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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

.Kuchen herbei, Herr Aurelius hatte ihr gefallen, weil er nichts gegen Demoiselle Stahl
sagen wollte, und daß er sagte, liebe Fritze, laß die Hitze, fand sie ganz himmlisch.
Wenn sie so etwas nur auch sagen dürfte! Aber das war ganz unmöglich, nur im
stillen, ganz im stillen durfte sie sich ausmalen, wie es wäre, wenn sie es täte.

Nach einigen Tagen war der Kandidat mit Tante Fritzes Hilfe fix und fertig
eingerichtet, und auf seine Einladung kam eines Nachmittags auch der Hofrat, um
alles zu besichtigen.

Onkel Willi erging es in dieser Zeit nicht besonders, seine Schwester be^
kümmerte sich wenig um ihn. Das Essen kochte sie gut, weil der Kandidat ja
auch mit am Tisch saß, aber sonst war sie eigentlich meist in Bergheims Wohnung,
und ihr Bruder mußte sehen, wie er allein fertig wurde. Er hatte auch keine
besondre Bedienung nötig, hin und wieder wollte er aber doch etwas haben, und
einmal hatte er sich in den Finger geschnitten, und Tante Fritze war nicht da, ihm
die Wunde zu verbinden.

Er war ängstlich mit sich, Anneli, die gerade aus der Schule kam und den
Onkel hilflos in der Küche stehn sah, merkte zu ihrem Erstaunen, daß er mit blassem
Gesicht das Blut betrachtete, das aus der Wunde floß.

Der Doktor soll kommen, der Doktor! rief er, während Anneli ohne viel Be¬
sinnen ihr Taschentuch herauszog und den Finger zu verbinden suchte. Sie hatte
erst neulich in der Schule gesehen, daß der Lehrer eine Wunde ähnlich behandelt
hatte. Sie machte ihre Sache nicht ungeschickt, holte dann Wasser herbei und erbot
sich, aus der Apotheke Englisches Pflaster zu holen.

Der Hofrat hatte Englisches Pflaster und besann sich wohl auch darauf, daß
ein Schnitt in den Finger nichts Lebensgefährliches ist. Aber er betrachtete Anneli
nachdenklicher als sonst.

Du bist geschickt, kleine Nichte, ein ganz nützliches Wesen!

Die also Gelobte strahlte über das ganze Gesicht.

Onkel Willi, so etwas tue ich furchtbar gern! Frau Bäckermeisterin habe ich
auch die Hemd gehalten, als ihr der Barbier drei Zähne auszog. Sie schrie furcht¬
bar, und sie blutete wie --

Genug! Der Hofrat erblaßte von neuem. Solche Geschichten sind nichts für
mich, Anneli. Aber du hast mir doch sehr nett geholfen, und wir wollen zusammen
das Pflaster auf die Wunde legen.

Seit diesem kleinen Erlebnis rief Onkel Willi seine Nichte manchmal in sein
Zimmer, fragte nach ihren Fortschritten in der Schule und erlaubte ihr, in einer
Art Nische zu sitzen, die neben seinein Zimmer lag und durch einen Vorhang von
ihm getrennt wurde. Diese Nische hatte ein kleines Fenster, dessen Licht auf einen
Tisch fiel, an dem Anneli von nun an ihre Arbeiten machen sollte. Bis dahin
hatte sie noch keine feste Stätte dazu gehabt, und daher kam es vielleicht, daß der
Lehrer noch oft über sie den Kopf schüttelte. Anneli liebte das Lernen nicht be¬
sonders, es störte sie in ihren eignen Gedanken und Träumen, und deshalb begrüßte
sie diesen Arbeitsplatz mit sehr gemischten Gefühlen. Aber sie merkte schon am
ersten Tage, daß Onkel Willi ihre Gegenwart ganz vergaß. Er saß ein seinem
Schreibtisch, las in alten Büchern oder schrieb etwas auf, das er sich dann selber
halblaut vorlas. Manchmal sprach er von Schlössern, von Burgen und von alten
Königen, manchmal war es ein "ich," von dem er zu berichten schien.

Anneli hörte kaum aus sein leises Flüstern; wenn sie ihre Aufgaben flüchtig
gelernt hatte, suchte sie möglichst schnell zu entkommen. Denn mit jedem Tage
wurde die Welt schöner und grüner. Mit Freuden aber begleitete sie Onkel Willi,
um mit ihm die fertige Wohnung des Onkel Kandidaten zu betrachten. Diese war
wirklich nett und behaglich eingerichtet, und Herr Aurelius machte heiter den Wirt.

Ja, lieber Herr Hofrat, nun bin ich auch ein Schloßbewohner geworden und
hoffe, es noch lange zu bleiben, sagte er, während er seinem Gast einen großen ge¬
stickten Lehnstuhl hinschob und aus dem Wandschrank eine Karaffe mit Wein holte.


Menschenfrühling

.Kuchen herbei, Herr Aurelius hatte ihr gefallen, weil er nichts gegen Demoiselle Stahl
sagen wollte, und daß er sagte, liebe Fritze, laß die Hitze, fand sie ganz himmlisch.
Wenn sie so etwas nur auch sagen dürfte! Aber das war ganz unmöglich, nur im
stillen, ganz im stillen durfte sie sich ausmalen, wie es wäre, wenn sie es täte.

Nach einigen Tagen war der Kandidat mit Tante Fritzes Hilfe fix und fertig
eingerichtet, und auf seine Einladung kam eines Nachmittags auch der Hofrat, um
alles zu besichtigen.

Onkel Willi erging es in dieser Zeit nicht besonders, seine Schwester be^
kümmerte sich wenig um ihn. Das Essen kochte sie gut, weil der Kandidat ja
auch mit am Tisch saß, aber sonst war sie eigentlich meist in Bergheims Wohnung,
und ihr Bruder mußte sehen, wie er allein fertig wurde. Er hatte auch keine
besondre Bedienung nötig, hin und wieder wollte er aber doch etwas haben, und
einmal hatte er sich in den Finger geschnitten, und Tante Fritze war nicht da, ihm
die Wunde zu verbinden.

Er war ängstlich mit sich, Anneli, die gerade aus der Schule kam und den
Onkel hilflos in der Küche stehn sah, merkte zu ihrem Erstaunen, daß er mit blassem
Gesicht das Blut betrachtete, das aus der Wunde floß.

Der Doktor soll kommen, der Doktor! rief er, während Anneli ohne viel Be¬
sinnen ihr Taschentuch herauszog und den Finger zu verbinden suchte. Sie hatte
erst neulich in der Schule gesehen, daß der Lehrer eine Wunde ähnlich behandelt
hatte. Sie machte ihre Sache nicht ungeschickt, holte dann Wasser herbei und erbot
sich, aus der Apotheke Englisches Pflaster zu holen.

Der Hofrat hatte Englisches Pflaster und besann sich wohl auch darauf, daß
ein Schnitt in den Finger nichts Lebensgefährliches ist. Aber er betrachtete Anneli
nachdenklicher als sonst.

Du bist geschickt, kleine Nichte, ein ganz nützliches Wesen!

Die also Gelobte strahlte über das ganze Gesicht.

Onkel Willi, so etwas tue ich furchtbar gern! Frau Bäckermeisterin habe ich
auch die Hemd gehalten, als ihr der Barbier drei Zähne auszog. Sie schrie furcht¬
bar, und sie blutete wie —

Genug! Der Hofrat erblaßte von neuem. Solche Geschichten sind nichts für
mich, Anneli. Aber du hast mir doch sehr nett geholfen, und wir wollen zusammen
das Pflaster auf die Wunde legen.

Seit diesem kleinen Erlebnis rief Onkel Willi seine Nichte manchmal in sein
Zimmer, fragte nach ihren Fortschritten in der Schule und erlaubte ihr, in einer
Art Nische zu sitzen, die neben seinein Zimmer lag und durch einen Vorhang von
ihm getrennt wurde. Diese Nische hatte ein kleines Fenster, dessen Licht auf einen
Tisch fiel, an dem Anneli von nun an ihre Arbeiten machen sollte. Bis dahin
hatte sie noch keine feste Stätte dazu gehabt, und daher kam es vielleicht, daß der
Lehrer noch oft über sie den Kopf schüttelte. Anneli liebte das Lernen nicht be¬
sonders, es störte sie in ihren eignen Gedanken und Träumen, und deshalb begrüßte
sie diesen Arbeitsplatz mit sehr gemischten Gefühlen. Aber sie merkte schon am
ersten Tage, daß Onkel Willi ihre Gegenwart ganz vergaß. Er saß ein seinem
Schreibtisch, las in alten Büchern oder schrieb etwas auf, das er sich dann selber
halblaut vorlas. Manchmal sprach er von Schlössern, von Burgen und von alten
Königen, manchmal war es ein „ich," von dem er zu berichten schien.

Anneli hörte kaum aus sein leises Flüstern; wenn sie ihre Aufgaben flüchtig
gelernt hatte, suchte sie möglichst schnell zu entkommen. Denn mit jedem Tage
wurde die Welt schöner und grüner. Mit Freuden aber begleitete sie Onkel Willi,
um mit ihm die fertige Wohnung des Onkel Kandidaten zu betrachten. Diese war
wirklich nett und behaglich eingerichtet, und Herr Aurelius machte heiter den Wirt.

Ja, lieber Herr Hofrat, nun bin ich auch ein Schloßbewohner geworden und
hoffe, es noch lange zu bleiben, sagte er, während er seinem Gast einen großen ge¬
stickten Lehnstuhl hinschob und aus dem Wandschrank eine Karaffe mit Wein holte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/56>, abgerufen am 24.07.2024.