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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

ohne weiteres zu bejahen. In dem letzten Jahrzehnt ist die Erzeugung des Roggens
um 19 vom Hundert, bei Weizen um 10 vom Hundert, bei Gerste um 3 vom
Hundert, bei Kartoffeln um 25 vom Hundert gestiegen. Die hohen Ernten der
letzten Jahre zugrunde gelegt, entnehmen wir vom Morgen an Roggen nur 5 9
an Weizen 7,5, an Gerste 6,85, an Kartoffeln 49,9 Zentner im Durchschnitt. Sind
das Erträge, wie sie auf hochkultivierten Gütern erreicht werden? Sind das Er¬
träge, wie sie auch nur auf guten Wirtschaften des Sandbodens befriedigen?"

Ich weiß, daß z. B. hochkultivierter Sandboden 12 Zentner Roggen vom Morgen
geben kann. Nicht nur 45, sondern 120 Millionen Menschen kann die deutsche
Landwirtschaft ernähren, wenn ihr nur durch den notwendigen Schutz die Möglich¬
keit geboten ist, einen Gewinn zu erreichen, der außer dem üblichen Zinsfuß eine
bescheidne Risikoprämie einschließt. Mit Dividenden von 8 oder 10 Prozent, die
in den Augen des Großindustriellen nicht sehr hoch erscheinen, rechnet die Land¬
wirtschaft nicht. Nicht ein einziges Pfund Fleisch braucht importiert zu werden, wenn
sich die Regierung nur durch noch so lauten Lärm nicht verleiten läßt, den Schutz
zu beseitigen, der im Interesse der Viehzüchter aufgerichtet ist. Ich fürchte keinen
Fleischwucher durch die Fleischproduzeuten, die Produktionsmöglichkeiten sind so, daß
die Konkurrenz schon für billiges Fleisch sorgen wird. Das alte Wort "Hat der
Bauer Geld, hats die ganze Welt" besteht auch heute noch zu Recht. Hat aber
der Bauer Geld, wenn es der Kaufmann und der Fabrikant besitzen? Nein, dieser
wird, je reicher er ist, je mehr seine Macht gebrauchen, seinen Arbeitern und Hilfs¬
kräften nicht billiges, sondern das billigste Brot zu verschaffen, einerlei, ob dabei so
und so viele Millionen ländlicher Grundbesitzer und Arbeiter Not leiden müssen.
Ich nehme nicht an, daß dem Kaufmann und dem Industriellen die Landflucht in
England als ein idealer Zustand erscheint; 20 Prozent der Bevölkerung auf dem
Lande, 80 Prozent in den Städten, aber er wird denselben Zustand in Deutschland
auch nicht hindern, solange er seinen Interessen dienlich ist. Unsre Landwirtschaft
produziert jährlich für etwa 8 Milliarden Mark; je mehr sie produziert, je mehr
kann sie dem Fabrikanten an Fertigprodukten abnehmen; der Bauer ist der sichere,
der Ausländer der unsichere Abnehmer. Solange wir eine vernünftige Agrarpolitik
treiben, braucht uns vor dem Anwachsen der Bevölkerung nicht bange zu werden,
erst wenn englische Zustände bei uns Platz greifen sollten, wenn ganz Deutschland
ein Fabrikplatz geworden ist, 80 Prozent der Bevölkerung von Handel und Industrie
leben, die schwache ländliche Bevölkerung nur einen sehr kleinen Teil der Fabrikate
zu kaufen vermag, und das ganze Land auf den Export angewiesen ist, wenn es
nicht verhungern will, erst dann droht das Gespenst der Übervölkerung.

Es ist richtig, daß wir für 1^ Milliarden Kolonialwaren eintauschen müssen;
diese werden wie jetzt so auch in Zukunft mit Fabrikaten gezahlt, und es wäre
zu wünschen, daß wir einen so großen Anteil unsers Bedarfs an Kolonialwaren,
wie nur immer möglich, aus unsern eignen Kolonien beziehn könnten. Also eine
Expansion des Deutschen Reiches wird nicht zunächst durch die Notwendigkeit ver¬
ursacht, große Landmassen in fremden Ländern zu erwerben, um für die anwachsende
Bevölkerung Raum und Ackergebiete zu gewinnen. Wir wachsen jährlich um
800000 Menschen; auch wenn es gelänge, jedes Jahr 400000 davon über See
anzusiedeln, was eine Unmöglichkeit ist, dann wären doch immer noch 400000, in
zehn Jahren 4 Millionen, in fünfzig Jahren 20 Millionen Menschen mehr als
heute. Nach fünfzig Jahren wird ein Schriftsteller dann vielleicht erklären, Deutsch¬
land könne wohl 60 aber nicht 80 Millionen Einwohner ernähren.

Aber wir brauchen Land zur Erzeugung von Baumwolle, Tee, Kaffee, Kakao,
Gummi, Reis usw., d. h. es ist erwünscht, daß wir einen möglichst großen Teil
unsers Bedarfs an diesen Stoffen unsern eignen Kolonien entnehmen können, un¬
bedingt notwendig sind eigne Kolonien hierzu nicht, das beweist am besten der
Umstand, daß wir jetzt nur einen kaum nennenswerten Teil unsers Bedarfs an
Kolonialprodukten aus unsern überseeischen Besitzungen beziehn. Das Land, das


Maßgebliches und Unmaßgebliches

ohne weiteres zu bejahen. In dem letzten Jahrzehnt ist die Erzeugung des Roggens
um 19 vom Hundert, bei Weizen um 10 vom Hundert, bei Gerste um 3 vom
Hundert, bei Kartoffeln um 25 vom Hundert gestiegen. Die hohen Ernten der
letzten Jahre zugrunde gelegt, entnehmen wir vom Morgen an Roggen nur 5 9
an Weizen 7,5, an Gerste 6,85, an Kartoffeln 49,9 Zentner im Durchschnitt. Sind
das Erträge, wie sie auf hochkultivierten Gütern erreicht werden? Sind das Er¬
träge, wie sie auch nur auf guten Wirtschaften des Sandbodens befriedigen?"

Ich weiß, daß z. B. hochkultivierter Sandboden 12 Zentner Roggen vom Morgen
geben kann. Nicht nur 45, sondern 120 Millionen Menschen kann die deutsche
Landwirtschaft ernähren, wenn ihr nur durch den notwendigen Schutz die Möglich¬
keit geboten ist, einen Gewinn zu erreichen, der außer dem üblichen Zinsfuß eine
bescheidne Risikoprämie einschließt. Mit Dividenden von 8 oder 10 Prozent, die
in den Augen des Großindustriellen nicht sehr hoch erscheinen, rechnet die Land¬
wirtschaft nicht. Nicht ein einziges Pfund Fleisch braucht importiert zu werden, wenn
sich die Regierung nur durch noch so lauten Lärm nicht verleiten läßt, den Schutz
zu beseitigen, der im Interesse der Viehzüchter aufgerichtet ist. Ich fürchte keinen
Fleischwucher durch die Fleischproduzeuten, die Produktionsmöglichkeiten sind so, daß
die Konkurrenz schon für billiges Fleisch sorgen wird. Das alte Wort „Hat der
Bauer Geld, hats die ganze Welt" besteht auch heute noch zu Recht. Hat aber
der Bauer Geld, wenn es der Kaufmann und der Fabrikant besitzen? Nein, dieser
wird, je reicher er ist, je mehr seine Macht gebrauchen, seinen Arbeitern und Hilfs¬
kräften nicht billiges, sondern das billigste Brot zu verschaffen, einerlei, ob dabei so
und so viele Millionen ländlicher Grundbesitzer und Arbeiter Not leiden müssen.
Ich nehme nicht an, daß dem Kaufmann und dem Industriellen die Landflucht in
England als ein idealer Zustand erscheint; 20 Prozent der Bevölkerung auf dem
Lande, 80 Prozent in den Städten, aber er wird denselben Zustand in Deutschland
auch nicht hindern, solange er seinen Interessen dienlich ist. Unsre Landwirtschaft
produziert jährlich für etwa 8 Milliarden Mark; je mehr sie produziert, je mehr
kann sie dem Fabrikanten an Fertigprodukten abnehmen; der Bauer ist der sichere,
der Ausländer der unsichere Abnehmer. Solange wir eine vernünftige Agrarpolitik
treiben, braucht uns vor dem Anwachsen der Bevölkerung nicht bange zu werden,
erst wenn englische Zustände bei uns Platz greifen sollten, wenn ganz Deutschland
ein Fabrikplatz geworden ist, 80 Prozent der Bevölkerung von Handel und Industrie
leben, die schwache ländliche Bevölkerung nur einen sehr kleinen Teil der Fabrikate
zu kaufen vermag, und das ganze Land auf den Export angewiesen ist, wenn es
nicht verhungern will, erst dann droht das Gespenst der Übervölkerung.

Es ist richtig, daß wir für 1^ Milliarden Kolonialwaren eintauschen müssen;
diese werden wie jetzt so auch in Zukunft mit Fabrikaten gezahlt, und es wäre
zu wünschen, daß wir einen so großen Anteil unsers Bedarfs an Kolonialwaren,
wie nur immer möglich, aus unsern eignen Kolonien beziehn könnten. Also eine
Expansion des Deutschen Reiches wird nicht zunächst durch die Notwendigkeit ver¬
ursacht, große Landmassen in fremden Ländern zu erwerben, um für die anwachsende
Bevölkerung Raum und Ackergebiete zu gewinnen. Wir wachsen jährlich um
800000 Menschen; auch wenn es gelänge, jedes Jahr 400000 davon über See
anzusiedeln, was eine Unmöglichkeit ist, dann wären doch immer noch 400000, in
zehn Jahren 4 Millionen, in fünfzig Jahren 20 Millionen Menschen mehr als
heute. Nach fünfzig Jahren wird ein Schriftsteller dann vielleicht erklären, Deutsch¬
land könne wohl 60 aber nicht 80 Millionen Einwohner ernähren.

Aber wir brauchen Land zur Erzeugung von Baumwolle, Tee, Kaffee, Kakao,
Gummi, Reis usw., d. h. es ist erwünscht, daß wir einen möglichst großen Teil
unsers Bedarfs an diesen Stoffen unsern eignen Kolonien entnehmen können, un¬
bedingt notwendig sind eigne Kolonien hierzu nicht, das beweist am besten der
Umstand, daß wir jetzt nur einen kaum nennenswerten Teil unsers Bedarfs an
Kolonialprodukten aus unsern überseeischen Besitzungen beziehn. Das Land, das


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[0735] Maßgebliches und Unmaßgebliches ohne weiteres zu bejahen. In dem letzten Jahrzehnt ist die Erzeugung des Roggens um 19 vom Hundert, bei Weizen um 10 vom Hundert, bei Gerste um 3 vom Hundert, bei Kartoffeln um 25 vom Hundert gestiegen. Die hohen Ernten der letzten Jahre zugrunde gelegt, entnehmen wir vom Morgen an Roggen nur 5 9 an Weizen 7,5, an Gerste 6,85, an Kartoffeln 49,9 Zentner im Durchschnitt. Sind das Erträge, wie sie auf hochkultivierten Gütern erreicht werden? Sind das Er¬ träge, wie sie auch nur auf guten Wirtschaften des Sandbodens befriedigen?" Ich weiß, daß z. B. hochkultivierter Sandboden 12 Zentner Roggen vom Morgen geben kann. Nicht nur 45, sondern 120 Millionen Menschen kann die deutsche Landwirtschaft ernähren, wenn ihr nur durch den notwendigen Schutz die Möglich¬ keit geboten ist, einen Gewinn zu erreichen, der außer dem üblichen Zinsfuß eine bescheidne Risikoprämie einschließt. Mit Dividenden von 8 oder 10 Prozent, die in den Augen des Großindustriellen nicht sehr hoch erscheinen, rechnet die Land¬ wirtschaft nicht. Nicht ein einziges Pfund Fleisch braucht importiert zu werden, wenn sich die Regierung nur durch noch so lauten Lärm nicht verleiten läßt, den Schutz zu beseitigen, der im Interesse der Viehzüchter aufgerichtet ist. Ich fürchte keinen Fleischwucher durch die Fleischproduzeuten, die Produktionsmöglichkeiten sind so, daß die Konkurrenz schon für billiges Fleisch sorgen wird. Das alte Wort „Hat der Bauer Geld, hats die ganze Welt" besteht auch heute noch zu Recht. Hat aber der Bauer Geld, wenn es der Kaufmann und der Fabrikant besitzen? Nein, dieser wird, je reicher er ist, je mehr seine Macht gebrauchen, seinen Arbeitern und Hilfs¬ kräften nicht billiges, sondern das billigste Brot zu verschaffen, einerlei, ob dabei so und so viele Millionen ländlicher Grundbesitzer und Arbeiter Not leiden müssen. Ich nehme nicht an, daß dem Kaufmann und dem Industriellen die Landflucht in England als ein idealer Zustand erscheint; 20 Prozent der Bevölkerung auf dem Lande, 80 Prozent in den Städten, aber er wird denselben Zustand in Deutschland auch nicht hindern, solange er seinen Interessen dienlich ist. Unsre Landwirtschaft produziert jährlich für etwa 8 Milliarden Mark; je mehr sie produziert, je mehr kann sie dem Fabrikanten an Fertigprodukten abnehmen; der Bauer ist der sichere, der Ausländer der unsichere Abnehmer. Solange wir eine vernünftige Agrarpolitik treiben, braucht uns vor dem Anwachsen der Bevölkerung nicht bange zu werden, erst wenn englische Zustände bei uns Platz greifen sollten, wenn ganz Deutschland ein Fabrikplatz geworden ist, 80 Prozent der Bevölkerung von Handel und Industrie leben, die schwache ländliche Bevölkerung nur einen sehr kleinen Teil der Fabrikate zu kaufen vermag, und das ganze Land auf den Export angewiesen ist, wenn es nicht verhungern will, erst dann droht das Gespenst der Übervölkerung. Es ist richtig, daß wir für 1^ Milliarden Kolonialwaren eintauschen müssen; diese werden wie jetzt so auch in Zukunft mit Fabrikaten gezahlt, und es wäre zu wünschen, daß wir einen so großen Anteil unsers Bedarfs an Kolonialwaren, wie nur immer möglich, aus unsern eignen Kolonien beziehn könnten. Also eine Expansion des Deutschen Reiches wird nicht zunächst durch die Notwendigkeit ver¬ ursacht, große Landmassen in fremden Ländern zu erwerben, um für die anwachsende Bevölkerung Raum und Ackergebiete zu gewinnen. Wir wachsen jährlich um 800000 Menschen; auch wenn es gelänge, jedes Jahr 400000 davon über See anzusiedeln, was eine Unmöglichkeit ist, dann wären doch immer noch 400000, in zehn Jahren 4 Millionen, in fünfzig Jahren 20 Millionen Menschen mehr als heute. Nach fünfzig Jahren wird ein Schriftsteller dann vielleicht erklären, Deutsch¬ land könne wohl 60 aber nicht 80 Millionen Einwohner ernähren. Aber wir brauchen Land zur Erzeugung von Baumwolle, Tee, Kaffee, Kakao, Gummi, Reis usw., d. h. es ist erwünscht, daß wir einen möglichst großen Teil unsers Bedarfs an diesen Stoffen unsern eignen Kolonien entnehmen können, un¬ bedingt notwendig sind eigne Kolonien hierzu nicht, das beweist am besten der Umstand, daß wir jetzt nur einen kaum nennenswerten Teil unsers Bedarfs an Kolonialprodukten aus unsern überseeischen Besitzungen beziehn. Das Land, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/735>, abgerufen am 30.06.2024.