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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Mcnschenfrühling

Nun kriegt sie ihm natürlich! sagte Slina zu Anneli. 5?annst begreifen, daß
die Menschens so schlecht sind?

Anneli begriff Stinas Klagen nicht recht, und das alternde Mädchen wollte
sich auch nur aussprechen und verlangte nur freundliches Schweigen. Gerade wie
Anneli, die manchmal etwas sagte, was Slina nicht verstand. Die zwei fanden
sich immer wieder. Auf dem Schloßhof, bei dem lachenden Triton, oder in der
Stadt, und niemand legte ihrem Verkehr etwas in den Weg.

Tante Fritze dachte nicht mehr viel an Anneli und versäumte auch das Schelten.
Sie sprach von ihrem Better Aurelius und davon, daß er bei ihr und ihrem Bruder
täglich zu Mittag essen sollte, und daß er als Bedienung nur eine Morgenfrau
gebrauchte.

Dem Kandidaten waren in dem großen Schloß fünf sehr schöne Zimmer mit
allem Zubehör angewiesen worden, die er mit eignem altmodischem und behaglichem
Hausrat von oben bis unten füllte. Tante Fritze half ihm natürlich uni Einzugs¬
tage bei dem Einräumen, und Anneli mußte den ganzen schulfreien Nachmittag
Botendienste zwischen der Pnnkowschen und der neuen Wohnung machen. Sie
hätte mehr Lust gehabt, an den See hinunterzulaufen und dort zu sehen, wie Fred
Roland und sein Freund, der Pastorenjunge, vom Kahn ans angelten, aber sie
wurde nicht nach ihren Wünschen gefragt. Und schließlich war es auch nett, ein
Ereignis mitzumachen, das alle Welt in Aufregung versetzte. Von der Stadt her
kamen der Bürgermeister, der Doktor und andre Herren, um sich die Möbel des
Kandidaten anzusehen, und die Demoiselle Stahl saß den ganzen Tag mit ihrer
Lorgnette am Fenster, um jeden Tisch, jeden Stuhl bei dem Einzug genau zu be¬
trachten, und wenn ihr ein Gegenstand entging -- denn sie sah nicht mehr gut --,
dann mußte ihn Slina auf das genauste beschreiben.

Nun kommt ein Spiegel, Mamsell, und noch ein Bett. Lieber Gott, das ist
das vierte! Was will der Mann mit all dem Kram? Und Slina rang aufge¬
regt die Hände, wahrend die Demoiselle vergnügt lachte.

Nur keine Aufregung. Slina, der Kandidat scheint mir ein ansehnlicher Mann zu
sein, und vielleicht will er noch heiraten. Es sollte mich freuen, unser Schloß ist sehr still
geworden und bedarf der Auffrischung, in der Stadt aber gibts nette Mädchen genug!

Du mein Gott! murrte Slina, aber sie sagte nichts mehr, und Anneli, die einen
Augenblick bei der Demoiselle gewesen war und diese Unterhaltung angehört hatte,
mußte eilig davonlaufen, weil Taute Fritze über den ganzen Schloßhof nach ihr rief.

Die Wohnung des Kandidaten lag der Stahlschen gerade gegenüber und ebenfalls
im Erdgeschoß, sodaß sich die Inhaber der beiden Wohnungen fast in die Fenster
sehen konnten. Während aber bei der Demoiselle die Vorhänge weit zurückgeschlagen
waren, befestigte Tante Fritze bei dem Kandidaten dichte Scheibengardinen.

Die alte Hexe soll dir nicht in die Fenster sehen, Aurelius! sagte sie beinahe
drohend zu ihrem Vetter, der schon behaglich in einem Riesenlehnstuhl saß und ge¬
mütlich seine Pfeife rauchte.

Weshalb denn nicht? fragte er.

Aurelius, sie ist eine Tänzerin gewesen. Ein Frauenzimmer mit kurzen Kleidern
und nackten Armen!

Tante Fritze hätte noch gern mehr gesagt, aber Herr Aurelius streckte seine
Beine von sich und lachte dröhnend.

Liebe Fritze, laß die Hitze! Die alte Demoiselle war immer eine geachtete Dame,
und ich habe nur Gutes von ihr gehört. Tanzen ist keine Schande, liebe Fritze!

Zu Auuelis Erstaunen antwortete Tante Fritze ans diese Rede nur mit einem
unverständlichen Gemurmel und fragte gleich darauf sehr freundlich, ob Aurelius
auch ein Glas Wein haben wollte.

Er bejahte lebhaft, und Anneli mußte aus der Pankowschen Küche holen, was
dort schon fürsorglich zurechtgestellt worden war. Aber obgleich sie vom vielen
Himmdherlcmfen müde war, so schaffte sie dennoch mit Freuden Wein, Gläser und


Mcnschenfrühling

Nun kriegt sie ihm natürlich! sagte Slina zu Anneli. 5?annst begreifen, daß
die Menschens so schlecht sind?

Anneli begriff Stinas Klagen nicht recht, und das alternde Mädchen wollte
sich auch nur aussprechen und verlangte nur freundliches Schweigen. Gerade wie
Anneli, die manchmal etwas sagte, was Slina nicht verstand. Die zwei fanden
sich immer wieder. Auf dem Schloßhof, bei dem lachenden Triton, oder in der
Stadt, und niemand legte ihrem Verkehr etwas in den Weg.

Tante Fritze dachte nicht mehr viel an Anneli und versäumte auch das Schelten.
Sie sprach von ihrem Better Aurelius und davon, daß er bei ihr und ihrem Bruder
täglich zu Mittag essen sollte, und daß er als Bedienung nur eine Morgenfrau
gebrauchte.

Dem Kandidaten waren in dem großen Schloß fünf sehr schöne Zimmer mit
allem Zubehör angewiesen worden, die er mit eignem altmodischem und behaglichem
Hausrat von oben bis unten füllte. Tante Fritze half ihm natürlich uni Einzugs¬
tage bei dem Einräumen, und Anneli mußte den ganzen schulfreien Nachmittag
Botendienste zwischen der Pnnkowschen und der neuen Wohnung machen. Sie
hätte mehr Lust gehabt, an den See hinunterzulaufen und dort zu sehen, wie Fred
Roland und sein Freund, der Pastorenjunge, vom Kahn ans angelten, aber sie
wurde nicht nach ihren Wünschen gefragt. Und schließlich war es auch nett, ein
Ereignis mitzumachen, das alle Welt in Aufregung versetzte. Von der Stadt her
kamen der Bürgermeister, der Doktor und andre Herren, um sich die Möbel des
Kandidaten anzusehen, und die Demoiselle Stahl saß den ganzen Tag mit ihrer
Lorgnette am Fenster, um jeden Tisch, jeden Stuhl bei dem Einzug genau zu be¬
trachten, und wenn ihr ein Gegenstand entging — denn sie sah nicht mehr gut —,
dann mußte ihn Slina auf das genauste beschreiben.

Nun kommt ein Spiegel, Mamsell, und noch ein Bett. Lieber Gott, das ist
das vierte! Was will der Mann mit all dem Kram? Und Slina rang aufge¬
regt die Hände, wahrend die Demoiselle vergnügt lachte.

Nur keine Aufregung. Slina, der Kandidat scheint mir ein ansehnlicher Mann zu
sein, und vielleicht will er noch heiraten. Es sollte mich freuen, unser Schloß ist sehr still
geworden und bedarf der Auffrischung, in der Stadt aber gibts nette Mädchen genug!

Du mein Gott! murrte Slina, aber sie sagte nichts mehr, und Anneli, die einen
Augenblick bei der Demoiselle gewesen war und diese Unterhaltung angehört hatte,
mußte eilig davonlaufen, weil Taute Fritze über den ganzen Schloßhof nach ihr rief.

Die Wohnung des Kandidaten lag der Stahlschen gerade gegenüber und ebenfalls
im Erdgeschoß, sodaß sich die Inhaber der beiden Wohnungen fast in die Fenster
sehen konnten. Während aber bei der Demoiselle die Vorhänge weit zurückgeschlagen
waren, befestigte Tante Fritze bei dem Kandidaten dichte Scheibengardinen.

Die alte Hexe soll dir nicht in die Fenster sehen, Aurelius! sagte sie beinahe
drohend zu ihrem Vetter, der schon behaglich in einem Riesenlehnstuhl saß und ge¬
mütlich seine Pfeife rauchte.

Weshalb denn nicht? fragte er.

Aurelius, sie ist eine Tänzerin gewesen. Ein Frauenzimmer mit kurzen Kleidern
und nackten Armen!

Tante Fritze hätte noch gern mehr gesagt, aber Herr Aurelius streckte seine
Beine von sich und lachte dröhnend.

Liebe Fritze, laß die Hitze! Die alte Demoiselle war immer eine geachtete Dame,
und ich habe nur Gutes von ihr gehört. Tanzen ist keine Schande, liebe Fritze!

Zu Auuelis Erstaunen antwortete Tante Fritze ans diese Rede nur mit einem
unverständlichen Gemurmel und fragte gleich darauf sehr freundlich, ob Aurelius
auch ein Glas Wein haben wollte.

Er bejahte lebhaft, und Anneli mußte aus der Pankowschen Küche holen, was
dort schon fürsorglich zurechtgestellt worden war. Aber obgleich sie vom vielen
Himmdherlcmfen müde war, so schaffte sie dennoch mit Freuden Wein, Gläser und


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[0055] Mcnschenfrühling Nun kriegt sie ihm natürlich! sagte Slina zu Anneli. 5?annst begreifen, daß die Menschens so schlecht sind? Anneli begriff Stinas Klagen nicht recht, und das alternde Mädchen wollte sich auch nur aussprechen und verlangte nur freundliches Schweigen. Gerade wie Anneli, die manchmal etwas sagte, was Slina nicht verstand. Die zwei fanden sich immer wieder. Auf dem Schloßhof, bei dem lachenden Triton, oder in der Stadt, und niemand legte ihrem Verkehr etwas in den Weg. Tante Fritze dachte nicht mehr viel an Anneli und versäumte auch das Schelten. Sie sprach von ihrem Better Aurelius und davon, daß er bei ihr und ihrem Bruder täglich zu Mittag essen sollte, und daß er als Bedienung nur eine Morgenfrau gebrauchte. Dem Kandidaten waren in dem großen Schloß fünf sehr schöne Zimmer mit allem Zubehör angewiesen worden, die er mit eignem altmodischem und behaglichem Hausrat von oben bis unten füllte. Tante Fritze half ihm natürlich uni Einzugs¬ tage bei dem Einräumen, und Anneli mußte den ganzen schulfreien Nachmittag Botendienste zwischen der Pnnkowschen und der neuen Wohnung machen. Sie hätte mehr Lust gehabt, an den See hinunterzulaufen und dort zu sehen, wie Fred Roland und sein Freund, der Pastorenjunge, vom Kahn ans angelten, aber sie wurde nicht nach ihren Wünschen gefragt. Und schließlich war es auch nett, ein Ereignis mitzumachen, das alle Welt in Aufregung versetzte. Von der Stadt her kamen der Bürgermeister, der Doktor und andre Herren, um sich die Möbel des Kandidaten anzusehen, und die Demoiselle Stahl saß den ganzen Tag mit ihrer Lorgnette am Fenster, um jeden Tisch, jeden Stuhl bei dem Einzug genau zu be¬ trachten, und wenn ihr ein Gegenstand entging — denn sie sah nicht mehr gut —, dann mußte ihn Slina auf das genauste beschreiben. Nun kommt ein Spiegel, Mamsell, und noch ein Bett. Lieber Gott, das ist das vierte! Was will der Mann mit all dem Kram? Und Slina rang aufge¬ regt die Hände, wahrend die Demoiselle vergnügt lachte. Nur keine Aufregung. Slina, der Kandidat scheint mir ein ansehnlicher Mann zu sein, und vielleicht will er noch heiraten. Es sollte mich freuen, unser Schloß ist sehr still geworden und bedarf der Auffrischung, in der Stadt aber gibts nette Mädchen genug! Du mein Gott! murrte Slina, aber sie sagte nichts mehr, und Anneli, die einen Augenblick bei der Demoiselle gewesen war und diese Unterhaltung angehört hatte, mußte eilig davonlaufen, weil Taute Fritze über den ganzen Schloßhof nach ihr rief. Die Wohnung des Kandidaten lag der Stahlschen gerade gegenüber und ebenfalls im Erdgeschoß, sodaß sich die Inhaber der beiden Wohnungen fast in die Fenster sehen konnten. Während aber bei der Demoiselle die Vorhänge weit zurückgeschlagen waren, befestigte Tante Fritze bei dem Kandidaten dichte Scheibengardinen. Die alte Hexe soll dir nicht in die Fenster sehen, Aurelius! sagte sie beinahe drohend zu ihrem Vetter, der schon behaglich in einem Riesenlehnstuhl saß und ge¬ mütlich seine Pfeife rauchte. Weshalb denn nicht? fragte er. Aurelius, sie ist eine Tänzerin gewesen. Ein Frauenzimmer mit kurzen Kleidern und nackten Armen! Tante Fritze hätte noch gern mehr gesagt, aber Herr Aurelius streckte seine Beine von sich und lachte dröhnend. Liebe Fritze, laß die Hitze! Die alte Demoiselle war immer eine geachtete Dame, und ich habe nur Gutes von ihr gehört. Tanzen ist keine Schande, liebe Fritze! Zu Auuelis Erstaunen antwortete Tante Fritze ans diese Rede nur mit einem unverständlichen Gemurmel und fragte gleich darauf sehr freundlich, ob Aurelius auch ein Glas Wein haben wollte. Er bejahte lebhaft, und Anneli mußte aus der Pankowschen Küche holen, was dort schon fürsorglich zurechtgestellt worden war. Aber obgleich sie vom vielen Himmdherlcmfen müde war, so schaffte sie dennoch mit Freuden Wein, Gläser und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/55>, abgerufen am 27.12.2024.