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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Die württembergische Verfassungsreform

Der Zweifel, ob bei den auseinanderstrebenden Wünschen und Ansichten
überhaupt etwas zustande kommen könne, wuchs in den nächsten Jahren immer
mehr an; da brachte das Jahr 1904 plötzlich einen Umschwung. Die katho¬
lische Mehrheit der Standesherren lehnte (s. Grenzboten 1904, Ur. 29) die Volks¬
schulnovelle des Kultusministers Dr. von Weizsäcker, die die fachmännische
Bezirksaufsicht in den größern Schulbezirken einführen wollte, am 8. Juni 1904
ab und setzte sich dadurch mit der Regierung und der Mehrheit der zweiten
Kammer in einen schneidenden Gegensatz. Es war bewiesen, daß die erste
Kammer in ihrer jetzigen Zusammensetzung eine Hochburg des Ultramontanismus
wenigstens im Punkt der Schulfrage war, und der Gedanke der Notwendigkeit
einer Reform, aber jetzt mit schärfster Zuspitzung auf die Umgestaltung nicht
sowohl der zweiten als vielmehr der ersten Kammer, schlug so gewaltig durch,
daß sich auch die fast ganz der evangelischen Kirche angehörenden Ritter und die
Prälaten dieser Notwendigkeit nicht länger verschlossen. Am 16. Juni 1904
forderte die ganze zweite Kammer mit Ausnahme des Zentrums das Ministerium
Breitling zu einer Vorlage zur Verfassungsreform auf, und das Ministerium
gab eine zustimmende Antwort. Diese Parteigruppierung ist maßgebend für
die weitere Entwicklung geblieben und hat die Frage 1906 zum Abschluß ge¬
bracht; an der Phalanx des evangelischen Württembergs ist das Zentrum, das
um der konfessionellen Volksschule und der kirchlichen Schulaufsicht willen der
ersten Kammer ihre katholische Mehrheit unbedingt erhalten wollte, schließlich
zerschellt, und die Standesherren haben am Ende nachgegeben, weil sie erstens
einen zweiten Konflikt, der noch schärfer als der von 1904 geworden wäre,
nicht riskierten, und weil sie sich zweitens sagen mußten, daß die erste Kammer
ohne Zuwachs von Arbeitskräften am Ende leistungsunfähig zu werden drohte;
die Standesherren, deren Zahl sich seit 1819 überdies um drei Familien
vermindert hat, sind meist nicht in der Lage, Berichte über Gesetzesvorlagen
auszuarbeiten, und die sechs vom Könige gewühlten Mitglieder, meist hohe
Staatsbeamte mit großer Amtslast, können den an sie gestellten parlamen¬
tarischen Anforderungen kaum genügen. Die Standesherren stellten als Vor¬
aussetzung ihrer Annahme der Reform eine Reihe von Bedingungen, unter
denen wir das Recht der Krone, für etwa künftig aussterbende standesherrliche
Familien andre erbliche Gesetzgeber zu ernennen, und eine Vermehrung ihrer
Budgetrechte nennen. Dafür waren sie bereit, in eine Vergrößerung der
ersten Kammer zu willigen, die deren Standesherrlichen und katholischen Charakter
sehr abschwächen, ja fast zerstören mußte, die Vertretung abwesender Standes¬
herren bei der Abstimmung durch Anwesende aufzugeben (was man im Lande
scherzhaft die Geisterstimmen nannte) und der Errichtung der reinen Volks¬
kammer, allerdings zunächst ohne Ersatz für die Bevorrechteten, zuzustimmen.
Schließlich vereinigte man sich dahin, daß statt aussterbender standesherrlicher
Familien die Krone zwar nicht erbliche, aber lebenslängliche Mitglieder der
ersten Kammer sollte ernennen dürfen, und daß die erste Kammer bei der Ab-


Die württembergische Verfassungsreform

Der Zweifel, ob bei den auseinanderstrebenden Wünschen und Ansichten
überhaupt etwas zustande kommen könne, wuchs in den nächsten Jahren immer
mehr an; da brachte das Jahr 1904 plötzlich einen Umschwung. Die katho¬
lische Mehrheit der Standesherren lehnte (s. Grenzboten 1904, Ur. 29) die Volks¬
schulnovelle des Kultusministers Dr. von Weizsäcker, die die fachmännische
Bezirksaufsicht in den größern Schulbezirken einführen wollte, am 8. Juni 1904
ab und setzte sich dadurch mit der Regierung und der Mehrheit der zweiten
Kammer in einen schneidenden Gegensatz. Es war bewiesen, daß die erste
Kammer in ihrer jetzigen Zusammensetzung eine Hochburg des Ultramontanismus
wenigstens im Punkt der Schulfrage war, und der Gedanke der Notwendigkeit
einer Reform, aber jetzt mit schärfster Zuspitzung auf die Umgestaltung nicht
sowohl der zweiten als vielmehr der ersten Kammer, schlug so gewaltig durch,
daß sich auch die fast ganz der evangelischen Kirche angehörenden Ritter und die
Prälaten dieser Notwendigkeit nicht länger verschlossen. Am 16. Juni 1904
forderte die ganze zweite Kammer mit Ausnahme des Zentrums das Ministerium
Breitling zu einer Vorlage zur Verfassungsreform auf, und das Ministerium
gab eine zustimmende Antwort. Diese Parteigruppierung ist maßgebend für
die weitere Entwicklung geblieben und hat die Frage 1906 zum Abschluß ge¬
bracht; an der Phalanx des evangelischen Württembergs ist das Zentrum, das
um der konfessionellen Volksschule und der kirchlichen Schulaufsicht willen der
ersten Kammer ihre katholische Mehrheit unbedingt erhalten wollte, schließlich
zerschellt, und die Standesherren haben am Ende nachgegeben, weil sie erstens
einen zweiten Konflikt, der noch schärfer als der von 1904 geworden wäre,
nicht riskierten, und weil sie sich zweitens sagen mußten, daß die erste Kammer
ohne Zuwachs von Arbeitskräften am Ende leistungsunfähig zu werden drohte;
die Standesherren, deren Zahl sich seit 1819 überdies um drei Familien
vermindert hat, sind meist nicht in der Lage, Berichte über Gesetzesvorlagen
auszuarbeiten, und die sechs vom Könige gewühlten Mitglieder, meist hohe
Staatsbeamte mit großer Amtslast, können den an sie gestellten parlamen¬
tarischen Anforderungen kaum genügen. Die Standesherren stellten als Vor¬
aussetzung ihrer Annahme der Reform eine Reihe von Bedingungen, unter
denen wir das Recht der Krone, für etwa künftig aussterbende standesherrliche
Familien andre erbliche Gesetzgeber zu ernennen, und eine Vermehrung ihrer
Budgetrechte nennen. Dafür waren sie bereit, in eine Vergrößerung der
ersten Kammer zu willigen, die deren Standesherrlichen und katholischen Charakter
sehr abschwächen, ja fast zerstören mußte, die Vertretung abwesender Standes¬
herren bei der Abstimmung durch Anwesende aufzugeben (was man im Lande
scherzhaft die Geisterstimmen nannte) und der Errichtung der reinen Volks¬
kammer, allerdings zunächst ohne Ersatz für die Bevorrechteten, zuzustimmen.
Schließlich vereinigte man sich dahin, daß statt aussterbender standesherrlicher
Familien die Krone zwar nicht erbliche, aber lebenslängliche Mitglieder der
ersten Kammer sollte ernennen dürfen, und daß die erste Kammer bei der Ab-


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[0294] Die württembergische Verfassungsreform Der Zweifel, ob bei den auseinanderstrebenden Wünschen und Ansichten überhaupt etwas zustande kommen könne, wuchs in den nächsten Jahren immer mehr an; da brachte das Jahr 1904 plötzlich einen Umschwung. Die katho¬ lische Mehrheit der Standesherren lehnte (s. Grenzboten 1904, Ur. 29) die Volks¬ schulnovelle des Kultusministers Dr. von Weizsäcker, die die fachmännische Bezirksaufsicht in den größern Schulbezirken einführen wollte, am 8. Juni 1904 ab und setzte sich dadurch mit der Regierung und der Mehrheit der zweiten Kammer in einen schneidenden Gegensatz. Es war bewiesen, daß die erste Kammer in ihrer jetzigen Zusammensetzung eine Hochburg des Ultramontanismus wenigstens im Punkt der Schulfrage war, und der Gedanke der Notwendigkeit einer Reform, aber jetzt mit schärfster Zuspitzung auf die Umgestaltung nicht sowohl der zweiten als vielmehr der ersten Kammer, schlug so gewaltig durch, daß sich auch die fast ganz der evangelischen Kirche angehörenden Ritter und die Prälaten dieser Notwendigkeit nicht länger verschlossen. Am 16. Juni 1904 forderte die ganze zweite Kammer mit Ausnahme des Zentrums das Ministerium Breitling zu einer Vorlage zur Verfassungsreform auf, und das Ministerium gab eine zustimmende Antwort. Diese Parteigruppierung ist maßgebend für die weitere Entwicklung geblieben und hat die Frage 1906 zum Abschluß ge¬ bracht; an der Phalanx des evangelischen Württembergs ist das Zentrum, das um der konfessionellen Volksschule und der kirchlichen Schulaufsicht willen der ersten Kammer ihre katholische Mehrheit unbedingt erhalten wollte, schließlich zerschellt, und die Standesherren haben am Ende nachgegeben, weil sie erstens einen zweiten Konflikt, der noch schärfer als der von 1904 geworden wäre, nicht riskierten, und weil sie sich zweitens sagen mußten, daß die erste Kammer ohne Zuwachs von Arbeitskräften am Ende leistungsunfähig zu werden drohte; die Standesherren, deren Zahl sich seit 1819 überdies um drei Familien vermindert hat, sind meist nicht in der Lage, Berichte über Gesetzesvorlagen auszuarbeiten, und die sechs vom Könige gewühlten Mitglieder, meist hohe Staatsbeamte mit großer Amtslast, können den an sie gestellten parlamen¬ tarischen Anforderungen kaum genügen. Die Standesherren stellten als Vor¬ aussetzung ihrer Annahme der Reform eine Reihe von Bedingungen, unter denen wir das Recht der Krone, für etwa künftig aussterbende standesherrliche Familien andre erbliche Gesetzgeber zu ernennen, und eine Vermehrung ihrer Budgetrechte nennen. Dafür waren sie bereit, in eine Vergrößerung der ersten Kammer zu willigen, die deren Standesherrlichen und katholischen Charakter sehr abschwächen, ja fast zerstören mußte, die Vertretung abwesender Standes¬ herren bei der Abstimmung durch Anwesende aufzugeben (was man im Lande scherzhaft die Geisterstimmen nannte) und der Errichtung der reinen Volks¬ kammer, allerdings zunächst ohne Ersatz für die Bevorrechteten, zuzustimmen. Schließlich vereinigte man sich dahin, daß statt aussterbender standesherrlicher Familien die Krone zwar nicht erbliche, aber lebenslängliche Mitglieder der ersten Kammer sollte ernennen dürfen, und daß die erste Kammer bei der Ab-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/294>, abgerufen am 23.07.2024.