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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von

geleistet hat, eine unzählige Menge von Einzelheiten, die sämtlich dem Volke
zugute kamen und zum großen Teil seinen Sturz überdauerten. Aus der Fülle
der Reformen sei nur die Befreiung des Getreidehandels erwähnt, die Ludwig
der Fünfzehnte nicht hatte durchsetzen können, wenn diese Maßregel auch noch
sehr hinter der Ludwigs des Vierzehnten zurückblieb. Trotzdem entstand völlig
unmotiviert im April 1775 der sogenannte Mehlkrieg, ein leidenschaftlicher
Volksausbruch gegen eine Teuerung, die noch heute als unaufgeklärt gelten
muß. Es kam zu den gröbsten Ausschreitungen, zur Beschlagnahme von Getreide¬
speichern, zur Stürmung von Bäckerladen in großen Teilen des Landes. Das
Pariser Parlament erinnerte den König daran, für billigere Brotpreise zu sorgen,
und erließ die Bekanntmachung, daß es die Rädelsführer des Aufstandes vor
sein Forum ziehn werde, wobei diese jedoch straflos ausgegangen wären. Da
zeigte sich nun die ganze Tatkraft Turgots im besten Lichte. Er ließ die Be¬
kanntmachung des Parlaments durch Musketiere überkleben und durch eine
Ordonnanz ersetzen, die einfach verbot, Brot unter dem Marktpreise zu ver¬
langen. Ein Ut as Msties ordnete überdies an, daß die wegen des Aufstandes
Verhafteten durch die höchsten Polizeiorgane abgeurteilt werden sollten? zwei
Rädelsführer wurden an den Galgen gebracht, und damit endete schon Mitte
Mai der ganze Aufruhr, aber das Parlament haßte den Minister nur um so
mehr. Dieser ging dann noch mit dem großartigen Plan um, die Verwaltung
im Sinne der Selbstverwaltung zu reformieren und dabei das "physiokratische
System" zugrunde zu legen. Eine Denkschrift hierüber war schon von seinem
Freunde und Mitarbeiter Dupont de Mmours abgefaßt: sie hielt an dem
Absolutismus des Königs fest, gipfelte aber in der Beseitigung des alten
Beamtenstaats, an dessen Stelle eben die Gemeinden, Kreise, Provinzen mit
ihren eignen Verwaltungsorganen treten sollten, sodaß als oberste Instanz nur
die Zentralbehörde übrig geblieben wäre, und verlangte die Abschaffung der
Steuerprivilegien, sodaß fortan jeder Eigentümer, welches Standes er auch sei,
die Taille zu zahlen gehabt hätte. Aber diese Reform, von der man gesagt
hat, sie wäre imstande gewesen, die Revolution zu verhüten, wurde vorderhand
nicht ausgeführt. Denn Turgot, der wegen seines maßlosen Stolzes und Hoch¬
muts nur wenig Freunde hatte und auch mit feinen Ministerkollegen in Konflikt
geriet, vergaß sich auch dem Könige gegenüber in einem Briefe, aus dem nur
folgende, alles Maß des Anstands übersteigende Stelle erwähnt sei: "Vergessen
Sie nie, Sire, daß es die Schwäche war, die das Haupt Karls des Ersten auf
den Block gebracht hat; es war die Schwäche, die Karl den Neunten (in der
Bartholomäusnacht) grausam machte... sie hatte alle Unglücksfülle der letzten
Regierung verschuldet. Man glaubt, Sie seien schwach, Sire, und es gab Ge¬
legenheiten, wo ich selbst fürchtete, Ihr Charakter habe diesen Fehler." Der
Brief datiert vom 30. April 1776; am 12. Mai wurde Turgot unter dem Ein¬
fluß der Königin entlassen. "Es war ein Ereignis von unübersehbarer Trag¬
weite! Denn mit Turgot verschwand der einzige Mann aus der Umgebung


Vorgeschichte der französischen Revolution von

geleistet hat, eine unzählige Menge von Einzelheiten, die sämtlich dem Volke
zugute kamen und zum großen Teil seinen Sturz überdauerten. Aus der Fülle
der Reformen sei nur die Befreiung des Getreidehandels erwähnt, die Ludwig
der Fünfzehnte nicht hatte durchsetzen können, wenn diese Maßregel auch noch
sehr hinter der Ludwigs des Vierzehnten zurückblieb. Trotzdem entstand völlig
unmotiviert im April 1775 der sogenannte Mehlkrieg, ein leidenschaftlicher
Volksausbruch gegen eine Teuerung, die noch heute als unaufgeklärt gelten
muß. Es kam zu den gröbsten Ausschreitungen, zur Beschlagnahme von Getreide¬
speichern, zur Stürmung von Bäckerladen in großen Teilen des Landes. Das
Pariser Parlament erinnerte den König daran, für billigere Brotpreise zu sorgen,
und erließ die Bekanntmachung, daß es die Rädelsführer des Aufstandes vor
sein Forum ziehn werde, wobei diese jedoch straflos ausgegangen wären. Da
zeigte sich nun die ganze Tatkraft Turgots im besten Lichte. Er ließ die Be¬
kanntmachung des Parlaments durch Musketiere überkleben und durch eine
Ordonnanz ersetzen, die einfach verbot, Brot unter dem Marktpreise zu ver¬
langen. Ein Ut as Msties ordnete überdies an, daß die wegen des Aufstandes
Verhafteten durch die höchsten Polizeiorgane abgeurteilt werden sollten? zwei
Rädelsführer wurden an den Galgen gebracht, und damit endete schon Mitte
Mai der ganze Aufruhr, aber das Parlament haßte den Minister nur um so
mehr. Dieser ging dann noch mit dem großartigen Plan um, die Verwaltung
im Sinne der Selbstverwaltung zu reformieren und dabei das „physiokratische
System" zugrunde zu legen. Eine Denkschrift hierüber war schon von seinem
Freunde und Mitarbeiter Dupont de Mmours abgefaßt: sie hielt an dem
Absolutismus des Königs fest, gipfelte aber in der Beseitigung des alten
Beamtenstaats, an dessen Stelle eben die Gemeinden, Kreise, Provinzen mit
ihren eignen Verwaltungsorganen treten sollten, sodaß als oberste Instanz nur
die Zentralbehörde übrig geblieben wäre, und verlangte die Abschaffung der
Steuerprivilegien, sodaß fortan jeder Eigentümer, welches Standes er auch sei,
die Taille zu zahlen gehabt hätte. Aber diese Reform, von der man gesagt
hat, sie wäre imstande gewesen, die Revolution zu verhüten, wurde vorderhand
nicht ausgeführt. Denn Turgot, der wegen seines maßlosen Stolzes und Hoch¬
muts nur wenig Freunde hatte und auch mit feinen Ministerkollegen in Konflikt
geriet, vergaß sich auch dem Könige gegenüber in einem Briefe, aus dem nur
folgende, alles Maß des Anstands übersteigende Stelle erwähnt sei: „Vergessen
Sie nie, Sire, daß es die Schwäche war, die das Haupt Karls des Ersten auf
den Block gebracht hat; es war die Schwäche, die Karl den Neunten (in der
Bartholomäusnacht) grausam machte... sie hatte alle Unglücksfülle der letzten
Regierung verschuldet. Man glaubt, Sie seien schwach, Sire, und es gab Ge¬
legenheiten, wo ich selbst fürchtete, Ihr Charakter habe diesen Fehler." Der
Brief datiert vom 30. April 1776; am 12. Mai wurde Turgot unter dem Ein¬
fluß der Königin entlassen. „Es war ein Ereignis von unübersehbarer Trag¬
weite! Denn mit Turgot verschwand der einzige Mann aus der Umgebung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/304>, abgerufen am 23.07.2024.