Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die württembergische Verfassungsreform

Reichsunmittelbaren zu württembergischen Untertanen gewordnen Inhabern von
Reichs- oder Kreistagsstimmen, denen als Ersatz für ihre frühere Reichs-
unmittelbarkeit das erbliche Gesetzgebungsrecht eingeräumt wurde, und einer
Anzahl von Mitgliedern, die der König auf Lebenszeit ernennen durste; deren
Zahl sollte aber ein Drittel der erblichen Mitglieder nicht überschreiten, sodaß
also die württembergische Verfassung der Krone das Recht des unbeschränkten
Pairsschubs nicht (wie in England oder Preußen) zuerkannte. Die zweite
Kammer bestand aus 23 Bevorrechteten (13 Abgeordneten des ritterschaftlichen
Grundbesitzes, 6 evangelischen Generalsuperintendenten oder Prälaten, dem
katholischen Bischof von Rottenburg, einem Vertreter des Domkapitels, dem
ältesten katholischen Dekan und dem Kanzler ^ Kurator) der Universität
Tübingen) und aus 70 gewählten Abgeordneten, von denen 63 auf die Ober¬
ämter und 7 auf die "guten Städte" Ellwangen, Heilbronn, Ludwigsburg,
Reutlingen, Stuttgart, Tübingen und Ulm entfielen. Das Wahlrecht war so
bestimmt, daß in jedem Wahlbezirk auf sieben erwachsne Bürger ein Wahlmann
kommen sollte und die "Höchstbesteuerten" an sich selbst Wahlmünner waren;
die übrigen Steuerträger aber wühlten Wahlmänner. Die Höchstbesteuerten
stellten zwei Drittel des Wahlkörpers, die andern Steuerträger ein Drittel.
Es bestand also ein gar nicht ungeschickt ausgedachtes Zweiklassenwahlsystem
und eine Verbindung von direkter und indirekter Wahl, die jedem Staats¬
bürger das Wahlrecht sicherte, aber den Vermögenden den größten Teil des
Einflusses vorbehielt.

Diese Verfassung bestand ohne wesentliche Anfechtung bis 1848. Damals
wurde die Lebcnslänglichkeit der Gemeinderäte abgeschafft, und es wurde auch
die Forderung der "reinen Volkskammer" erhoben, die unter Ausscheidung der
Privilegierten nur aus Gewählten des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten
Wahlrechts, wie es die Reichsverfassung von 1849 enthielt, bestehn sollte.
Auch die Beseitigung der ersten Kammer wurde verlangt, und in der Tat be¬
stand seit dem 1. Dezember 1849 eine verfassunggebende "Landesversammlung",
die nur aus Volksabgeordneten, die eine einzige Kammer bildeten, zusammen¬
gesetzt war. Aber König Wilhelm der Erste konnte sich mit dieser Versammlung
über eine Verfassung nicht verstündigen und nahm 1850 den Anlaß wahr, daß
diese Landesversammlung ihm die zum Kriege gegen Preußen geforderten
300000 Gulden abschlug, zu erklären, daß er mit einer Versammlung, die
ihn an Erfüllung seiner Bundespflichten hindere, nicht Hausen könne, hob am
6- November 1850 die Versammlung auf und stellte den Zustand von 1819 wieder
her. Die Rechtsgiltigkeit dieses Vorgehens wurde zwar von der Opposition
heftig angefochten, von den Gerichten aber anerkannt.

Nun folgte die Zeit der Reaktion, die Württemberg 1860 auch den
Versuch eines Konkordats mit Rom bescherte, der aber an der Energie des
Protestantischen Gefühls der großen Mehrheit des württembergischen Volkes
scheiterte. 1861 wurde der Eintritt in die Stündekammer von der Zugehörigkeit


Die württembergische Verfassungsreform

Reichsunmittelbaren zu württembergischen Untertanen gewordnen Inhabern von
Reichs- oder Kreistagsstimmen, denen als Ersatz für ihre frühere Reichs-
unmittelbarkeit das erbliche Gesetzgebungsrecht eingeräumt wurde, und einer
Anzahl von Mitgliedern, die der König auf Lebenszeit ernennen durste; deren
Zahl sollte aber ein Drittel der erblichen Mitglieder nicht überschreiten, sodaß
also die württembergische Verfassung der Krone das Recht des unbeschränkten
Pairsschubs nicht (wie in England oder Preußen) zuerkannte. Die zweite
Kammer bestand aus 23 Bevorrechteten (13 Abgeordneten des ritterschaftlichen
Grundbesitzes, 6 evangelischen Generalsuperintendenten oder Prälaten, dem
katholischen Bischof von Rottenburg, einem Vertreter des Domkapitels, dem
ältesten katholischen Dekan und dem Kanzler ^ Kurator) der Universität
Tübingen) und aus 70 gewählten Abgeordneten, von denen 63 auf die Ober¬
ämter und 7 auf die „guten Städte" Ellwangen, Heilbronn, Ludwigsburg,
Reutlingen, Stuttgart, Tübingen und Ulm entfielen. Das Wahlrecht war so
bestimmt, daß in jedem Wahlbezirk auf sieben erwachsne Bürger ein Wahlmann
kommen sollte und die „Höchstbesteuerten" an sich selbst Wahlmünner waren;
die übrigen Steuerträger aber wühlten Wahlmänner. Die Höchstbesteuerten
stellten zwei Drittel des Wahlkörpers, die andern Steuerträger ein Drittel.
Es bestand also ein gar nicht ungeschickt ausgedachtes Zweiklassenwahlsystem
und eine Verbindung von direkter und indirekter Wahl, die jedem Staats¬
bürger das Wahlrecht sicherte, aber den Vermögenden den größten Teil des
Einflusses vorbehielt.

Diese Verfassung bestand ohne wesentliche Anfechtung bis 1848. Damals
wurde die Lebcnslänglichkeit der Gemeinderäte abgeschafft, und es wurde auch
die Forderung der „reinen Volkskammer" erhoben, die unter Ausscheidung der
Privilegierten nur aus Gewählten des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten
Wahlrechts, wie es die Reichsverfassung von 1849 enthielt, bestehn sollte.
Auch die Beseitigung der ersten Kammer wurde verlangt, und in der Tat be¬
stand seit dem 1. Dezember 1849 eine verfassunggebende „Landesversammlung",
die nur aus Volksabgeordneten, die eine einzige Kammer bildeten, zusammen¬
gesetzt war. Aber König Wilhelm der Erste konnte sich mit dieser Versammlung
über eine Verfassung nicht verstündigen und nahm 1850 den Anlaß wahr, daß
diese Landesversammlung ihm die zum Kriege gegen Preußen geforderten
300000 Gulden abschlug, zu erklären, daß er mit einer Versammlung, die
ihn an Erfüllung seiner Bundespflichten hindere, nicht Hausen könne, hob am
6- November 1850 die Versammlung auf und stellte den Zustand von 1819 wieder
her. Die Rechtsgiltigkeit dieses Vorgehens wurde zwar von der Opposition
heftig angefochten, von den Gerichten aber anerkannt.

Nun folgte die Zeit der Reaktion, die Württemberg 1860 auch den
Versuch eines Konkordats mit Rom bescherte, der aber an der Energie des
Protestantischen Gefühls der großen Mehrheit des württembergischen Volkes
scheiterte. 1861 wurde der Eintritt in die Stündekammer von der Zugehörigkeit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0291" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300078"/>
          <fw type="header" place="top"> Die württembergische Verfassungsreform</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1025" prev="#ID_1024"> Reichsunmittelbaren zu württembergischen Untertanen gewordnen Inhabern von<lb/>
Reichs- oder Kreistagsstimmen, denen als Ersatz für ihre frühere Reichs-<lb/>
unmittelbarkeit das erbliche Gesetzgebungsrecht eingeräumt wurde, und einer<lb/>
Anzahl von Mitgliedern, die der König auf Lebenszeit ernennen durste; deren<lb/>
Zahl sollte aber ein Drittel der erblichen Mitglieder nicht überschreiten, sodaß<lb/>
also die württembergische Verfassung der Krone das Recht des unbeschränkten<lb/>
Pairsschubs nicht (wie in England oder Preußen) zuerkannte. Die zweite<lb/>
Kammer bestand aus 23 Bevorrechteten (13 Abgeordneten des ritterschaftlichen<lb/>
Grundbesitzes, 6 evangelischen Generalsuperintendenten oder Prälaten, dem<lb/>
katholischen Bischof von Rottenburg, einem Vertreter des Domkapitels, dem<lb/>
ältesten katholischen Dekan und dem Kanzler ^ Kurator) der Universität<lb/>
Tübingen) und aus 70 gewählten Abgeordneten, von denen 63 auf die Ober¬<lb/>
ämter und 7 auf die &#x201E;guten Städte" Ellwangen, Heilbronn, Ludwigsburg,<lb/>
Reutlingen, Stuttgart, Tübingen und Ulm entfielen. Das Wahlrecht war so<lb/>
bestimmt, daß in jedem Wahlbezirk auf sieben erwachsne Bürger ein Wahlmann<lb/>
kommen sollte und die &#x201E;Höchstbesteuerten" an sich selbst Wahlmünner waren;<lb/>
die übrigen Steuerträger aber wühlten Wahlmänner. Die Höchstbesteuerten<lb/>
stellten zwei Drittel des Wahlkörpers, die andern Steuerträger ein Drittel.<lb/>
Es bestand also ein gar nicht ungeschickt ausgedachtes Zweiklassenwahlsystem<lb/>
und eine Verbindung von direkter und indirekter Wahl, die jedem Staats¬<lb/>
bürger das Wahlrecht sicherte, aber den Vermögenden den größten Teil des<lb/>
Einflusses vorbehielt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1026"> Diese Verfassung bestand ohne wesentliche Anfechtung bis 1848. Damals<lb/>
wurde die Lebcnslänglichkeit der Gemeinderäte abgeschafft, und es wurde auch<lb/>
die Forderung der &#x201E;reinen Volkskammer" erhoben, die unter Ausscheidung der<lb/>
Privilegierten nur aus Gewählten des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten<lb/>
Wahlrechts, wie es die Reichsverfassung von 1849 enthielt, bestehn sollte.<lb/>
Auch die Beseitigung der ersten Kammer wurde verlangt, und in der Tat be¬<lb/>
stand seit dem 1. Dezember 1849 eine verfassunggebende &#x201E;Landesversammlung",<lb/>
die nur aus Volksabgeordneten, die eine einzige Kammer bildeten, zusammen¬<lb/>
gesetzt war. Aber König Wilhelm der Erste konnte sich mit dieser Versammlung<lb/>
über eine Verfassung nicht verstündigen und nahm 1850 den Anlaß wahr, daß<lb/>
diese Landesversammlung ihm die zum Kriege gegen Preußen geforderten<lb/>
300000 Gulden abschlug, zu erklären, daß er mit einer Versammlung, die<lb/>
ihn an Erfüllung seiner Bundespflichten hindere, nicht Hausen könne, hob am<lb/>
6- November 1850 die Versammlung auf und stellte den Zustand von 1819 wieder<lb/>
her. Die Rechtsgiltigkeit dieses Vorgehens wurde zwar von der Opposition<lb/>
heftig angefochten, von den Gerichten aber anerkannt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1027" next="#ID_1028"> Nun folgte die Zeit der Reaktion, die Württemberg 1860 auch den<lb/>
Versuch eines Konkordats mit Rom bescherte, der aber an der Energie des<lb/>
Protestantischen Gefühls der großen Mehrheit des württembergischen Volkes<lb/>
scheiterte. 1861 wurde der Eintritt in die Stündekammer von der Zugehörigkeit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0291] Die württembergische Verfassungsreform Reichsunmittelbaren zu württembergischen Untertanen gewordnen Inhabern von Reichs- oder Kreistagsstimmen, denen als Ersatz für ihre frühere Reichs- unmittelbarkeit das erbliche Gesetzgebungsrecht eingeräumt wurde, und einer Anzahl von Mitgliedern, die der König auf Lebenszeit ernennen durste; deren Zahl sollte aber ein Drittel der erblichen Mitglieder nicht überschreiten, sodaß also die württembergische Verfassung der Krone das Recht des unbeschränkten Pairsschubs nicht (wie in England oder Preußen) zuerkannte. Die zweite Kammer bestand aus 23 Bevorrechteten (13 Abgeordneten des ritterschaftlichen Grundbesitzes, 6 evangelischen Generalsuperintendenten oder Prälaten, dem katholischen Bischof von Rottenburg, einem Vertreter des Domkapitels, dem ältesten katholischen Dekan und dem Kanzler ^ Kurator) der Universität Tübingen) und aus 70 gewählten Abgeordneten, von denen 63 auf die Ober¬ ämter und 7 auf die „guten Städte" Ellwangen, Heilbronn, Ludwigsburg, Reutlingen, Stuttgart, Tübingen und Ulm entfielen. Das Wahlrecht war so bestimmt, daß in jedem Wahlbezirk auf sieben erwachsne Bürger ein Wahlmann kommen sollte und die „Höchstbesteuerten" an sich selbst Wahlmünner waren; die übrigen Steuerträger aber wühlten Wahlmänner. Die Höchstbesteuerten stellten zwei Drittel des Wahlkörpers, die andern Steuerträger ein Drittel. Es bestand also ein gar nicht ungeschickt ausgedachtes Zweiklassenwahlsystem und eine Verbindung von direkter und indirekter Wahl, die jedem Staats¬ bürger das Wahlrecht sicherte, aber den Vermögenden den größten Teil des Einflusses vorbehielt. Diese Verfassung bestand ohne wesentliche Anfechtung bis 1848. Damals wurde die Lebcnslänglichkeit der Gemeinderäte abgeschafft, und es wurde auch die Forderung der „reinen Volkskammer" erhoben, die unter Ausscheidung der Privilegierten nur aus Gewählten des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts, wie es die Reichsverfassung von 1849 enthielt, bestehn sollte. Auch die Beseitigung der ersten Kammer wurde verlangt, und in der Tat be¬ stand seit dem 1. Dezember 1849 eine verfassunggebende „Landesversammlung", die nur aus Volksabgeordneten, die eine einzige Kammer bildeten, zusammen¬ gesetzt war. Aber König Wilhelm der Erste konnte sich mit dieser Versammlung über eine Verfassung nicht verstündigen und nahm 1850 den Anlaß wahr, daß diese Landesversammlung ihm die zum Kriege gegen Preußen geforderten 300000 Gulden abschlug, zu erklären, daß er mit einer Versammlung, die ihn an Erfüllung seiner Bundespflichten hindere, nicht Hausen könne, hob am 6- November 1850 die Versammlung auf und stellte den Zustand von 1819 wieder her. Die Rechtsgiltigkeit dieses Vorgehens wurde zwar von der Opposition heftig angefochten, von den Gerichten aber anerkannt. Nun folgte die Zeit der Reaktion, die Württemberg 1860 auch den Versuch eines Konkordats mit Rom bescherte, der aber an der Energie des Protestantischen Gefühls der großen Mehrheit des württembergischen Volkes scheiterte. 1861 wurde der Eintritt in die Stündekammer von der Zugehörigkeit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/291
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/291>, abgerufen am 27.12.2024.