den Füllen zweifelhaft werde, wo nicht in Landes-, sondern in des heiligen römischen Reichs Acht erklärt worden sei. Wohl zu unter¬ scheiden sei auch der Fall, daß durch ein auf freie und offne Verfolgung an Leib und Hab lautendes Edikt gewisse Personen vogelfrei gemacht würden, wie „jüngstlich die Zügeiner als offene Land-Dieb präskribiret" worden seien. Wohl aber ist jeder verpflichtet, den Geächteten so schleunig wie möglich an das Gericht auszuliefern, sein schon zur Zeit der Flucht, des Beginns des Ver¬ fahrens beschlagnahmtes Vermögen wird öffentlich liquidiert, und in dem sich etwa späterhin anschließenden Jnquisitionsprozesse kann die Tatsache der Acht- und Bannerklürung nach Urteil und Recht die zur Verhängung der Tortur unzulänglichen Indizien ergänzen helfen. Übrigens wird, wie heute im Privatklageverfahren, neben dem von Amts wegen betriebnen Jnquisitionsprozeß noch, und zwar auch dem Gegenstande nach weit allgemeiner als heute, die Popularklage im Akkusationsprozeß zu¬ gelassen und von Fröhlich der Vollständigkeit wegen mit behandelt. Es er¬ scheint aber schon als ein vielen „Beschwärnussen" uuterworfnes, mehr und mehr hinter das Offizialverfahren zurücktretendes Verfahren. „Der ist kein ge¬ scheiter Advokatus, der seinem Klienten einen Anklags-Prozeß anzustellen ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/310>, abgerufen am 27.12.2024.