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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Neue deutsche Romane

der Bahnlinie nach Fürth. Und die als treibende Kraft hineingestellte Persön¬
lichkeit des Bürgermeisters Sebastian Rottmann darf Interesse und auch als
dichterische Gestalt Würdigung beanspruchen. Sonst aber ist vieles zu un¬
persönlich, zu wenig vermenschlicht. Das zeigt sich besonders in der unglück¬
lichen Liebesgeschichte von Anne Nottmcmn, der Tochter Sebastians. Beginn
und Ende dieser Liebe bringen so oft abgewandelte Motive, daß Lu Volbchr
viel tiefer hätte schürfen müssen, um uns gerade so häufig Wiederkehrendes in
diesem besondern Falle verständlich und wertvoll zu machen.

Mitten zwischen diesen beiden Frauen hindurch geht eine dritte, Klaus
Nittland. Klara Viebig ringt eifervoll nach Früchten, die ihr nimmer reifen
werden; Lu Volbehr klammert sich mit liebewarmem Herzen so fest an das
Bild der Heimat, daß sie verabsäumt, uns ihre Landsleute um auch wirklich
ganz zu geben; Klaus Nittland kennt genau die Grenzen ihrer Kraft, bleibt
im heimischen Bezirk und stellt ihre Menschen nüchtern und sachlich, durchaus
wahrscheinlich vor uns hin -- die Poesie behält sie für eine Gestalt. "Frau
Jrmgards Enttäuschungen" (Dresden, Karl Reißner) heißt ihr neues Buch, und
der Untertitel "Roman aus dem Leben einer schönen Familie" weist schon auf
das Milieu hin: eine althannöversche Bürgerfamilie, die mit Preußen nach
der Annexion schlecht und recht ihren Frieden gemacht hat, und deren einer
Zweig jetzt in Göttingen ansässig ist. Das Fcnnilienhanpt ist dort Professor
des Staatsrechts, Geheimrat, ein Mann von weitem Ruf, freilich schon etwas
überholt. Die vier Kinder aber werden alle anders, als die Eltern sie
wünschen -- das eben sind der Mutter Enttäuschungen. Der eine Sohn
wird nicht, wie der Vater will, Dozent, sondern früh Gymnasiallehrer, um
eine heimatlose Studentin heiraten zu können, der andre ein glatter Streber.
Von den Töchtern wird die ältere, der kein Eheglück erblüht, eine nur auf
Erlverb bedachte Pensionsmutter, die andre erobert sich den geliebten Mann,
im starken Drang ihrer Neigung, über alle Hemmnisse seiner ersten Ehe hin¬
weg. Und so bleibt nach dem Tode des Gatten die Mutter Irmgard in
einem äußerlich wohlgeordneten Familienkreise doch ohne innere Befriedigung
zurück. Keiner hat ihre tiefste Sehnsucht erfüllt, die über das äußerlich Er¬
folgreiche, den gesellschaftlichen Glanz hinausging -- wonach eigentlich? Sie
weiß es wohl selbst nicht recht. Und diese jugendliche Fähigkeit zur Sehn¬
sucht und Erwartung bei der alternden Frau gibt dieser fein gezeichneten
Figur und dem ganzen Buche einen Hauch Poesie. Zu sehr ins Gesicht
hinein wird sonst alles gesagt -- hier aber blüht ein verschwiegnes Leben
aus Eignen. Und diese Frau Irmgard hebt das Buch über das Niveau eines
bloßen, freilich sehr lebendigen Unterhaltungsromans hinaus, in dem besonders
das Göttinger Universitätsleben hübsch, und ohne daß zu stark aufgetragen
würde, gemalt wird. Die einzelnen von außen her in die Gehcimratsfamilie
hinübergreifenden Gestalten -- besonders die Verwandtschaft -- sind echt und
oft mit gutem Humor dargestellt. So liest man über die zwei starken Bünde


Neue deutsche Romane

der Bahnlinie nach Fürth. Und die als treibende Kraft hineingestellte Persön¬
lichkeit des Bürgermeisters Sebastian Rottmann darf Interesse und auch als
dichterische Gestalt Würdigung beanspruchen. Sonst aber ist vieles zu un¬
persönlich, zu wenig vermenschlicht. Das zeigt sich besonders in der unglück¬
lichen Liebesgeschichte von Anne Nottmcmn, der Tochter Sebastians. Beginn
und Ende dieser Liebe bringen so oft abgewandelte Motive, daß Lu Volbchr
viel tiefer hätte schürfen müssen, um uns gerade so häufig Wiederkehrendes in
diesem besondern Falle verständlich und wertvoll zu machen.

Mitten zwischen diesen beiden Frauen hindurch geht eine dritte, Klaus
Nittland. Klara Viebig ringt eifervoll nach Früchten, die ihr nimmer reifen
werden; Lu Volbehr klammert sich mit liebewarmem Herzen so fest an das
Bild der Heimat, daß sie verabsäumt, uns ihre Landsleute um auch wirklich
ganz zu geben; Klaus Nittland kennt genau die Grenzen ihrer Kraft, bleibt
im heimischen Bezirk und stellt ihre Menschen nüchtern und sachlich, durchaus
wahrscheinlich vor uns hin — die Poesie behält sie für eine Gestalt. „Frau
Jrmgards Enttäuschungen" (Dresden, Karl Reißner) heißt ihr neues Buch, und
der Untertitel „Roman aus dem Leben einer schönen Familie" weist schon auf
das Milieu hin: eine althannöversche Bürgerfamilie, die mit Preußen nach
der Annexion schlecht und recht ihren Frieden gemacht hat, und deren einer
Zweig jetzt in Göttingen ansässig ist. Das Fcnnilienhanpt ist dort Professor
des Staatsrechts, Geheimrat, ein Mann von weitem Ruf, freilich schon etwas
überholt. Die vier Kinder aber werden alle anders, als die Eltern sie
wünschen — das eben sind der Mutter Enttäuschungen. Der eine Sohn
wird nicht, wie der Vater will, Dozent, sondern früh Gymnasiallehrer, um
eine heimatlose Studentin heiraten zu können, der andre ein glatter Streber.
Von den Töchtern wird die ältere, der kein Eheglück erblüht, eine nur auf
Erlverb bedachte Pensionsmutter, die andre erobert sich den geliebten Mann,
im starken Drang ihrer Neigung, über alle Hemmnisse seiner ersten Ehe hin¬
weg. Und so bleibt nach dem Tode des Gatten die Mutter Irmgard in
einem äußerlich wohlgeordneten Familienkreise doch ohne innere Befriedigung
zurück. Keiner hat ihre tiefste Sehnsucht erfüllt, die über das äußerlich Er¬
folgreiche, den gesellschaftlichen Glanz hinausging — wonach eigentlich? Sie
weiß es wohl selbst nicht recht. Und diese jugendliche Fähigkeit zur Sehn¬
sucht und Erwartung bei der alternden Frau gibt dieser fein gezeichneten
Figur und dem ganzen Buche einen Hauch Poesie. Zu sehr ins Gesicht
hinein wird sonst alles gesagt — hier aber blüht ein verschwiegnes Leben
aus Eignen. Und diese Frau Irmgard hebt das Buch über das Niveau eines
bloßen, freilich sehr lebendigen Unterhaltungsromans hinaus, in dem besonders
das Göttinger Universitätsleben hübsch, und ohne daß zu stark aufgetragen
würde, gemalt wird. Die einzelnen von außen her in die Gehcimratsfamilie
hinübergreifenden Gestalten — besonders die Verwandtschaft — sind echt und
oft mit gutem Humor dargestellt. So liest man über die zwei starken Bünde


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[0219] Neue deutsche Romane der Bahnlinie nach Fürth. Und die als treibende Kraft hineingestellte Persön¬ lichkeit des Bürgermeisters Sebastian Rottmann darf Interesse und auch als dichterische Gestalt Würdigung beanspruchen. Sonst aber ist vieles zu un¬ persönlich, zu wenig vermenschlicht. Das zeigt sich besonders in der unglück¬ lichen Liebesgeschichte von Anne Nottmcmn, der Tochter Sebastians. Beginn und Ende dieser Liebe bringen so oft abgewandelte Motive, daß Lu Volbchr viel tiefer hätte schürfen müssen, um uns gerade so häufig Wiederkehrendes in diesem besondern Falle verständlich und wertvoll zu machen. Mitten zwischen diesen beiden Frauen hindurch geht eine dritte, Klaus Nittland. Klara Viebig ringt eifervoll nach Früchten, die ihr nimmer reifen werden; Lu Volbehr klammert sich mit liebewarmem Herzen so fest an das Bild der Heimat, daß sie verabsäumt, uns ihre Landsleute um auch wirklich ganz zu geben; Klaus Nittland kennt genau die Grenzen ihrer Kraft, bleibt im heimischen Bezirk und stellt ihre Menschen nüchtern und sachlich, durchaus wahrscheinlich vor uns hin — die Poesie behält sie für eine Gestalt. „Frau Jrmgards Enttäuschungen" (Dresden, Karl Reißner) heißt ihr neues Buch, und der Untertitel „Roman aus dem Leben einer schönen Familie" weist schon auf das Milieu hin: eine althannöversche Bürgerfamilie, die mit Preußen nach der Annexion schlecht und recht ihren Frieden gemacht hat, und deren einer Zweig jetzt in Göttingen ansässig ist. Das Fcnnilienhanpt ist dort Professor des Staatsrechts, Geheimrat, ein Mann von weitem Ruf, freilich schon etwas überholt. Die vier Kinder aber werden alle anders, als die Eltern sie wünschen — das eben sind der Mutter Enttäuschungen. Der eine Sohn wird nicht, wie der Vater will, Dozent, sondern früh Gymnasiallehrer, um eine heimatlose Studentin heiraten zu können, der andre ein glatter Streber. Von den Töchtern wird die ältere, der kein Eheglück erblüht, eine nur auf Erlverb bedachte Pensionsmutter, die andre erobert sich den geliebten Mann, im starken Drang ihrer Neigung, über alle Hemmnisse seiner ersten Ehe hin¬ weg. Und so bleibt nach dem Tode des Gatten die Mutter Irmgard in einem äußerlich wohlgeordneten Familienkreise doch ohne innere Befriedigung zurück. Keiner hat ihre tiefste Sehnsucht erfüllt, die über das äußerlich Er¬ folgreiche, den gesellschaftlichen Glanz hinausging — wonach eigentlich? Sie weiß es wohl selbst nicht recht. Und diese jugendliche Fähigkeit zur Sehn¬ sucht und Erwartung bei der alternden Frau gibt dieser fein gezeichneten Figur und dem ganzen Buche einen Hauch Poesie. Zu sehr ins Gesicht hinein wird sonst alles gesagt — hier aber blüht ein verschwiegnes Leben aus Eignen. Und diese Frau Irmgard hebt das Buch über das Niveau eines bloßen, freilich sehr lebendigen Unterhaltungsromans hinaus, in dem besonders das Göttinger Universitätsleben hübsch, und ohne daß zu stark aufgetragen würde, gemalt wird. Die einzelnen von außen her in die Gehcimratsfamilie hinübergreifenden Gestalten — besonders die Verwandtschaft — sind echt und oft mit gutem Humor dargestellt. So liest man über die zwei starken Bünde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/219>, abgerufen am 27.12.2024.