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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr.

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Line neue Arbeiterpartei

Arbeitswilligen nahmen den Schimpfnamen an. Die neue Bewegung war
getauft.

Die Führung der Gelben ging in die Hand eines gewissen Lanoir über,
der seinerzeit eine große Rolle gespielt hat, auch in den der Negierung nahe¬
stehenden Kreisen, der aber die neuen Syndikate ganz einfach als ein gutes
Geschäft für sich ansah, und der sehr bald in den Verdacht kam, mit der
Polizei und mit dem Unternehmertum unter einer Decke zu stecken. Die Pläne
Lanoirs gingen nicht über die Gründung von Amel-Streikvereinen hinaus, und
auch die andern Gelben hatten nur eine negative Abwehrpolitik gegen die
roten Syndikate im Auge. Ein Verdienst hatte aber Lanoir: er wies zuerst
auf die Notwendigkeit hin, sich eine eigne Arbeitsbörse, eine LourM 6u IravAil
inäöxenäWto, zu schaffen, die denn auch in der Rue des Vertus eingerichtet
wurde. Der Höhepunkt dieser ersten gelben Bewegung war der Kongreß der
Unabhängigen im März 1902. Man stand vor den Wahlen, und viele Poli¬
tiker umschmeichelten die neuen Syndikate, weil sie auf ihre Unterstützung
hofften. Im Dezember 1901 hatte Präsident Loubet schon eine Abordnung
der Lourss ma^xsuZg-mes empfangen und sie seiner Sympathien versichert.
Der Fehler war, daß sich Lanoir zu sehr ins Schlepptau nehmen ließ von
keineswegs uneigennützigen Parlamentariern, und daß er die neuen Syndikate
mit pekuniärer Unterstützung des Staates und der Arbeitgeber ausbauen
wollte. Dadurch wurde die Selbständigkeit gefährdet. Unmittelbar nach dem
Kongreß vom März 1902 kam es zur Trennung.

Die Dissidenten, deren Haupt Bietry wurde, hatten nicht nur gegen die
Roten, sondern auch gegen Lanoir zu kämpfen, der die Arbeitsbörse und ein
Preßorgan zur Verfügung hatte. Trotzdem gründete man unverzagt am
1. April 1902 die Mäkration nationale ass Zaunes as ^rainzo. Auch in den
Kundgebungen dieser Gruppe ist von einer Trennung von den sozialistischen
Theorien an sich noch keine Rede. Man fordert Verbesserung der Lebens¬
bedingungen für die Arbeiter, Anteil am Gewinn, Abmessung der Arbeits¬
zeit nach Vertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Genossenschaften,
Arbeiterpensionen usw. -- vor allem ist man aber gegen jeden Streik poli¬
tischen Charakters. Das Organ der Partei verkündete, daß man den "wahren
französischen Sozialismus" begründen wolle. Die?sa6ration konnte sich aber
nicht über Wasser halten. Im August 1902 ging der Ouvrier inäoxönäant
ein, und die ?6äA-at,ion hatte kein Heim mehr. Im Dezember 1902 ging
man aber schon wieder an die Organisation einer neuen Gruppe, die das in
Mißkredit gekommne Wort "Gelbe" fallen ließ und sich ?arti Looialisw
national nannte. In dem Blatt, das man herausgab, tauchen zum erstenmal
antisozialistische Gedanken auf: nicht Enteignung der Besitzenden, sondern
im Gegenteil die Möglichkeit für jeden, sich Eigentum zu erwerben! In der
Rue de la Corderie eröffnete man eine neue Arbeitsbörse, die ?r6iniöro Lourss
livre <Zu?ravail. Die Bewegung breitete sich aus; in Havre, Boulogne-sur-


Line neue Arbeiterpartei

Arbeitswilligen nahmen den Schimpfnamen an. Die neue Bewegung war
getauft.

Die Führung der Gelben ging in die Hand eines gewissen Lanoir über,
der seinerzeit eine große Rolle gespielt hat, auch in den der Negierung nahe¬
stehenden Kreisen, der aber die neuen Syndikate ganz einfach als ein gutes
Geschäft für sich ansah, und der sehr bald in den Verdacht kam, mit der
Polizei und mit dem Unternehmertum unter einer Decke zu stecken. Die Pläne
Lanoirs gingen nicht über die Gründung von Amel-Streikvereinen hinaus, und
auch die andern Gelben hatten nur eine negative Abwehrpolitik gegen die
roten Syndikate im Auge. Ein Verdienst hatte aber Lanoir: er wies zuerst
auf die Notwendigkeit hin, sich eine eigne Arbeitsbörse, eine LourM 6u IravAil
inäöxenäWto, zu schaffen, die denn auch in der Rue des Vertus eingerichtet
wurde. Der Höhepunkt dieser ersten gelben Bewegung war der Kongreß der
Unabhängigen im März 1902. Man stand vor den Wahlen, und viele Poli¬
tiker umschmeichelten die neuen Syndikate, weil sie auf ihre Unterstützung
hofften. Im Dezember 1901 hatte Präsident Loubet schon eine Abordnung
der Lourss ma^xsuZg-mes empfangen und sie seiner Sympathien versichert.
Der Fehler war, daß sich Lanoir zu sehr ins Schlepptau nehmen ließ von
keineswegs uneigennützigen Parlamentariern, und daß er die neuen Syndikate
mit pekuniärer Unterstützung des Staates und der Arbeitgeber ausbauen
wollte. Dadurch wurde die Selbständigkeit gefährdet. Unmittelbar nach dem
Kongreß vom März 1902 kam es zur Trennung.

Die Dissidenten, deren Haupt Bietry wurde, hatten nicht nur gegen die
Roten, sondern auch gegen Lanoir zu kämpfen, der die Arbeitsbörse und ein
Preßorgan zur Verfügung hatte. Trotzdem gründete man unverzagt am
1. April 1902 die Mäkration nationale ass Zaunes as ^rainzo. Auch in den
Kundgebungen dieser Gruppe ist von einer Trennung von den sozialistischen
Theorien an sich noch keine Rede. Man fordert Verbesserung der Lebens¬
bedingungen für die Arbeiter, Anteil am Gewinn, Abmessung der Arbeits¬
zeit nach Vertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Genossenschaften,
Arbeiterpensionen usw. — vor allem ist man aber gegen jeden Streik poli¬
tischen Charakters. Das Organ der Partei verkündete, daß man den „wahren
französischen Sozialismus" begründen wolle. Die?sa6ration konnte sich aber
nicht über Wasser halten. Im August 1902 ging der Ouvrier inäoxönäant
ein, und die ?6äA-at,ion hatte kein Heim mehr. Im Dezember 1902 ging
man aber schon wieder an die Organisation einer neuen Gruppe, die das in
Mißkredit gekommne Wort „Gelbe" fallen ließ und sich ?arti Looialisw
national nannte. In dem Blatt, das man herausgab, tauchen zum erstenmal
antisozialistische Gedanken auf: nicht Enteignung der Besitzenden, sondern
im Gegenteil die Möglichkeit für jeden, sich Eigentum zu erwerben! In der
Rue de la Corderie eröffnete man eine neue Arbeitsbörse, die ?r6iniöro Lourss
livre <Zu?ravail. Die Bewegung breitete sich aus; in Havre, Boulogne-sur-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299786/190>, abgerufen am 23.07.2024.