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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Neue deutsche Romane

"moderner" Autor nichts sagen), die voll Verständnis für ihre Jungen sind?
Natürlich gibt es sie. Natürlich gibt es aufrechte, liebevolle, treue Münner
unter ihnen. Warum also wird uns dieser Teil des nationalen Lebens fort¬
während verfälscht von nicht verächtlichen Poeten? Weil wirklich auch an unsern
Gymnasien manches faul ist? Oder vielleicht, weil der höhere Lehrer in einer
gärenden Übergangszeit der Schwere seiner Aufgabe nicht immer ganz gerecht
werden konnte, in die Berufne und Unberufne ihm beständig hineinredeten?
Sei das, wie es sei -- der Fall Hesse ist typisch. Sobald er auf die Schule
und die Professoren kommt, wird seine Gestaltung unwahr, schemenhaft,
Schablone, und zwar keine Schablone nach schöner Zeichnung. Sonst, im
"Peter Camenzind", zeigte Hesse eine an Gottfried Keller geschulte Sinnfällig¬
keit -- jetzt, nur zu oft in "Unterm Rad", tritt an deren Stelle eine ironische
Betrachtungsweise, wie sie etwa den begabten Brüdern Thomas und Heinrich
Mann eigen ist. Es rächt sich, daß Hermann Hesse, dessen von Karl Busse
entdeckte lyrische Begabung ich übrigens über seine epische stelle, mit einem
bestimmten "modernen" Kreise emporgekommen ist. Bezeichnenderweise spielt
das Wort "modern" auch in "Unterm Rad" eine Rolle. Es ist der Geist
Pretiöser und mondäner, dem Deutschen innerlich fremder Weltbetrachtung, der
diesen Schwaben gefangen hat, und der etwa mit Wilhelm Raabes tiefglühender
Ironie nichts zu tun hat. Wilhelm Raabes Weltanschauung sieht alles in
dem Lichte der Sterne, die über uns leuchten, und empfindet deshalb irdische
Konflikte als Durchgänge zur Ewigkeit. Jene dekadente, dabei in ihrer
Dekadenz oft erschütternde und eigentümliche Poesie sieht alles nur im Lichte
des eignen, übersensitiven Ichs, das alle Dinge nach sich abschattiert. Und
diese Art des Schemens schlägt auch durch Hesses neues Werk, wenn er sich
auch -- es wirkt in diesem Zusammenhang fast amüsant -- an einer Stelle
auf den Schwaben mit der "altmodischen Leier" aufspielt und den "nördlicher
wohnenden Brüdern" eins auswischt. Allerdings hat diese "Moderne" ihr
Heim hauptsächlich in München und in Wien, und in Berlin nur ihre be¬
geisterten Verkünder. Man darf diesen ihre Freude gönnen und kann sich an
Hofmannsthal und Thomas Mann selbst sehr freuen, wenn sie Schönes
bieten; aber, wie Fontane sagt, "Haare apart und Kotelette apart": die große
deutsche Linie aufsteigender Entwicklung von Goethe und Schiller, Kleist und
Hebbel, von Ludwig, Raabe und Storm geht an jener mondänen Verfallkunst
gewißlich vorüber, und es wäre jammerschade, wenn ein Talent wie Hermann
Hess Heinrich Sxiero e von seiner geraden Bahn in einen Irrweg ablenkte.




Grenzboten III 1906M
Neue deutsche Romane

„moderner" Autor nichts sagen), die voll Verständnis für ihre Jungen sind?
Natürlich gibt es sie. Natürlich gibt es aufrechte, liebevolle, treue Münner
unter ihnen. Warum also wird uns dieser Teil des nationalen Lebens fort¬
während verfälscht von nicht verächtlichen Poeten? Weil wirklich auch an unsern
Gymnasien manches faul ist? Oder vielleicht, weil der höhere Lehrer in einer
gärenden Übergangszeit der Schwere seiner Aufgabe nicht immer ganz gerecht
werden konnte, in die Berufne und Unberufne ihm beständig hineinredeten?
Sei das, wie es sei — der Fall Hesse ist typisch. Sobald er auf die Schule
und die Professoren kommt, wird seine Gestaltung unwahr, schemenhaft,
Schablone, und zwar keine Schablone nach schöner Zeichnung. Sonst, im
„Peter Camenzind", zeigte Hesse eine an Gottfried Keller geschulte Sinnfällig¬
keit — jetzt, nur zu oft in „Unterm Rad", tritt an deren Stelle eine ironische
Betrachtungsweise, wie sie etwa den begabten Brüdern Thomas und Heinrich
Mann eigen ist. Es rächt sich, daß Hermann Hesse, dessen von Karl Busse
entdeckte lyrische Begabung ich übrigens über seine epische stelle, mit einem
bestimmten „modernen" Kreise emporgekommen ist. Bezeichnenderweise spielt
das Wort „modern" auch in „Unterm Rad" eine Rolle. Es ist der Geist
Pretiöser und mondäner, dem Deutschen innerlich fremder Weltbetrachtung, der
diesen Schwaben gefangen hat, und der etwa mit Wilhelm Raabes tiefglühender
Ironie nichts zu tun hat. Wilhelm Raabes Weltanschauung sieht alles in
dem Lichte der Sterne, die über uns leuchten, und empfindet deshalb irdische
Konflikte als Durchgänge zur Ewigkeit. Jene dekadente, dabei in ihrer
Dekadenz oft erschütternde und eigentümliche Poesie sieht alles nur im Lichte
des eignen, übersensitiven Ichs, das alle Dinge nach sich abschattiert. Und
diese Art des Schemens schlägt auch durch Hesses neues Werk, wenn er sich
auch — es wirkt in diesem Zusammenhang fast amüsant — an einer Stelle
auf den Schwaben mit der „altmodischen Leier" aufspielt und den „nördlicher
wohnenden Brüdern" eins auswischt. Allerdings hat diese „Moderne" ihr
Heim hauptsächlich in München und in Wien, und in Berlin nur ihre be¬
geisterten Verkünder. Man darf diesen ihre Freude gönnen und kann sich an
Hofmannsthal und Thomas Mann selbst sehr freuen, wenn sie Schönes
bieten; aber, wie Fontane sagt, „Haare apart und Kotelette apart": die große
deutsche Linie aufsteigender Entwicklung von Goethe und Schiller, Kleist und
Hebbel, von Ludwig, Raabe und Storm geht an jener mondänen Verfallkunst
gewißlich vorüber, und es wäre jammerschade, wenn ein Talent wie Hermann
Hess Heinrich Sxiero e von seiner geraden Bahn in einen Irrweg ablenkte.




Grenzboten III 1906M
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[0221] Neue deutsche Romane „moderner" Autor nichts sagen), die voll Verständnis für ihre Jungen sind? Natürlich gibt es sie. Natürlich gibt es aufrechte, liebevolle, treue Münner unter ihnen. Warum also wird uns dieser Teil des nationalen Lebens fort¬ während verfälscht von nicht verächtlichen Poeten? Weil wirklich auch an unsern Gymnasien manches faul ist? Oder vielleicht, weil der höhere Lehrer in einer gärenden Übergangszeit der Schwere seiner Aufgabe nicht immer ganz gerecht werden konnte, in die Berufne und Unberufne ihm beständig hineinredeten? Sei das, wie es sei — der Fall Hesse ist typisch. Sobald er auf die Schule und die Professoren kommt, wird seine Gestaltung unwahr, schemenhaft, Schablone, und zwar keine Schablone nach schöner Zeichnung. Sonst, im „Peter Camenzind", zeigte Hesse eine an Gottfried Keller geschulte Sinnfällig¬ keit — jetzt, nur zu oft in „Unterm Rad", tritt an deren Stelle eine ironische Betrachtungsweise, wie sie etwa den begabten Brüdern Thomas und Heinrich Mann eigen ist. Es rächt sich, daß Hermann Hesse, dessen von Karl Busse entdeckte lyrische Begabung ich übrigens über seine epische stelle, mit einem bestimmten „modernen" Kreise emporgekommen ist. Bezeichnenderweise spielt das Wort „modern" auch in „Unterm Rad" eine Rolle. Es ist der Geist Pretiöser und mondäner, dem Deutschen innerlich fremder Weltbetrachtung, der diesen Schwaben gefangen hat, und der etwa mit Wilhelm Raabes tiefglühender Ironie nichts zu tun hat. Wilhelm Raabes Weltanschauung sieht alles in dem Lichte der Sterne, die über uns leuchten, und empfindet deshalb irdische Konflikte als Durchgänge zur Ewigkeit. Jene dekadente, dabei in ihrer Dekadenz oft erschütternde und eigentümliche Poesie sieht alles nur im Lichte des eignen, übersensitiven Ichs, das alle Dinge nach sich abschattiert. Und diese Art des Schemens schlägt auch durch Hesses neues Werk, wenn er sich auch — es wirkt in diesem Zusammenhang fast amüsant — an einer Stelle auf den Schwaben mit der „altmodischen Leier" aufspielt und den „nördlicher wohnenden Brüdern" eins auswischt. Allerdings hat diese „Moderne" ihr Heim hauptsächlich in München und in Wien, und in Berlin nur ihre be¬ geisterten Verkünder. Man darf diesen ihre Freude gönnen und kann sich an Hofmannsthal und Thomas Mann selbst sehr freuen, wenn sie Schönes bieten; aber, wie Fontane sagt, „Haare apart und Kotelette apart": die große deutsche Linie aufsteigender Entwicklung von Goethe und Schiller, Kleist und Hebbel, von Ludwig, Raabe und Storm geht an jener mondänen Verfallkunst gewißlich vorüber, und es wäre jammerschade, wenn ein Talent wie Hermann Hess Heinrich Sxiero e von seiner geraden Bahn in einen Irrweg ablenkte. Grenzboten III 1906M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/221>, abgerufen am 23.07.2024.