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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Salome von Richard Strauß

Auf dich: beiden Gestalten beschränkt sich, nicht nach der Natur der Dichtung,
aber nach ihrer Behandlung durch den Komponisten, das tiefere Interesse, das
der Zuschauer an dem Drama nimmt, Salomes Werbung um die Liebe des
Propheten, ihre Zurückweisung, ihre frevelhafte Rache und deren Bestrafung
oder Entführung sind die Hauptvorgänge, die uns Strauß von der Geschichte
zeigen will.

Daß er sich für diesen Zweck hauptsächlich der instrumentalen Mittel
bedient, ist für einen modernen Musiker selbstverständlich. Die Zeit, wo in
der Oper auch wieder, und zwar in erster Linie, die Menschenstimme ausdrückt,
was in den Seelen der Handelnden vorgeht, ist wahrscheinlich nicht mehr fern.
Augenblicklich jedoch ist der geschichtlich notwendige Prozeß, der dazu geführt
hat, auch im Musikdrama die Macht der Instrumente zu versuchen, noch nicht
zum Abschluß gekommen, sondern man tastet gerade jetzt, wie verzweifelt, um
den Punkt der Absurdität herum. N. Strauß vertritt dieses instrumentale Prinzip
mit besondern Fortschrittsansprüchen und ist in der Reihe der Neuerer, die seit
dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die Sprachgewalt der Musik
durch Heranziehung neuer grammatischer Mittel zu erweitern strebten, der kühnste
und konsequenteste Kopf. Ging er früher, an Berlioz anschließend, vornehmlich
auf neue Tonfarben, neue Instrumente und auf Bereicherung des Kolorits aus,
so hat er sich seit "Also sprach Zarcithustra" mehr auf die Seite von Franz Liszt
gestellt und die Weiterbildung des harmonischen Apparats, voran des Disso¬
nanzenteils, ins Auge gefaßt. Die Salome bringt seine letzte Willensmeinung
über diesen Punkt, und es hat nach analogen Vorgängen in der bildenden
Kunst der Gegenwart nicht fehlen können, daß diese Seite der Salomeleistung
zum wichtigsten Gegenstande der Kritik geworden ist. Sicherlich bringt da Strauß
außerordentlich viel Neues auf einmal; es wäre aber eine Aufgabe für musi¬
kalische Fachblätter, genau zu untersuchen, wieviel von diesem Neuen wirklich
originell ist. Ein großer Teil der überraschenden Modulationen von Strauß,
auch seine Borhaltstechnik fußt auf R. Wagner; ohne dessen Tristan wäre die
erste Szene der Salome nicht geschrieben worden. In den Modifikationen
bekannter Phänomene dagegen geht der Jünger über den Meister hinaus, be¬
sonders sind das Vervielfältigungen sogenannter Vorausnahmen, Verzögerungen
von Auflösungen und Einmischung zufälliger Dissonanzen unter die wesentlichen.
Mit Beiträgen zu dieser letzten Gruppe ist die Salomemusik am reichsten aus¬
gestattet, in den kleinen harmonischen Teufeleien ist Strauß unerschöpflich er¬
finderisch. Für die Beurteilung dieser Revolten und Neuerungen ist die Frage
nach der Wirkung entscheidend. Da ist denn erstens nicht zu verkennen, daß
Strauß sehr viel mit stumpfen Waffen ficht und mit allen seinen ungewohnten
Akkordfolgen nicht einen einzigen Eindruck macht, der sich etwa mit dem der
Erdaszene in Wagners Siegfried vergleichen ließ. Ein starker elementarer
Sinn für Tonsymbolik lebt jedoch unstreitig in ihm, und die Salome hat für
eigne Gefühle eigne Töne. Die Stelle, wo in der letzten Szene zu dem end¬
losen Triller ans dem hohen d das Lockmotiv j ob. anschlägt, ist eine der
glänzendsten dieser Art, und ihr stehn zahlreiche ähnliche zur Seite, wo der
Komponist für an und für sich verpönte und für unmöglich gehaltene Zusammen-


Salome von Richard Strauß

Auf dich: beiden Gestalten beschränkt sich, nicht nach der Natur der Dichtung,
aber nach ihrer Behandlung durch den Komponisten, das tiefere Interesse, das
der Zuschauer an dem Drama nimmt, Salomes Werbung um die Liebe des
Propheten, ihre Zurückweisung, ihre frevelhafte Rache und deren Bestrafung
oder Entführung sind die Hauptvorgänge, die uns Strauß von der Geschichte
zeigen will.

Daß er sich für diesen Zweck hauptsächlich der instrumentalen Mittel
bedient, ist für einen modernen Musiker selbstverständlich. Die Zeit, wo in
der Oper auch wieder, und zwar in erster Linie, die Menschenstimme ausdrückt,
was in den Seelen der Handelnden vorgeht, ist wahrscheinlich nicht mehr fern.
Augenblicklich jedoch ist der geschichtlich notwendige Prozeß, der dazu geführt
hat, auch im Musikdrama die Macht der Instrumente zu versuchen, noch nicht
zum Abschluß gekommen, sondern man tastet gerade jetzt, wie verzweifelt, um
den Punkt der Absurdität herum. N. Strauß vertritt dieses instrumentale Prinzip
mit besondern Fortschrittsansprüchen und ist in der Reihe der Neuerer, die seit
dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die Sprachgewalt der Musik
durch Heranziehung neuer grammatischer Mittel zu erweitern strebten, der kühnste
und konsequenteste Kopf. Ging er früher, an Berlioz anschließend, vornehmlich
auf neue Tonfarben, neue Instrumente und auf Bereicherung des Kolorits aus,
so hat er sich seit „Also sprach Zarcithustra" mehr auf die Seite von Franz Liszt
gestellt und die Weiterbildung des harmonischen Apparats, voran des Disso¬
nanzenteils, ins Auge gefaßt. Die Salome bringt seine letzte Willensmeinung
über diesen Punkt, und es hat nach analogen Vorgängen in der bildenden
Kunst der Gegenwart nicht fehlen können, daß diese Seite der Salomeleistung
zum wichtigsten Gegenstande der Kritik geworden ist. Sicherlich bringt da Strauß
außerordentlich viel Neues auf einmal; es wäre aber eine Aufgabe für musi¬
kalische Fachblätter, genau zu untersuchen, wieviel von diesem Neuen wirklich
originell ist. Ein großer Teil der überraschenden Modulationen von Strauß,
auch seine Borhaltstechnik fußt auf R. Wagner; ohne dessen Tristan wäre die
erste Szene der Salome nicht geschrieben worden. In den Modifikationen
bekannter Phänomene dagegen geht der Jünger über den Meister hinaus, be¬
sonders sind das Vervielfältigungen sogenannter Vorausnahmen, Verzögerungen
von Auflösungen und Einmischung zufälliger Dissonanzen unter die wesentlichen.
Mit Beiträgen zu dieser letzten Gruppe ist die Salomemusik am reichsten aus¬
gestattet, in den kleinen harmonischen Teufeleien ist Strauß unerschöpflich er¬
finderisch. Für die Beurteilung dieser Revolten und Neuerungen ist die Frage
nach der Wirkung entscheidend. Da ist denn erstens nicht zu verkennen, daß
Strauß sehr viel mit stumpfen Waffen ficht und mit allen seinen ungewohnten
Akkordfolgen nicht einen einzigen Eindruck macht, der sich etwa mit dem der
Erdaszene in Wagners Siegfried vergleichen ließ. Ein starker elementarer
Sinn für Tonsymbolik lebt jedoch unstreitig in ihm, und die Salome hat für
eigne Gefühle eigne Töne. Die Stelle, wo in der letzten Szene zu dem end¬
losen Triller ans dem hohen d das Lockmotiv j ob. anschlägt, ist eine der
glänzendsten dieser Art, und ihr stehn zahlreiche ähnliche zur Seite, wo der
Komponist für an und für sich verpönte und für unmöglich gehaltene Zusammen-


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[0596] Salome von Richard Strauß Auf dich: beiden Gestalten beschränkt sich, nicht nach der Natur der Dichtung, aber nach ihrer Behandlung durch den Komponisten, das tiefere Interesse, das der Zuschauer an dem Drama nimmt, Salomes Werbung um die Liebe des Propheten, ihre Zurückweisung, ihre frevelhafte Rache und deren Bestrafung oder Entführung sind die Hauptvorgänge, die uns Strauß von der Geschichte zeigen will. Daß er sich für diesen Zweck hauptsächlich der instrumentalen Mittel bedient, ist für einen modernen Musiker selbstverständlich. Die Zeit, wo in der Oper auch wieder, und zwar in erster Linie, die Menschenstimme ausdrückt, was in den Seelen der Handelnden vorgeht, ist wahrscheinlich nicht mehr fern. Augenblicklich jedoch ist der geschichtlich notwendige Prozeß, der dazu geführt hat, auch im Musikdrama die Macht der Instrumente zu versuchen, noch nicht zum Abschluß gekommen, sondern man tastet gerade jetzt, wie verzweifelt, um den Punkt der Absurdität herum. N. Strauß vertritt dieses instrumentale Prinzip mit besondern Fortschrittsansprüchen und ist in der Reihe der Neuerer, die seit dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die Sprachgewalt der Musik durch Heranziehung neuer grammatischer Mittel zu erweitern strebten, der kühnste und konsequenteste Kopf. Ging er früher, an Berlioz anschließend, vornehmlich auf neue Tonfarben, neue Instrumente und auf Bereicherung des Kolorits aus, so hat er sich seit „Also sprach Zarcithustra" mehr auf die Seite von Franz Liszt gestellt und die Weiterbildung des harmonischen Apparats, voran des Disso¬ nanzenteils, ins Auge gefaßt. Die Salome bringt seine letzte Willensmeinung über diesen Punkt, und es hat nach analogen Vorgängen in der bildenden Kunst der Gegenwart nicht fehlen können, daß diese Seite der Salomeleistung zum wichtigsten Gegenstande der Kritik geworden ist. Sicherlich bringt da Strauß außerordentlich viel Neues auf einmal; es wäre aber eine Aufgabe für musi¬ kalische Fachblätter, genau zu untersuchen, wieviel von diesem Neuen wirklich originell ist. Ein großer Teil der überraschenden Modulationen von Strauß, auch seine Borhaltstechnik fußt auf R. Wagner; ohne dessen Tristan wäre die erste Szene der Salome nicht geschrieben worden. In den Modifikationen bekannter Phänomene dagegen geht der Jünger über den Meister hinaus, be¬ sonders sind das Vervielfältigungen sogenannter Vorausnahmen, Verzögerungen von Auflösungen und Einmischung zufälliger Dissonanzen unter die wesentlichen. Mit Beiträgen zu dieser letzten Gruppe ist die Salomemusik am reichsten aus¬ gestattet, in den kleinen harmonischen Teufeleien ist Strauß unerschöpflich er¬ finderisch. Für die Beurteilung dieser Revolten und Neuerungen ist die Frage nach der Wirkung entscheidend. Da ist denn erstens nicht zu verkennen, daß Strauß sehr viel mit stumpfen Waffen ficht und mit allen seinen ungewohnten Akkordfolgen nicht einen einzigen Eindruck macht, der sich etwa mit dem der Erdaszene in Wagners Siegfried vergleichen ließ. Ein starker elementarer Sinn für Tonsymbolik lebt jedoch unstreitig in ihm, und die Salome hat für eigne Gefühle eigne Töne. Die Stelle, wo in der letzten Szene zu dem end¬ losen Triller ans dem hohen d das Lockmotiv j ob. anschlägt, ist eine der glänzendsten dieser Art, und ihr stehn zahlreiche ähnliche zur Seite, wo der Komponist für an und für sich verpönte und für unmöglich gehaltene Zusammen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/596>, abgerufen am 28.12.2024.