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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die roürttembergische Verfassungsreform

Städten vielfach Juden, auf dem Lande Bierbrauer und Wirte, wie Mittnacht
1888 in der Kammer nicht ohne Ironie sagte; den Einfluß dieser Leute zu
verstärken durch Ausfolgung eines Anteils an der Gesetzgebung schien in der
Tat nicht geboten. So Vertiefen alle Versuche, eine Reform zustande zu
bringen, sowohl 1888 als 1894 erfolglos, da niemals für irgendeinen Vorschlag
auch nur in der zweiten Kammer (die erste kam gar nicht dazu, Stellung zu
den Entwürfen zu nehmen) die notwendige einfache Mehrheit oder gar die
schließlich notwendige Zweidrittelmehrheit erlangt wurde.

So lagen die Dinge, als 1895 bei den Kammerwahlen die deutsche Partei
dank eigner Fehler und dank einer über alle Begriffe verlognen demokratischen
Hetze die beherrschende Stellung verlor, und die Volkspartei mit 31 Abgeordneten
an die erste Stelle rückte. Damals strich der Freiherr von Mittnacht mit einer
Fixigkeit, die sogar bei diesem vielgewandten Staatsmann überraschte, vor der
neuen Mehrheit ebenso die Segel, wie er es im Herbst 1870 vor der sieghaften
deutschen Partei getan hatte, und erklärte, "angesichts der jetzigen Situation"
auf den bisher geforderten konservativen Ersatz aus einem beschränkten Wahl¬
recht verzichten zu wollen und in die "reine Volkskammer" zu willigen. Es
wurde damals behauptet, daß diese berühmte und berüchtigte Erklärung vom
5. März 1895 den eignen Kollegen Mittnachts überraschend gekommen sei;
zurückgetreten von seinem Amte ist aber keiner, was wenigstens den Schluß
zuläßt, daß sie doch vorher verständigt worden waren. Als zahlenmäßiger Ersatz
für die Bevorrechteten wurden nun Abgeordnete in Aussicht genommen, die durch
allgemeine Verhältnis- (Proportional-) Wahlen in den vier Kreisen des Landes
gewonnen werden sollten. Ein "konservativer" Ersatz wären sie natürlich
nicht gewesen, eher das Gegenteil, sofern dabei die bestorganisierte Partei, die
Sozialdemokratie, immer im Vorteil sein wird. Wohl aber wären sie, da bei
solchen Wahlen in größern Verhältnissen die Kirchturmspolitiker weniger zur
Geltung kommen als bei Bezirkswahlen, intellektuell eine Bereicherung der
Kammer gewesen. Im Jahre 1898 war die Sache so weit, daß eine Mehrheit
in der zweiten Kammer erhofft wurde; im letzten Augenblick jedoch warf das
Zentrum (im April 1898) das Verlangen herein, daß erstens die gesetzlich be¬
stehende konfessionelle Volksschule verfassungsgemäß festgelegt und zweitens die
Zulassung von Orden gesetzlich umschrieben, also der Willkür der Negierung
entzogen werde. Für die Mönche waren die Demokraten aus Angst vor ihren
evangelischen Wählern, die Nationalliberalen aus Grundsatz nicht zu haben;
die Festlegung der konfessionellen Volksschule hätte weniger Anstoß gefunden.
Den Rittern und den Prälaten war im Punkte der vermehrten Berechtigung der
ersten Kammer in Budgetsachen nicht genug geschehen, deshalb waren sie
Gegner der Reform in ihrer damaligen Gestalt, und so fiel die Reform am
21. Dezember 1898 mit 48 Ja gegen 38 Nein aus Mangel an der Zweidrittel¬
mehrheit durch. Es war "der dunkelste Tag des Jahres", wie der demo¬
kratische Abgeordnete Konrad Haußmann nicht unzutreffend ausrief.


Die roürttembergische Verfassungsreform

Städten vielfach Juden, auf dem Lande Bierbrauer und Wirte, wie Mittnacht
1888 in der Kammer nicht ohne Ironie sagte; den Einfluß dieser Leute zu
verstärken durch Ausfolgung eines Anteils an der Gesetzgebung schien in der
Tat nicht geboten. So Vertiefen alle Versuche, eine Reform zustande zu
bringen, sowohl 1888 als 1894 erfolglos, da niemals für irgendeinen Vorschlag
auch nur in der zweiten Kammer (die erste kam gar nicht dazu, Stellung zu
den Entwürfen zu nehmen) die notwendige einfache Mehrheit oder gar die
schließlich notwendige Zweidrittelmehrheit erlangt wurde.

So lagen die Dinge, als 1895 bei den Kammerwahlen die deutsche Partei
dank eigner Fehler und dank einer über alle Begriffe verlognen demokratischen
Hetze die beherrschende Stellung verlor, und die Volkspartei mit 31 Abgeordneten
an die erste Stelle rückte. Damals strich der Freiherr von Mittnacht mit einer
Fixigkeit, die sogar bei diesem vielgewandten Staatsmann überraschte, vor der
neuen Mehrheit ebenso die Segel, wie er es im Herbst 1870 vor der sieghaften
deutschen Partei getan hatte, und erklärte, „angesichts der jetzigen Situation"
auf den bisher geforderten konservativen Ersatz aus einem beschränkten Wahl¬
recht verzichten zu wollen und in die „reine Volkskammer" zu willigen. Es
wurde damals behauptet, daß diese berühmte und berüchtigte Erklärung vom
5. März 1895 den eignen Kollegen Mittnachts überraschend gekommen sei;
zurückgetreten von seinem Amte ist aber keiner, was wenigstens den Schluß
zuläßt, daß sie doch vorher verständigt worden waren. Als zahlenmäßiger Ersatz
für die Bevorrechteten wurden nun Abgeordnete in Aussicht genommen, die durch
allgemeine Verhältnis- (Proportional-) Wahlen in den vier Kreisen des Landes
gewonnen werden sollten. Ein „konservativer" Ersatz wären sie natürlich
nicht gewesen, eher das Gegenteil, sofern dabei die bestorganisierte Partei, die
Sozialdemokratie, immer im Vorteil sein wird. Wohl aber wären sie, da bei
solchen Wahlen in größern Verhältnissen die Kirchturmspolitiker weniger zur
Geltung kommen als bei Bezirkswahlen, intellektuell eine Bereicherung der
Kammer gewesen. Im Jahre 1898 war die Sache so weit, daß eine Mehrheit
in der zweiten Kammer erhofft wurde; im letzten Augenblick jedoch warf das
Zentrum (im April 1898) das Verlangen herein, daß erstens die gesetzlich be¬
stehende konfessionelle Volksschule verfassungsgemäß festgelegt und zweitens die
Zulassung von Orden gesetzlich umschrieben, also der Willkür der Negierung
entzogen werde. Für die Mönche waren die Demokraten aus Angst vor ihren
evangelischen Wählern, die Nationalliberalen aus Grundsatz nicht zu haben;
die Festlegung der konfessionellen Volksschule hätte weniger Anstoß gefunden.
Den Rittern und den Prälaten war im Punkte der vermehrten Berechtigung der
ersten Kammer in Budgetsachen nicht genug geschehen, deshalb waren sie
Gegner der Reform in ihrer damaligen Gestalt, und so fiel die Reform am
21. Dezember 1898 mit 48 Ja gegen 38 Nein aus Mangel an der Zweidrittel¬
mehrheit durch. Es war „der dunkelste Tag des Jahres", wie der demo¬
kratische Abgeordnete Konrad Haußmann nicht unzutreffend ausrief.


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[0293] Die roürttembergische Verfassungsreform Städten vielfach Juden, auf dem Lande Bierbrauer und Wirte, wie Mittnacht 1888 in der Kammer nicht ohne Ironie sagte; den Einfluß dieser Leute zu verstärken durch Ausfolgung eines Anteils an der Gesetzgebung schien in der Tat nicht geboten. So Vertiefen alle Versuche, eine Reform zustande zu bringen, sowohl 1888 als 1894 erfolglos, da niemals für irgendeinen Vorschlag auch nur in der zweiten Kammer (die erste kam gar nicht dazu, Stellung zu den Entwürfen zu nehmen) die notwendige einfache Mehrheit oder gar die schließlich notwendige Zweidrittelmehrheit erlangt wurde. So lagen die Dinge, als 1895 bei den Kammerwahlen die deutsche Partei dank eigner Fehler und dank einer über alle Begriffe verlognen demokratischen Hetze die beherrschende Stellung verlor, und die Volkspartei mit 31 Abgeordneten an die erste Stelle rückte. Damals strich der Freiherr von Mittnacht mit einer Fixigkeit, die sogar bei diesem vielgewandten Staatsmann überraschte, vor der neuen Mehrheit ebenso die Segel, wie er es im Herbst 1870 vor der sieghaften deutschen Partei getan hatte, und erklärte, „angesichts der jetzigen Situation" auf den bisher geforderten konservativen Ersatz aus einem beschränkten Wahl¬ recht verzichten zu wollen und in die „reine Volkskammer" zu willigen. Es wurde damals behauptet, daß diese berühmte und berüchtigte Erklärung vom 5. März 1895 den eignen Kollegen Mittnachts überraschend gekommen sei; zurückgetreten von seinem Amte ist aber keiner, was wenigstens den Schluß zuläßt, daß sie doch vorher verständigt worden waren. Als zahlenmäßiger Ersatz für die Bevorrechteten wurden nun Abgeordnete in Aussicht genommen, die durch allgemeine Verhältnis- (Proportional-) Wahlen in den vier Kreisen des Landes gewonnen werden sollten. Ein „konservativer" Ersatz wären sie natürlich nicht gewesen, eher das Gegenteil, sofern dabei die bestorganisierte Partei, die Sozialdemokratie, immer im Vorteil sein wird. Wohl aber wären sie, da bei solchen Wahlen in größern Verhältnissen die Kirchturmspolitiker weniger zur Geltung kommen als bei Bezirkswahlen, intellektuell eine Bereicherung der Kammer gewesen. Im Jahre 1898 war die Sache so weit, daß eine Mehrheit in der zweiten Kammer erhofft wurde; im letzten Augenblick jedoch warf das Zentrum (im April 1898) das Verlangen herein, daß erstens die gesetzlich be¬ stehende konfessionelle Volksschule verfassungsgemäß festgelegt und zweitens die Zulassung von Orden gesetzlich umschrieben, also der Willkür der Negierung entzogen werde. Für die Mönche waren die Demokraten aus Angst vor ihren evangelischen Wählern, die Nationalliberalen aus Grundsatz nicht zu haben; die Festlegung der konfessionellen Volksschule hätte weniger Anstoß gefunden. Den Rittern und den Prälaten war im Punkte der vermehrten Berechtigung der ersten Kammer in Budgetsachen nicht genug geschehen, deshalb waren sie Gegner der Reform in ihrer damaligen Gestalt, und so fiel die Reform am 21. Dezember 1898 mit 48 Ja gegen 38 Nein aus Mangel an der Zweidrittel¬ mehrheit durch. Es war „der dunkelste Tag des Jahres", wie der demo¬ kratische Abgeordnete Konrad Haußmann nicht unzutreffend ausrief.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/293>, abgerufen am 23.07.2024.