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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die württembergische Verfassungsreform

zu einem christlichen Bekenntnis unabhängig gemacht. Mit der Thronbesteigung
des Königs Karl (1864 bis 1891) ließ die Reaktion nach, und der Einfluß
der im norddeutschen Bunde 1867 eingetretnen Veränderungen, insbesondre die
Einführung des allgemeinen Wahlrechts durch Bismarck, bewirkte in Württem¬
berg 1868 den ersten wirklich bedeutenden Einbruch in die Verfassung von
1819 (denn die Zulassung der Juden hatte mehr grundsätzliche als praktische
Bedeutung): das' unter den demokratischen Einfluß geratne Ministerium
Varnbüler willigte 1868 in die Einführung des allgemeinen gleichen Wahl¬
rechts auch in Württemberg; es wollte sich damit den Verbündeten zur Linken
gefällig erweisen und zugleich zeigen, daß sich Württemberg an Freisinn von
Preußen nicht überbieten lasse. Mit dem Wahlrecht verband sich aber im Unter¬
schiede vom norddeutschen Bunde auch die Zahlung von Tagegeldern, die seit
dem Bestehen eines Landtags in Württemberg üblich waren. Damals wie heute
betrugen sie einen Dukaten (9 Mark 43 Pfennige).

Mit dieser Neuerung war eigentlich das Schicksal der Verfassung von 1819
besiegelt. Es ließ sich nicht erwarten, daß die Abgeordneten des allgemeinen
Wahlrechts aus die Dauer mit Bevorrechteten in der Kammer zusammensitzen
würden, und daß sie sich eine so hochfeudale erste Kammer, wie die von 1819
war, immer gefallen lassen würden. Beides widersprach völlig den Voraus¬
setzungen, aus denen sie selbst hervorgingen. So wurden seit dieser Zeit die
Bestrebungen nach einer Verfassungsreform laut, wobei sich die damals (1870
bis 1895) maßgebende "deutsche", d. h. nationalliberale Partei für das Ein¬
kammersystem mit der Maßgabe aussprach, daß diese eine Kammer zu einem
Teil aus Mitgliedern der Kammer der Standesherren, zum andern aus Ab¬
geordneten des allgemeinen Wahlrechts bestehn sollte. Die Behauptung, womit
die Demokraten lange Zeit hausieren gingen, auch die deutsche Partei sei wie
sie selbst für das Einkammersystem auf der ausschließlichen Grundlage des
allgemeinen Wahlrechts gewesen, ist völlig wahrheitswidrig; auf so etwas wären
weder die Regierung noch die Standesherren jemals eingegangen, und eine
solche Forderung stellen hätte geheißen leeres Stroh dreschen. Was die
Zusammensetzung der zweiten Kammer angeht, so war alles einig, daß eine
Reform das Ausscheiden der Bevorrechteten zur Grundvoraussetzung habe; die
Regierung schlug schon am 18. Dezember 1867 diese Maßregel vor. Aber die
Frage war, ob die Bevorrechteten ohne Ersatz ausscheiden sollten oder nicht. Die
Volkspartei trat für das erste ein; die deutsche Partei war, um doch einen Schritt
vorwärts zu kommen, bereit, in einen Ersatz zu willigen, und das Ministerium
Mittnacht erklärte wiederholt die Schaffung eines "konservativen Ersatzes" für
die unabänderliche Bedingung jeder Reform. So dachte man daran, Vertreter
der Berufszweige (Landwirtschaft, Handel, Gewerbe) oder der Höchstbesteuerten
in die zweite Kammer zu bringen; aber die Berufszweige entbehrten zum Teil
(so das Handwerk) noch der Organisation, der die Wahl von Abgeordneten
hätte übertragen werden können, und die Höchstbesteuerten waren in den


Die württembergische Verfassungsreform

zu einem christlichen Bekenntnis unabhängig gemacht. Mit der Thronbesteigung
des Königs Karl (1864 bis 1891) ließ die Reaktion nach, und der Einfluß
der im norddeutschen Bunde 1867 eingetretnen Veränderungen, insbesondre die
Einführung des allgemeinen Wahlrechts durch Bismarck, bewirkte in Württem¬
berg 1868 den ersten wirklich bedeutenden Einbruch in die Verfassung von
1819 (denn die Zulassung der Juden hatte mehr grundsätzliche als praktische
Bedeutung): das' unter den demokratischen Einfluß geratne Ministerium
Varnbüler willigte 1868 in die Einführung des allgemeinen gleichen Wahl¬
rechts auch in Württemberg; es wollte sich damit den Verbündeten zur Linken
gefällig erweisen und zugleich zeigen, daß sich Württemberg an Freisinn von
Preußen nicht überbieten lasse. Mit dem Wahlrecht verband sich aber im Unter¬
schiede vom norddeutschen Bunde auch die Zahlung von Tagegeldern, die seit
dem Bestehen eines Landtags in Württemberg üblich waren. Damals wie heute
betrugen sie einen Dukaten (9 Mark 43 Pfennige).

Mit dieser Neuerung war eigentlich das Schicksal der Verfassung von 1819
besiegelt. Es ließ sich nicht erwarten, daß die Abgeordneten des allgemeinen
Wahlrechts aus die Dauer mit Bevorrechteten in der Kammer zusammensitzen
würden, und daß sie sich eine so hochfeudale erste Kammer, wie die von 1819
war, immer gefallen lassen würden. Beides widersprach völlig den Voraus¬
setzungen, aus denen sie selbst hervorgingen. So wurden seit dieser Zeit die
Bestrebungen nach einer Verfassungsreform laut, wobei sich die damals (1870
bis 1895) maßgebende „deutsche", d. h. nationalliberale Partei für das Ein¬
kammersystem mit der Maßgabe aussprach, daß diese eine Kammer zu einem
Teil aus Mitgliedern der Kammer der Standesherren, zum andern aus Ab¬
geordneten des allgemeinen Wahlrechts bestehn sollte. Die Behauptung, womit
die Demokraten lange Zeit hausieren gingen, auch die deutsche Partei sei wie
sie selbst für das Einkammersystem auf der ausschließlichen Grundlage des
allgemeinen Wahlrechts gewesen, ist völlig wahrheitswidrig; auf so etwas wären
weder die Regierung noch die Standesherren jemals eingegangen, und eine
solche Forderung stellen hätte geheißen leeres Stroh dreschen. Was die
Zusammensetzung der zweiten Kammer angeht, so war alles einig, daß eine
Reform das Ausscheiden der Bevorrechteten zur Grundvoraussetzung habe; die
Regierung schlug schon am 18. Dezember 1867 diese Maßregel vor. Aber die
Frage war, ob die Bevorrechteten ohne Ersatz ausscheiden sollten oder nicht. Die
Volkspartei trat für das erste ein; die deutsche Partei war, um doch einen Schritt
vorwärts zu kommen, bereit, in einen Ersatz zu willigen, und das Ministerium
Mittnacht erklärte wiederholt die Schaffung eines „konservativen Ersatzes" für
die unabänderliche Bedingung jeder Reform. So dachte man daran, Vertreter
der Berufszweige (Landwirtschaft, Handel, Gewerbe) oder der Höchstbesteuerten
in die zweite Kammer zu bringen; aber die Berufszweige entbehrten zum Teil
(so das Handwerk) noch der Organisation, der die Wahl von Abgeordneten
hätte übertragen werden können, und die Höchstbesteuerten waren in den


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[0292] Die württembergische Verfassungsreform zu einem christlichen Bekenntnis unabhängig gemacht. Mit der Thronbesteigung des Königs Karl (1864 bis 1891) ließ die Reaktion nach, und der Einfluß der im norddeutschen Bunde 1867 eingetretnen Veränderungen, insbesondre die Einführung des allgemeinen Wahlrechts durch Bismarck, bewirkte in Württem¬ berg 1868 den ersten wirklich bedeutenden Einbruch in die Verfassung von 1819 (denn die Zulassung der Juden hatte mehr grundsätzliche als praktische Bedeutung): das' unter den demokratischen Einfluß geratne Ministerium Varnbüler willigte 1868 in die Einführung des allgemeinen gleichen Wahl¬ rechts auch in Württemberg; es wollte sich damit den Verbündeten zur Linken gefällig erweisen und zugleich zeigen, daß sich Württemberg an Freisinn von Preußen nicht überbieten lasse. Mit dem Wahlrecht verband sich aber im Unter¬ schiede vom norddeutschen Bunde auch die Zahlung von Tagegeldern, die seit dem Bestehen eines Landtags in Württemberg üblich waren. Damals wie heute betrugen sie einen Dukaten (9 Mark 43 Pfennige). Mit dieser Neuerung war eigentlich das Schicksal der Verfassung von 1819 besiegelt. Es ließ sich nicht erwarten, daß die Abgeordneten des allgemeinen Wahlrechts aus die Dauer mit Bevorrechteten in der Kammer zusammensitzen würden, und daß sie sich eine so hochfeudale erste Kammer, wie die von 1819 war, immer gefallen lassen würden. Beides widersprach völlig den Voraus¬ setzungen, aus denen sie selbst hervorgingen. So wurden seit dieser Zeit die Bestrebungen nach einer Verfassungsreform laut, wobei sich die damals (1870 bis 1895) maßgebende „deutsche", d. h. nationalliberale Partei für das Ein¬ kammersystem mit der Maßgabe aussprach, daß diese eine Kammer zu einem Teil aus Mitgliedern der Kammer der Standesherren, zum andern aus Ab¬ geordneten des allgemeinen Wahlrechts bestehn sollte. Die Behauptung, womit die Demokraten lange Zeit hausieren gingen, auch die deutsche Partei sei wie sie selbst für das Einkammersystem auf der ausschließlichen Grundlage des allgemeinen Wahlrechts gewesen, ist völlig wahrheitswidrig; auf so etwas wären weder die Regierung noch die Standesherren jemals eingegangen, und eine solche Forderung stellen hätte geheißen leeres Stroh dreschen. Was die Zusammensetzung der zweiten Kammer angeht, so war alles einig, daß eine Reform das Ausscheiden der Bevorrechteten zur Grundvoraussetzung habe; die Regierung schlug schon am 18. Dezember 1867 diese Maßregel vor. Aber die Frage war, ob die Bevorrechteten ohne Ersatz ausscheiden sollten oder nicht. Die Volkspartei trat für das erste ein; die deutsche Partei war, um doch einen Schritt vorwärts zu kommen, bereit, in einen Ersatz zu willigen, und das Ministerium Mittnacht erklärte wiederholt die Schaffung eines „konservativen Ersatzes" für die unabänderliche Bedingung jeder Reform. So dachte man daran, Vertreter der Berufszweige (Landwirtschaft, Handel, Gewerbe) oder der Höchstbesteuerten in die zweite Kammer zu bringen; aber die Berufszweige entbehrten zum Teil (so das Handwerk) noch der Organisation, der die Wahl von Abgeordneten hätte übertragen werden können, und die Höchstbesteuerten waren in den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/292>, abgerufen am 23.07.2024.