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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von ^739

verderbten Charakter; sie ließen sich auf den Provinzialständeversammlungen ihre
Stimme von dem abkaufen, der ihnen am meisten bot, auch wenn das Geld von
der Regierung herrührte, und späterhin warfen sie sich vor allem den Jakobinern
in die Arme; "die Legende von den durchweg unfähigen und unsittlichen ersten
Ständen, die in der Revolution von einem tüchtigen, kernigen und sittlichen
Bürgerstand abgelöst wurden, läßt sich, wie man sieht, nicht aufrechterhalten".

Unter der Bourgeoisie standen dann die Handwerker, deren vortreffliche
Arbeiten heute noch Staunen hervorrufen; aber der strenge Zunftzwang hatte
seine tiefen Schattenseiten: nur wenig Gesellen konnten es bis zum Meister
bringen. Der Preis der Waren mußte natürlich höher sein, als wenn es eine
freie Konkurrenz gegeben hätte; die Verwaltung der Zünfte war kostspielig und
führte nicht selten zu Zusammenbrüchen. So sehnte man sich denn auch auf
diesem Gebiete uach Freiheit! Der Rest der Stadtbewohner setzte sich ans
Tagelöhnern, Proletariern und zahlreichen Bettlern zusammen.

Die Stadtverwaltungen, die eine bunte Mannigfaltigkeit der Formen auf¬
wiesen, waren nur scheinbar demokratisch; denn die Bürgerversammlungen (1s
ALu6rg.I ass nMtants) wurden fast nie zusammenberufen und höchstens durch
einen Ausschuß von Vertretern der Korporationen ersetzt. In Wirklichkeit regierte
eine Oligarchie, die im Besitze der vom Staate verkauften Ämter war und über¬
dies von dem Intendanten scharf kontrolliert wurde; sie trat in den größern
Städten in einem Stadträte hervor, worin der Bürgermeister (inairs), die Konsuln
und die Schöffen ziemlich gleiche Rechte aber doch fast nur das Recht der Be¬
rufung hatten. Die Mängel dieser Verfassung sind offenkundig; die Oligarchie
hätte beseitigt, den Städten nicht bloß die Beratung, sondern auch die Beschlu߬
fassung überlassen und die Einrichtung der Städte im ganzen Staate gleich¬
mäßiger gestaltet werden müssen.

Auch in den Dörfern gab es zahlreiche Handwerker aller Art, da auf dem
Lande Gewerbefreiheit herrschte. Unter den eigentlichen Landbau treibenden Be¬
wohnern muß man wieder mehrere Gruppen unterscheiden, besonders kleine und
mittlere Eigentümer, Tagelöhner und MetaHers oder Hälftner, die von jeder
Ernte dem Besitzer des Bodens etwa die Hälfte der Naturalien ablieferten. Wie
viele von allen diesen Gruppen von Bauern noch als Hörige galten, ist schwer
zu sagen, aber es waren wohl nicht mehr als einige Hunderttausende, d. h. etwa
nur der hundertste Teil der landwirtschaftlichen Bevölkerung, der zum Teil per¬
sönlich unfrei und an die Scholle gebunden war. Im übrigen bedeckte fast das
ganze Land ein Netz von Seigneurien, d. h. grundherrlichen Rechten, die überaus
verschieden sein konnten. Diese Einrichtung hatte von dem Senior oder Lehns¬
herrn ihren Namen, und sie umfaßte auch häufig nur lehnsherrliche Rechte,
zuweilen aber auch nur gerichtsherrliche oder leibherrliche, zuweilen auch alle
zusammen oder teilweise miteinander vereinigt. Das Bedeutsamste hierbei war
jedenfalls, daß die Bauern den vollkommensten Rechtsschutz genossen, daß von
einer etwa zunehmenden Macht der Grundherren dem Bauer gegenüber keine


Vorgeschichte der französischen Revolution von ^739

verderbten Charakter; sie ließen sich auf den Provinzialständeversammlungen ihre
Stimme von dem abkaufen, der ihnen am meisten bot, auch wenn das Geld von
der Regierung herrührte, und späterhin warfen sie sich vor allem den Jakobinern
in die Arme; „die Legende von den durchweg unfähigen und unsittlichen ersten
Ständen, die in der Revolution von einem tüchtigen, kernigen und sittlichen
Bürgerstand abgelöst wurden, läßt sich, wie man sieht, nicht aufrechterhalten".

Unter der Bourgeoisie standen dann die Handwerker, deren vortreffliche
Arbeiten heute noch Staunen hervorrufen; aber der strenge Zunftzwang hatte
seine tiefen Schattenseiten: nur wenig Gesellen konnten es bis zum Meister
bringen. Der Preis der Waren mußte natürlich höher sein, als wenn es eine
freie Konkurrenz gegeben hätte; die Verwaltung der Zünfte war kostspielig und
führte nicht selten zu Zusammenbrüchen. So sehnte man sich denn auch auf
diesem Gebiete uach Freiheit! Der Rest der Stadtbewohner setzte sich ans
Tagelöhnern, Proletariern und zahlreichen Bettlern zusammen.

Die Stadtverwaltungen, die eine bunte Mannigfaltigkeit der Formen auf¬
wiesen, waren nur scheinbar demokratisch; denn die Bürgerversammlungen (1s
ALu6rg.I ass nMtants) wurden fast nie zusammenberufen und höchstens durch
einen Ausschuß von Vertretern der Korporationen ersetzt. In Wirklichkeit regierte
eine Oligarchie, die im Besitze der vom Staate verkauften Ämter war und über¬
dies von dem Intendanten scharf kontrolliert wurde; sie trat in den größern
Städten in einem Stadträte hervor, worin der Bürgermeister (inairs), die Konsuln
und die Schöffen ziemlich gleiche Rechte aber doch fast nur das Recht der Be¬
rufung hatten. Die Mängel dieser Verfassung sind offenkundig; die Oligarchie
hätte beseitigt, den Städten nicht bloß die Beratung, sondern auch die Beschlu߬
fassung überlassen und die Einrichtung der Städte im ganzen Staate gleich¬
mäßiger gestaltet werden müssen.

Auch in den Dörfern gab es zahlreiche Handwerker aller Art, da auf dem
Lande Gewerbefreiheit herrschte. Unter den eigentlichen Landbau treibenden Be¬
wohnern muß man wieder mehrere Gruppen unterscheiden, besonders kleine und
mittlere Eigentümer, Tagelöhner und MetaHers oder Hälftner, die von jeder
Ernte dem Besitzer des Bodens etwa die Hälfte der Naturalien ablieferten. Wie
viele von allen diesen Gruppen von Bauern noch als Hörige galten, ist schwer
zu sagen, aber es waren wohl nicht mehr als einige Hunderttausende, d. h. etwa
nur der hundertste Teil der landwirtschaftlichen Bevölkerung, der zum Teil per¬
sönlich unfrei und an die Scholle gebunden war. Im übrigen bedeckte fast das
ganze Land ein Netz von Seigneurien, d. h. grundherrlichen Rechten, die überaus
verschieden sein konnten. Diese Einrichtung hatte von dem Senior oder Lehns¬
herrn ihren Namen, und sie umfaßte auch häufig nur lehnsherrliche Rechte,
zuweilen aber auch nur gerichtsherrliche oder leibherrliche, zuweilen auch alle
zusammen oder teilweise miteinander vereinigt. Das Bedeutsamste hierbei war
jedenfalls, daß die Bauern den vollkommensten Rechtsschutz genossen, daß von
einer etwa zunehmenden Macht der Grundherren dem Bauer gegenüber keine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/256>, abgerufen am 23.07.2024.