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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Neue deutsche Romane

mit dem Gefühl hinweg, wirklich ein Stück Leben gesehen zu haben, dessen nach¬
erzählende Beobachterin nicht sehr warm, aber klug ist und doch auch poetische
Fühler hat.

Solche poetische Fühler, um in diesem Bilde zu bleiben, hat auch Ger¬
hard Heine, dessen erster Roman "Verschneite Seelen" (Dresden, Karl Meißner)
vor kurzem erschienen ist. Aber er tastet noch recht unsicher. Er hat den
Sinn für ein ungewöhnliches Bild, für die Schlagkraft einer starken Situation.
Aber er gibt unverbundne Gestalten. Die Menschen leben bei ihm neben¬
einander, nicht miteinander. Der Einfluß, den er den einen auf den andern
üben läßt, wird nicht recht glaubhaft, weil wir zu wenig von dein innern
Klang jedes Einzelnen vernehmen. Da ist der Hauptträger der Handlung,
der Hauslehrer Georg Leitmann; er ist der, von dem eine Wandlung in dem
freiherrlichen Hause seiner Zöglinge ausgeht. Aber steht er nicht ans viel zu
schwachen Beinen, als daß er so wirken könnte? Hat er wirkende Gedanken,
oder steckt er nicht in fremden Jdeengüngen zu tief drin, daß er -- mensch¬
lich und poetisch -- ein eignes Leben führen könnte? Und nur Leben kann
doch Leben zünden! Daran aber festes in Gerhard Heines Buch, wenn es
auch manche Verheißung birgt. Es ist hier nirgends kräftig vorbeigehauen,
wie sonst in Erstlingsbüchern. Aber es mangelt an der charakterisierenden
Konzentration. "Es ist seltsam, wie es zwei Menschen verbindet, wenn sie
zu geistigen Werten eine gleiche Stellung einnehmen." Gewiß ein feines
Wort und als Leidwort des Buches, wenn Heine es dafür gelten lassen will,
gut. Aber solche und andre Feinheiten führen über die Empfindung nicht
hinaus, daß hier erst Stoff ist, aber noch keine fertige Form. Es ist auch
bezeichnend, daß das ganze Buch um ein paar Grade zu ruhig erzählt ist.

Da ist Hermann Hesse freilich ein andrer Mann. Er findet den rechten,
fortschreitenden oder zurückhaltender Ton für seiue Handlung, und er beseelt
die Natur, daß wir sie atmen fühlen. Wie im "Peter Ccimenzind" findet sich
das alles auch in dem neuen Buch "Unterm Rad" (Berlin, S. Fischer). Und
dennoch war mir dieser Roman eine große Enttäuschung. Er gibt zwei Stücke
aus dem Leben eines begabten Jungen, der die Kraft nicht hat, das Maul-
bronner Seminar durchzumachen, vielleicht überhaupt in seiner Zartheit nicht
die Kraft zu leben, nud der früh aus diesem Leben abscheidet. Aber über¬
zeugend ist das nicht gegeben. Zu wenig erfahren wir von Hans Giebenrath,
wie er früher war, als daß wir die schnell einander folgenden Katastrophen
versteh" könnten, zu wenig auch, bei aller Detailmalerei, von seiner Umgebung-
Ich fürchte, die Tendenz hat Hesse hier einen recht bösen Streich gespielt, die
Tendenz, die sich richtet gegen die sogenannten Schulmeister. Es ist ja freilich
sehr modern und sehr billig, immer wieder Kinder zu schildern, die von un¬
vernünftigen Lehrern tot oder halbtot gequält werden. Ob es aber gerecht
und wahr ist? Gibt es denn nur Leute mit schlechten Schulerinnerungen?
Gibt es gar keine Gymnasiallehrer mehr (gegen Nvlksschullehrer darf ein


Neue deutsche Romane

mit dem Gefühl hinweg, wirklich ein Stück Leben gesehen zu haben, dessen nach¬
erzählende Beobachterin nicht sehr warm, aber klug ist und doch auch poetische
Fühler hat.

Solche poetische Fühler, um in diesem Bilde zu bleiben, hat auch Ger¬
hard Heine, dessen erster Roman „Verschneite Seelen" (Dresden, Karl Meißner)
vor kurzem erschienen ist. Aber er tastet noch recht unsicher. Er hat den
Sinn für ein ungewöhnliches Bild, für die Schlagkraft einer starken Situation.
Aber er gibt unverbundne Gestalten. Die Menschen leben bei ihm neben¬
einander, nicht miteinander. Der Einfluß, den er den einen auf den andern
üben läßt, wird nicht recht glaubhaft, weil wir zu wenig von dein innern
Klang jedes Einzelnen vernehmen. Da ist der Hauptträger der Handlung,
der Hauslehrer Georg Leitmann; er ist der, von dem eine Wandlung in dem
freiherrlichen Hause seiner Zöglinge ausgeht. Aber steht er nicht ans viel zu
schwachen Beinen, als daß er so wirken könnte? Hat er wirkende Gedanken,
oder steckt er nicht in fremden Jdeengüngen zu tief drin, daß er — mensch¬
lich und poetisch — ein eignes Leben führen könnte? Und nur Leben kann
doch Leben zünden! Daran aber festes in Gerhard Heines Buch, wenn es
auch manche Verheißung birgt. Es ist hier nirgends kräftig vorbeigehauen,
wie sonst in Erstlingsbüchern. Aber es mangelt an der charakterisierenden
Konzentration. „Es ist seltsam, wie es zwei Menschen verbindet, wenn sie
zu geistigen Werten eine gleiche Stellung einnehmen." Gewiß ein feines
Wort und als Leidwort des Buches, wenn Heine es dafür gelten lassen will,
gut. Aber solche und andre Feinheiten führen über die Empfindung nicht
hinaus, daß hier erst Stoff ist, aber noch keine fertige Form. Es ist auch
bezeichnend, daß das ganze Buch um ein paar Grade zu ruhig erzählt ist.

Da ist Hermann Hesse freilich ein andrer Mann. Er findet den rechten,
fortschreitenden oder zurückhaltender Ton für seiue Handlung, und er beseelt
die Natur, daß wir sie atmen fühlen. Wie im „Peter Ccimenzind" findet sich
das alles auch in dem neuen Buch „Unterm Rad" (Berlin, S. Fischer). Und
dennoch war mir dieser Roman eine große Enttäuschung. Er gibt zwei Stücke
aus dem Leben eines begabten Jungen, der die Kraft nicht hat, das Maul-
bronner Seminar durchzumachen, vielleicht überhaupt in seiner Zartheit nicht
die Kraft zu leben, nud der früh aus diesem Leben abscheidet. Aber über¬
zeugend ist das nicht gegeben. Zu wenig erfahren wir von Hans Giebenrath,
wie er früher war, als daß wir die schnell einander folgenden Katastrophen
versteh» könnten, zu wenig auch, bei aller Detailmalerei, von seiner Umgebung-
Ich fürchte, die Tendenz hat Hesse hier einen recht bösen Streich gespielt, die
Tendenz, die sich richtet gegen die sogenannten Schulmeister. Es ist ja freilich
sehr modern und sehr billig, immer wieder Kinder zu schildern, die von un¬
vernünftigen Lehrern tot oder halbtot gequält werden. Ob es aber gerecht
und wahr ist? Gibt es denn nur Leute mit schlechten Schulerinnerungen?
Gibt es gar keine Gymnasiallehrer mehr (gegen Nvlksschullehrer darf ein


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[0220] Neue deutsche Romane mit dem Gefühl hinweg, wirklich ein Stück Leben gesehen zu haben, dessen nach¬ erzählende Beobachterin nicht sehr warm, aber klug ist und doch auch poetische Fühler hat. Solche poetische Fühler, um in diesem Bilde zu bleiben, hat auch Ger¬ hard Heine, dessen erster Roman „Verschneite Seelen" (Dresden, Karl Meißner) vor kurzem erschienen ist. Aber er tastet noch recht unsicher. Er hat den Sinn für ein ungewöhnliches Bild, für die Schlagkraft einer starken Situation. Aber er gibt unverbundne Gestalten. Die Menschen leben bei ihm neben¬ einander, nicht miteinander. Der Einfluß, den er den einen auf den andern üben läßt, wird nicht recht glaubhaft, weil wir zu wenig von dein innern Klang jedes Einzelnen vernehmen. Da ist der Hauptträger der Handlung, der Hauslehrer Georg Leitmann; er ist der, von dem eine Wandlung in dem freiherrlichen Hause seiner Zöglinge ausgeht. Aber steht er nicht ans viel zu schwachen Beinen, als daß er so wirken könnte? Hat er wirkende Gedanken, oder steckt er nicht in fremden Jdeengüngen zu tief drin, daß er — mensch¬ lich und poetisch — ein eignes Leben führen könnte? Und nur Leben kann doch Leben zünden! Daran aber festes in Gerhard Heines Buch, wenn es auch manche Verheißung birgt. Es ist hier nirgends kräftig vorbeigehauen, wie sonst in Erstlingsbüchern. Aber es mangelt an der charakterisierenden Konzentration. „Es ist seltsam, wie es zwei Menschen verbindet, wenn sie zu geistigen Werten eine gleiche Stellung einnehmen." Gewiß ein feines Wort und als Leidwort des Buches, wenn Heine es dafür gelten lassen will, gut. Aber solche und andre Feinheiten führen über die Empfindung nicht hinaus, daß hier erst Stoff ist, aber noch keine fertige Form. Es ist auch bezeichnend, daß das ganze Buch um ein paar Grade zu ruhig erzählt ist. Da ist Hermann Hesse freilich ein andrer Mann. Er findet den rechten, fortschreitenden oder zurückhaltender Ton für seiue Handlung, und er beseelt die Natur, daß wir sie atmen fühlen. Wie im „Peter Ccimenzind" findet sich das alles auch in dem neuen Buch „Unterm Rad" (Berlin, S. Fischer). Und dennoch war mir dieser Roman eine große Enttäuschung. Er gibt zwei Stücke aus dem Leben eines begabten Jungen, der die Kraft nicht hat, das Maul- bronner Seminar durchzumachen, vielleicht überhaupt in seiner Zartheit nicht die Kraft zu leben, nud der früh aus diesem Leben abscheidet. Aber über¬ zeugend ist das nicht gegeben. Zu wenig erfahren wir von Hans Giebenrath, wie er früher war, als daß wir die schnell einander folgenden Katastrophen versteh» könnten, zu wenig auch, bei aller Detailmalerei, von seiner Umgebung- Ich fürchte, die Tendenz hat Hesse hier einen recht bösen Streich gespielt, die Tendenz, die sich richtet gegen die sogenannten Schulmeister. Es ist ja freilich sehr modern und sehr billig, immer wieder Kinder zu schildern, die von un¬ vernünftigen Lehrern tot oder halbtot gequält werden. Ob es aber gerecht und wahr ist? Gibt es denn nur Leute mit schlechten Schulerinnerungen? Gibt es gar keine Gymnasiallehrer mehr (gegen Nvlksschullehrer darf ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/220>, abgerufen am 25.08.2024.