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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

uns Baumwolle, Kaffee und Reis verkaufen will, muß in Austausch unsre Pro¬
dukte nehmen. Unbedingt notwendig ist eigner Kolonialbesitz nur dann, wenn zum
Beispiel der Bedarf an Baumwolle die Produktion so starr überschreitet, daß die
Gefahr für uns besteht, unsern Bedarf aus fremden Ländern nicht decken zu können.

Wir sind auch ohne großen Kolonialbesitz die erste Kontinentalmacht, ein großes,
starkes und reiches Volk geworden, und je mehr zu befürchten ist, daß fremder
Imperialismus erstarkt, und daß wir vom Welthandelsmarkt verdrängt werden
könnten, je mehr müssen wir Vorsorge für eine gesunde Heimatpolitik treffen. Und
inzwischen müssen wir in aller Stille unsre Flotte weiter ausbauen, zum Zünglein
an der Wage, nicht als Störer, sondern Erhalter des ehrenvollen Friedens.
"Die Zukunft gehört dem, der zu warten weiß."


Graf Baudissin, Aaiserl. Bezirksamtmaim a. V.
Die agrarischen Zustände Ungarns.

Josef Graf Mailath gibt in
seinen Studien über die Landarbeiterfrage in Ungarn (mit einer Karte,
Franz Deuticke, Wien und Leipzig, 1905) einen Begriff von der Größe und der
Schwierigkeit der sozialökonomischen Aufgaben, die der ungarische Staat zu lösen
hätte, wenn seinen Politikern ihre Kämpfe um die Macht Zeit dazu ließen. Ab¬
gesehen von gewissen Modifikationen, deren Ursachen ein bis auf die Anfänge des
ungarischen Staates reichender geschichtlicher Rückblick klar macht, hatte die 1848
"überstürzt" vollzogne Bauernbefreiung dort dieselbe Wirkung wie in Deutschland:
sie spaltete die bis dahin ziemlich gleichförmige ländliche Bevölkerung in eine Bauern-
aristokratte und in besitzlose Lohnarbeiter, indem eine Klasse der kleinen Bauern
ihren Anteil am Herrenacker ganz verlor und dazu die Nutzung der Gemeinweide
einbüßte, ein andrer Teil so wenig bekam, daß er vom Ertrag nicht leben konnte
und sein Land, besonders bei Erbteilung, an größere Bauern und an Großgrund¬
besitzer verkaufen mußte. Diesen Prozeß beschleunigten: die Unbeholfenheit der an
Naturalwirtschaft gewöhnten Leute im Geldverkehr, ihre Leichtlebigkeit, der Geld¬
bedarf, den die Vernichtung der Hausindustrie, besonders der Weberei für den eignen
Bedarf, durch Maschinenerzeuguisse erzeugte, die gekauft werden mußten, der gänz¬
liche Mangel einer guten Kreditorganisation. Nun gab es aus Ursachen, die in
dem historischen Rückblick erklärt werden, in Ungarn ohnehin schon vor der Bauern¬
befreiung mehr lautlose Lohnarbeiter als anderswo, und diese samt den neu ent-
standnen blieben, da Industrie fehlte, auf die Landwirtschaft angewiesen. Diese
aber hatte sich in der Zeit der hohen Getreidepreise so ausschließlich dem Körnerbau
zugewandt, daß ihm 82 Prozent der Anbaufläche, im Theiß-Marosbecken sogar
91 Prozent gewidmet sind, und der Körnerbau gewährt nur unterbrochne und
höchst ungleichmäßige Beschäftigung: er fordert die meisten Monate gar keine Arbeiter
und in der Ernte viermal so viel als zur Zeit der Ackerbestellung und der Aus¬
saat. Auf dem Großgut ersparen dazu Maschinen viel Handarbeit, und der ganze
Betrieb ist extensiv, sodaß er verhältnismäßig wenig Leute braucht. Die Folge von
alledem ist, daß ländliche Tagelöhner, die keine Nebenbeschäftigung haben, nur etwa
88 Tage im Jahre beschäftigt sind und es nicht höher als auf 160 bis 250 Kronen
Jahreseinnahme bringen. Der Tagelohn für Männer beträgt dort, wo keine Kost
gewährt wird, im Winter 91, im Frühjahr 111, im Sommer (bei der Getreide¬
ernte) 174, im Herbst 127 Heller. Zu alledem kommt noch eine höchst ungünstige
Verteilung des Grundbesitzes: die mehr als fünfhundert Hektare großen Güter
nehmen beinahe ein Drittel der gesamten Bodenfläche ein (im Deutschen Reich ein
Zehntel), und eine ungleichmäßige Verteilung der Bevölkerung: sie ist im Alföld,
der Tiefebne mit gutem Weizenboden, am dichtesten, am allerdichtesten an der untern
Theiß. Die Leute bleiben dort kleben, weil sie sich einbilden, dieser fruchtbare väter¬
liche Boden gehöre ihnen und müsse ihnen über kurz oder laug wieder zufallen, den
Erwerb aber erschwert gerade ihr Landhunger, der bei Verkäufen die Preise in die
Höhe treibt.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

uns Baumwolle, Kaffee und Reis verkaufen will, muß in Austausch unsre Pro¬
dukte nehmen. Unbedingt notwendig ist eigner Kolonialbesitz nur dann, wenn zum
Beispiel der Bedarf an Baumwolle die Produktion so starr überschreitet, daß die
Gefahr für uns besteht, unsern Bedarf aus fremden Ländern nicht decken zu können.

Wir sind auch ohne großen Kolonialbesitz die erste Kontinentalmacht, ein großes,
starkes und reiches Volk geworden, und je mehr zu befürchten ist, daß fremder
Imperialismus erstarkt, und daß wir vom Welthandelsmarkt verdrängt werden
könnten, je mehr müssen wir Vorsorge für eine gesunde Heimatpolitik treffen. Und
inzwischen müssen wir in aller Stille unsre Flotte weiter ausbauen, zum Zünglein
an der Wage, nicht als Störer, sondern Erhalter des ehrenvollen Friedens.
„Die Zukunft gehört dem, der zu warten weiß."


Graf Baudissin, Aaiserl. Bezirksamtmaim a. V.
Die agrarischen Zustände Ungarns.

Josef Graf Mailath gibt in
seinen Studien über die Landarbeiterfrage in Ungarn (mit einer Karte,
Franz Deuticke, Wien und Leipzig, 1905) einen Begriff von der Größe und der
Schwierigkeit der sozialökonomischen Aufgaben, die der ungarische Staat zu lösen
hätte, wenn seinen Politikern ihre Kämpfe um die Macht Zeit dazu ließen. Ab¬
gesehen von gewissen Modifikationen, deren Ursachen ein bis auf die Anfänge des
ungarischen Staates reichender geschichtlicher Rückblick klar macht, hatte die 1848
„überstürzt" vollzogne Bauernbefreiung dort dieselbe Wirkung wie in Deutschland:
sie spaltete die bis dahin ziemlich gleichförmige ländliche Bevölkerung in eine Bauern-
aristokratte und in besitzlose Lohnarbeiter, indem eine Klasse der kleinen Bauern
ihren Anteil am Herrenacker ganz verlor und dazu die Nutzung der Gemeinweide
einbüßte, ein andrer Teil so wenig bekam, daß er vom Ertrag nicht leben konnte
und sein Land, besonders bei Erbteilung, an größere Bauern und an Großgrund¬
besitzer verkaufen mußte. Diesen Prozeß beschleunigten: die Unbeholfenheit der an
Naturalwirtschaft gewöhnten Leute im Geldverkehr, ihre Leichtlebigkeit, der Geld¬
bedarf, den die Vernichtung der Hausindustrie, besonders der Weberei für den eignen
Bedarf, durch Maschinenerzeuguisse erzeugte, die gekauft werden mußten, der gänz¬
liche Mangel einer guten Kreditorganisation. Nun gab es aus Ursachen, die in
dem historischen Rückblick erklärt werden, in Ungarn ohnehin schon vor der Bauern¬
befreiung mehr lautlose Lohnarbeiter als anderswo, und diese samt den neu ent-
standnen blieben, da Industrie fehlte, auf die Landwirtschaft angewiesen. Diese
aber hatte sich in der Zeit der hohen Getreidepreise so ausschließlich dem Körnerbau
zugewandt, daß ihm 82 Prozent der Anbaufläche, im Theiß-Marosbecken sogar
91 Prozent gewidmet sind, und der Körnerbau gewährt nur unterbrochne und
höchst ungleichmäßige Beschäftigung: er fordert die meisten Monate gar keine Arbeiter
und in der Ernte viermal so viel als zur Zeit der Ackerbestellung und der Aus¬
saat. Auf dem Großgut ersparen dazu Maschinen viel Handarbeit, und der ganze
Betrieb ist extensiv, sodaß er verhältnismäßig wenig Leute braucht. Die Folge von
alledem ist, daß ländliche Tagelöhner, die keine Nebenbeschäftigung haben, nur etwa
88 Tage im Jahre beschäftigt sind und es nicht höher als auf 160 bis 250 Kronen
Jahreseinnahme bringen. Der Tagelohn für Männer beträgt dort, wo keine Kost
gewährt wird, im Winter 91, im Frühjahr 111, im Sommer (bei der Getreide¬
ernte) 174, im Herbst 127 Heller. Zu alledem kommt noch eine höchst ungünstige
Verteilung des Grundbesitzes: die mehr als fünfhundert Hektare großen Güter
nehmen beinahe ein Drittel der gesamten Bodenfläche ein (im Deutschen Reich ein
Zehntel), und eine ungleichmäßige Verteilung der Bevölkerung: sie ist im Alföld,
der Tiefebne mit gutem Weizenboden, am dichtesten, am allerdichtesten an der untern
Theiß. Die Leute bleiben dort kleben, weil sie sich einbilden, dieser fruchtbare väter¬
liche Boden gehöre ihnen und müsse ihnen über kurz oder laug wieder zufallen, den
Erwerb aber erschwert gerade ihr Landhunger, der bei Verkäufen die Preise in die
Höhe treibt.


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[0736] Maßgebliches und Unmaßgebliches uns Baumwolle, Kaffee und Reis verkaufen will, muß in Austausch unsre Pro¬ dukte nehmen. Unbedingt notwendig ist eigner Kolonialbesitz nur dann, wenn zum Beispiel der Bedarf an Baumwolle die Produktion so starr überschreitet, daß die Gefahr für uns besteht, unsern Bedarf aus fremden Ländern nicht decken zu können. Wir sind auch ohne großen Kolonialbesitz die erste Kontinentalmacht, ein großes, starkes und reiches Volk geworden, und je mehr zu befürchten ist, daß fremder Imperialismus erstarkt, und daß wir vom Welthandelsmarkt verdrängt werden könnten, je mehr müssen wir Vorsorge für eine gesunde Heimatpolitik treffen. Und inzwischen müssen wir in aller Stille unsre Flotte weiter ausbauen, zum Zünglein an der Wage, nicht als Störer, sondern Erhalter des ehrenvollen Friedens. „Die Zukunft gehört dem, der zu warten weiß." Graf Baudissin, Aaiserl. Bezirksamtmaim a. V. Die agrarischen Zustände Ungarns. Josef Graf Mailath gibt in seinen Studien über die Landarbeiterfrage in Ungarn (mit einer Karte, Franz Deuticke, Wien und Leipzig, 1905) einen Begriff von der Größe und der Schwierigkeit der sozialökonomischen Aufgaben, die der ungarische Staat zu lösen hätte, wenn seinen Politikern ihre Kämpfe um die Macht Zeit dazu ließen. Ab¬ gesehen von gewissen Modifikationen, deren Ursachen ein bis auf die Anfänge des ungarischen Staates reichender geschichtlicher Rückblick klar macht, hatte die 1848 „überstürzt" vollzogne Bauernbefreiung dort dieselbe Wirkung wie in Deutschland: sie spaltete die bis dahin ziemlich gleichförmige ländliche Bevölkerung in eine Bauern- aristokratte und in besitzlose Lohnarbeiter, indem eine Klasse der kleinen Bauern ihren Anteil am Herrenacker ganz verlor und dazu die Nutzung der Gemeinweide einbüßte, ein andrer Teil so wenig bekam, daß er vom Ertrag nicht leben konnte und sein Land, besonders bei Erbteilung, an größere Bauern und an Großgrund¬ besitzer verkaufen mußte. Diesen Prozeß beschleunigten: die Unbeholfenheit der an Naturalwirtschaft gewöhnten Leute im Geldverkehr, ihre Leichtlebigkeit, der Geld¬ bedarf, den die Vernichtung der Hausindustrie, besonders der Weberei für den eignen Bedarf, durch Maschinenerzeuguisse erzeugte, die gekauft werden mußten, der gänz¬ liche Mangel einer guten Kreditorganisation. Nun gab es aus Ursachen, die in dem historischen Rückblick erklärt werden, in Ungarn ohnehin schon vor der Bauern¬ befreiung mehr lautlose Lohnarbeiter als anderswo, und diese samt den neu ent- standnen blieben, da Industrie fehlte, auf die Landwirtschaft angewiesen. Diese aber hatte sich in der Zeit der hohen Getreidepreise so ausschließlich dem Körnerbau zugewandt, daß ihm 82 Prozent der Anbaufläche, im Theiß-Marosbecken sogar 91 Prozent gewidmet sind, und der Körnerbau gewährt nur unterbrochne und höchst ungleichmäßige Beschäftigung: er fordert die meisten Monate gar keine Arbeiter und in der Ernte viermal so viel als zur Zeit der Ackerbestellung und der Aus¬ saat. Auf dem Großgut ersparen dazu Maschinen viel Handarbeit, und der ganze Betrieb ist extensiv, sodaß er verhältnismäßig wenig Leute braucht. Die Folge von alledem ist, daß ländliche Tagelöhner, die keine Nebenbeschäftigung haben, nur etwa 88 Tage im Jahre beschäftigt sind und es nicht höher als auf 160 bis 250 Kronen Jahreseinnahme bringen. Der Tagelohn für Männer beträgt dort, wo keine Kost gewährt wird, im Winter 91, im Frühjahr 111, im Sommer (bei der Getreide¬ ernte) 174, im Herbst 127 Heller. Zu alledem kommt noch eine höchst ungünstige Verteilung des Grundbesitzes: die mehr als fünfhundert Hektare großen Güter nehmen beinahe ein Drittel der gesamten Bodenfläche ein (im Deutschen Reich ein Zehntel), und eine ungleichmäßige Verteilung der Bevölkerung: sie ist im Alföld, der Tiefebne mit gutem Weizenboden, am dichtesten, am allerdichtesten an der untern Theiß. Die Leute bleiben dort kleben, weil sie sich einbilden, dieser fruchtbare väter¬ liche Boden gehöre ihnen und müsse ihnen über kurz oder laug wieder zufallen, den Erwerb aber erschwert gerade ihr Landhunger, der bei Verkäufen die Preise in die Höhe treibt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/736>, abgerufen am 02.07.2024.