Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vorgeschichte der französischen Revolution von 1,739

Rede sein konnte; ja die Bauern führten sogar zu ihrem Vorteil vielfach Prozesse
gegen ihre Seigneurs. So waren die Bauern auch in den meisten Fällen "die
vollkommnen Eigentümer ihres Landes, das nur mit dinglichen, unablöslichen
Verpflichtungen belastet war". Im ganzen besaß der Bauer etwa ein Drittel
von Frankreich als Eigentum, das im allgemeinen durchaus nicht übermäßig
mit Abgaben belastet war. Andrerseits litt diese Agrarverfassung an mancherlei
schweren Schäden: die Freiheit des Güterkaufs war durch eine hohe Steuer
beim Verkauf von Zinsgütern und Lehen und durch die Unteilbarkeit vieler Lehen
beschränkt. Die Unablöslichkeit der dinglichen Lasten bedeutete für den Käufer
eine fühlbare Härte; die grundherrlichen Gerichte entbehrten besonders in bezug
auf die Strafrechtspflege der Gleichmäßigkeit. Die Hörigkeit endlich, soweit sie noch
bestand, empörte die allgemeine Empfindung. Auch die Dörfer hatten scheinbar
eine Selbstverwaltung, aber es stand damit wie mit der in kleinern Städten;
tatsächlich regierte der Intendant, und das war natürlich, da die Schulbildung
noch vielfach zu wünschen übrig ließ. Aber in den meisten Gemeinden gab es
doch eine Schule, und gegen drei Viertel aller Bauern konnten lesen und etwa
die Hälfte ihren Namen schreiben. Im allgemeinen mögen sie nicht anders ge¬
wesen sein als heutzutage: mißtrauisch, prozeßsüchtig und habsüchtig, aber auch
fleißig und fröhlich.

Die Frage, wie sich der Besitz auf die drei Stände verteilte, kann wissen¬
schaftlich genau noch nicht beantwortet werden, da noch mehrere Jahrzehnte ver¬
gehen werden, ehe die begonnene statistische Arbeit beendet sein wird. Nur so
viel steht fest, daß der Besitz der privilegierten Stände über das Land meist
sehr zerstückelt und in den einzelnen Provinzen sehr verschieden verteilt war,
und daß Großbetrieb durch Arbeiter zu den größten Seltenheiten gehörte. Der
Adel suchte seine Güter selten oder nie auf und gab sie meist in Pacht, und
auch die Pächter ganzer Güter taten diese wieder in kleinern oder in größern
Pachtungen aus. Erst seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts machte sich
ein Umschwung bemerkbar: englische Dichtungen und besonders Rousseau, die
das Landleben priesen, sowie die Nachahmung der englischen Gutsbesitzer, die
den größten Teil des Jahres auf ihren Gütern zubrachten, führten auch in
Frankreich zur Rückkehr zum Leben in der Natur. Immer häufiger kam es vor,
dnß Kleriker, Adliche, Bourgeois ihre Güter selbst bewirtschafteten, sie vermehrten
und abrnndeten, und die Zahl derer, die sogar im Auslande den Ruf tüchtiger
Ackerbauern genossen, wurde immer größer. Andrerseits schrieb sich das Elend
vieler Bauern daher, daß ihre Wirtschaften einen zu kleinen Umfang hatten, zu
schlecht bearbeitet wurden und zu große Lasten zu tragen hatten; und doch zeigte
sich auch in der Lebensführung der Bauern etwa seit 1750 eine entschiedn?
Besserung. Vollends in hoher Blüte stand seit dieser Zeit die Industrie des Landes,
die den Handels- und Industriestädten einen mächtigen Aufschwung verlieh.

Man hat die geschichtliche Frage aufgeworfen, ob der Ausbruch der fran¬
zösischen Revolution durch "die Zustünde" allein oder durch die Aufklärungs-


Vorgeschichte der französischen Revolution von 1,739

Rede sein konnte; ja die Bauern führten sogar zu ihrem Vorteil vielfach Prozesse
gegen ihre Seigneurs. So waren die Bauern auch in den meisten Fällen „die
vollkommnen Eigentümer ihres Landes, das nur mit dinglichen, unablöslichen
Verpflichtungen belastet war". Im ganzen besaß der Bauer etwa ein Drittel
von Frankreich als Eigentum, das im allgemeinen durchaus nicht übermäßig
mit Abgaben belastet war. Andrerseits litt diese Agrarverfassung an mancherlei
schweren Schäden: die Freiheit des Güterkaufs war durch eine hohe Steuer
beim Verkauf von Zinsgütern und Lehen und durch die Unteilbarkeit vieler Lehen
beschränkt. Die Unablöslichkeit der dinglichen Lasten bedeutete für den Käufer
eine fühlbare Härte; die grundherrlichen Gerichte entbehrten besonders in bezug
auf die Strafrechtspflege der Gleichmäßigkeit. Die Hörigkeit endlich, soweit sie noch
bestand, empörte die allgemeine Empfindung. Auch die Dörfer hatten scheinbar
eine Selbstverwaltung, aber es stand damit wie mit der in kleinern Städten;
tatsächlich regierte der Intendant, und das war natürlich, da die Schulbildung
noch vielfach zu wünschen übrig ließ. Aber in den meisten Gemeinden gab es
doch eine Schule, und gegen drei Viertel aller Bauern konnten lesen und etwa
die Hälfte ihren Namen schreiben. Im allgemeinen mögen sie nicht anders ge¬
wesen sein als heutzutage: mißtrauisch, prozeßsüchtig und habsüchtig, aber auch
fleißig und fröhlich.

Die Frage, wie sich der Besitz auf die drei Stände verteilte, kann wissen¬
schaftlich genau noch nicht beantwortet werden, da noch mehrere Jahrzehnte ver¬
gehen werden, ehe die begonnene statistische Arbeit beendet sein wird. Nur so
viel steht fest, daß der Besitz der privilegierten Stände über das Land meist
sehr zerstückelt und in den einzelnen Provinzen sehr verschieden verteilt war,
und daß Großbetrieb durch Arbeiter zu den größten Seltenheiten gehörte. Der
Adel suchte seine Güter selten oder nie auf und gab sie meist in Pacht, und
auch die Pächter ganzer Güter taten diese wieder in kleinern oder in größern
Pachtungen aus. Erst seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts machte sich
ein Umschwung bemerkbar: englische Dichtungen und besonders Rousseau, die
das Landleben priesen, sowie die Nachahmung der englischen Gutsbesitzer, die
den größten Teil des Jahres auf ihren Gütern zubrachten, führten auch in
Frankreich zur Rückkehr zum Leben in der Natur. Immer häufiger kam es vor,
dnß Kleriker, Adliche, Bourgeois ihre Güter selbst bewirtschafteten, sie vermehrten
und abrnndeten, und die Zahl derer, die sogar im Auslande den Ruf tüchtiger
Ackerbauern genossen, wurde immer größer. Andrerseits schrieb sich das Elend
vieler Bauern daher, daß ihre Wirtschaften einen zu kleinen Umfang hatten, zu
schlecht bearbeitet wurden und zu große Lasten zu tragen hatten; und doch zeigte
sich auch in der Lebensführung der Bauern etwa seit 1750 eine entschiedn?
Besserung. Vollends in hoher Blüte stand seit dieser Zeit die Industrie des Landes,
die den Handels- und Industriestädten einen mächtigen Aufschwung verlieh.

Man hat die geschichtliche Frage aufgeworfen, ob der Ausbruch der fran¬
zösischen Revolution durch „die Zustünde" allein oder durch die Aufklärungs-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0257" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/300044"/>
          <fw type="header" place="top"> Vorgeschichte der französischen Revolution von 1,739</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_909" prev="#ID_908"> Rede sein konnte; ja die Bauern führten sogar zu ihrem Vorteil vielfach Prozesse<lb/>
gegen ihre Seigneurs. So waren die Bauern auch in den meisten Fällen &#x201E;die<lb/>
vollkommnen Eigentümer ihres Landes, das nur mit dinglichen, unablöslichen<lb/>
Verpflichtungen belastet war". Im ganzen besaß der Bauer etwa ein Drittel<lb/>
von Frankreich als Eigentum, das im allgemeinen durchaus nicht übermäßig<lb/>
mit Abgaben belastet war. Andrerseits litt diese Agrarverfassung an mancherlei<lb/>
schweren Schäden: die Freiheit des Güterkaufs war durch eine hohe Steuer<lb/>
beim Verkauf von Zinsgütern und Lehen und durch die Unteilbarkeit vieler Lehen<lb/>
beschränkt. Die Unablöslichkeit der dinglichen Lasten bedeutete für den Käufer<lb/>
eine fühlbare Härte; die grundherrlichen Gerichte entbehrten besonders in bezug<lb/>
auf die Strafrechtspflege der Gleichmäßigkeit. Die Hörigkeit endlich, soweit sie noch<lb/>
bestand, empörte die allgemeine Empfindung. Auch die Dörfer hatten scheinbar<lb/>
eine Selbstverwaltung, aber es stand damit wie mit der in kleinern Städten;<lb/>
tatsächlich regierte der Intendant, und das war natürlich, da die Schulbildung<lb/>
noch vielfach zu wünschen übrig ließ. Aber in den meisten Gemeinden gab es<lb/>
doch eine Schule, und gegen drei Viertel aller Bauern konnten lesen und etwa<lb/>
die Hälfte ihren Namen schreiben. Im allgemeinen mögen sie nicht anders ge¬<lb/>
wesen sein als heutzutage: mißtrauisch, prozeßsüchtig und habsüchtig, aber auch<lb/>
fleißig und fröhlich.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_910"> Die Frage, wie sich der Besitz auf die drei Stände verteilte, kann wissen¬<lb/>
schaftlich genau noch nicht beantwortet werden, da noch mehrere Jahrzehnte ver¬<lb/>
gehen werden, ehe die begonnene statistische Arbeit beendet sein wird. Nur so<lb/>
viel steht fest, daß der Besitz der privilegierten Stände über das Land meist<lb/>
sehr zerstückelt und in den einzelnen Provinzen sehr verschieden verteilt war,<lb/>
und daß Großbetrieb durch Arbeiter zu den größten Seltenheiten gehörte. Der<lb/>
Adel suchte seine Güter selten oder nie auf und gab sie meist in Pacht, und<lb/>
auch die Pächter ganzer Güter taten diese wieder in kleinern oder in größern<lb/>
Pachtungen aus. Erst seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts machte sich<lb/>
ein Umschwung bemerkbar: englische Dichtungen und besonders Rousseau, die<lb/>
das Landleben priesen, sowie die Nachahmung der englischen Gutsbesitzer, die<lb/>
den größten Teil des Jahres auf ihren Gütern zubrachten, führten auch in<lb/>
Frankreich zur Rückkehr zum Leben in der Natur. Immer häufiger kam es vor,<lb/>
dnß Kleriker, Adliche, Bourgeois ihre Güter selbst bewirtschafteten, sie vermehrten<lb/>
und abrnndeten, und die Zahl derer, die sogar im Auslande den Ruf tüchtiger<lb/>
Ackerbauern genossen, wurde immer größer. Andrerseits schrieb sich das Elend<lb/>
vieler Bauern daher, daß ihre Wirtschaften einen zu kleinen Umfang hatten, zu<lb/>
schlecht bearbeitet wurden und zu große Lasten zu tragen hatten; und doch zeigte<lb/>
sich auch in der Lebensführung der Bauern etwa seit 1750 eine entschiedn?<lb/>
Besserung. Vollends in hoher Blüte stand seit dieser Zeit die Industrie des Landes,<lb/>
die den Handels- und Industriestädten einen mächtigen Aufschwung verlieh.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_911" next="#ID_912"> Man hat die geschichtliche Frage aufgeworfen, ob der Ausbruch der fran¬<lb/>
zösischen Revolution durch &#x201E;die Zustünde" allein oder durch die Aufklärungs-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0257] Vorgeschichte der französischen Revolution von 1,739 Rede sein konnte; ja die Bauern führten sogar zu ihrem Vorteil vielfach Prozesse gegen ihre Seigneurs. So waren die Bauern auch in den meisten Fällen „die vollkommnen Eigentümer ihres Landes, das nur mit dinglichen, unablöslichen Verpflichtungen belastet war". Im ganzen besaß der Bauer etwa ein Drittel von Frankreich als Eigentum, das im allgemeinen durchaus nicht übermäßig mit Abgaben belastet war. Andrerseits litt diese Agrarverfassung an mancherlei schweren Schäden: die Freiheit des Güterkaufs war durch eine hohe Steuer beim Verkauf von Zinsgütern und Lehen und durch die Unteilbarkeit vieler Lehen beschränkt. Die Unablöslichkeit der dinglichen Lasten bedeutete für den Käufer eine fühlbare Härte; die grundherrlichen Gerichte entbehrten besonders in bezug auf die Strafrechtspflege der Gleichmäßigkeit. Die Hörigkeit endlich, soweit sie noch bestand, empörte die allgemeine Empfindung. Auch die Dörfer hatten scheinbar eine Selbstverwaltung, aber es stand damit wie mit der in kleinern Städten; tatsächlich regierte der Intendant, und das war natürlich, da die Schulbildung noch vielfach zu wünschen übrig ließ. Aber in den meisten Gemeinden gab es doch eine Schule, und gegen drei Viertel aller Bauern konnten lesen und etwa die Hälfte ihren Namen schreiben. Im allgemeinen mögen sie nicht anders ge¬ wesen sein als heutzutage: mißtrauisch, prozeßsüchtig und habsüchtig, aber auch fleißig und fröhlich. Die Frage, wie sich der Besitz auf die drei Stände verteilte, kann wissen¬ schaftlich genau noch nicht beantwortet werden, da noch mehrere Jahrzehnte ver¬ gehen werden, ehe die begonnene statistische Arbeit beendet sein wird. Nur so viel steht fest, daß der Besitz der privilegierten Stände über das Land meist sehr zerstückelt und in den einzelnen Provinzen sehr verschieden verteilt war, und daß Großbetrieb durch Arbeiter zu den größten Seltenheiten gehörte. Der Adel suchte seine Güter selten oder nie auf und gab sie meist in Pacht, und auch die Pächter ganzer Güter taten diese wieder in kleinern oder in größern Pachtungen aus. Erst seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts machte sich ein Umschwung bemerkbar: englische Dichtungen und besonders Rousseau, die das Landleben priesen, sowie die Nachahmung der englischen Gutsbesitzer, die den größten Teil des Jahres auf ihren Gütern zubrachten, führten auch in Frankreich zur Rückkehr zum Leben in der Natur. Immer häufiger kam es vor, dnß Kleriker, Adliche, Bourgeois ihre Güter selbst bewirtschafteten, sie vermehrten und abrnndeten, und die Zahl derer, die sogar im Auslande den Ruf tüchtiger Ackerbauern genossen, wurde immer größer. Andrerseits schrieb sich das Elend vieler Bauern daher, daß ihre Wirtschaften einen zu kleinen Umfang hatten, zu schlecht bearbeitet wurden und zu große Lasten zu tragen hatten; und doch zeigte sich auch in der Lebensführung der Bauern etwa seit 1750 eine entschiedn? Besserung. Vollends in hoher Blüte stand seit dieser Zeit die Industrie des Landes, die den Handels- und Industriestädten einen mächtigen Aufschwung verlieh. Man hat die geschichtliche Frage aufgeworfen, ob der Ausbruch der fran¬ zösischen Revolution durch „die Zustünde" allein oder durch die Aufklärungs-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/257
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/257>, abgerufen am 27.12.2024.