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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Menschenfrühling

Wie sind Sie eigentlich zu dieser Wohnung gekommen? fragte der andre,
während Herr Aurelius bedächtig einschenkte.

Man hat so seine Bekanntschaften, entgegnete er. Dem einen gelingt es auf
geradem Wege, dem andern um die Ecke herum. Ich Habs auch eigentlich nötig,
Herr Hofrat. Meine Mobilien sind ja gut genug, aber meine Zinsen sind nur gering.
Und wenn man alt wird, will man doch sein Behagen haben. Nun, Anneli, willst
du auch einen Schluck Wem trinken? Du bist ein braves Kind und hast schön
geholfen. Vielleicht schenke ich dir noch einmal etwas!

Onkel Aurelius war doch sehr nett; behaglich schlürfte Anneli den süßen Wein,
begleitete ihren Onkel dann aber doch wieder heimwärts, wo schon Tante Fritze
auf beide wartete. Sie hatte ihren Bruder nicht begleiten können, weil sie der Ein¬
ladung zu einer Kaffeegesellschaft in der Stadt hatte nachkommen müsse"; jetzt mußte
Anneli ihr von allem berichten. Ob es in der neuen Wohnung ordentlich, und ob
der Wein gut gewesen wäre. Sie hatte ihn besorgt, denn Onkel Aurelius verstand
von diesen Dingen nicht allzuviel.

Es war alles schön! versicherte Anneli. Du kannst ja gleich noch einmal selbst
nachsehen, Tante Fritze!

Diese aber schüttelte den Kopf und atmete beim Sprechen noch heftiger als sonst.

Es ist schon spät am Tage, liebes Kind. Da kann ich nicht mehr zu einem
unverheirateten Manne gehen. Das ist gegen meine Reputation.

Diesen Satz teilte Anneli am nächsten Tage Christel mit, die spöttisch lachte.

Deine Taute ist verrückt, ich habe es immer gesagt, und Papa sagt auch, daß
sie Raupen im Kopfe hätte. Reputation heißt Ruf, aber alte Jungfern wie deine
Tante brauchen keinen Ruf mehr.

Aber meine Taute ist keine alte Jungfer! rief Anneli gereizt. Seitdem Tante
Fritze nicht mehr soviel schalt, empfand sie für sie doch etwas wie Verwaudtenliebe.

Ist sie denn ein alter Kerl? Höhute Christel und befahl ihr zu schweigen,
denn Anneli hatte wieder antworten wollen, was sich für ein kleineres Mädchen
nicht schickte. Christel war in ihre" Stimmungen jetzt veränderlich, was daher kam,
daß sie eine neue Freundin gefunden hatte, die sechzehn Jahre alt war und aus
Hamburg kam. Sie war beim Bürgermeister in Pension und hieß Katharina Makler.
Doch weil Katharina ein zu gewöhnlicher Name war, nannte sie sich Rita. Rita
war von Launen abhängig, was sie sich als fast erwnchsne Dame schon erlauben konnte.
Eines Tages war sie nett gegen die jüngern Gefährtinnen, küßte sie stürmisch und
erzählte ihnen die aufregendsten Geschichten ans der Großstadt, ein andermal sprach
sie von der kleinen Stadt in den verächtlichsten Ausdrücken und beklagte ihr Los,
mit lauter kleinern Mädchen verkehren und bei dem Bürgermeister zweimal wöchentlich
Frikandelle" essen zu müssen, während sie doch an Beefsteak gewöhnt war und noch
dazu sechshundert Mark Kostgeld bezahlte. Christel Sudeck hatte sich gleich ganz
besonders an sie angeschlossen. Sie war für das Neue, und neue Freundschaften
hatte sie lieber als alte. Nach dreimaligem Sehen hatten sich Rita und sie ewige
Treue geschworen, und wenn Rita am andern Tage auch mit der Tochter des
Steuereinnehmers denselben Schwur wiederholte, so fühlte sich Christel doch sehr
beglückt, der Freundschaft eines so erwachsnen und welterfahrnen Mädchens gewürdigt
zu werden.

Anneli kam natürlich bei diesem Bündnis zu kurz. Sie empfand schmerzlich,
daß sie für die großen Mädchen zu klein war, und brannte doch darauf, sich ihnen
angenehm zu machen. Als Christel sie einlud, am nächsten Sonntagnachmittag
das Kränzchen bei ihr mitzumachen und alle die "Großen" einmal von Angesicht
Zu Angesicht kennen zu lernen und sprechen zu hören, da wurde sie so aufgeregt,
daß sie bei Herrn Gebhardt nachsitzen mußte, weil sie sich nicht auf den König
Nebukndnezar besinnen konnte, von dem sie in der vorigen Stunde eine lange
Geschichte gelernt hatte. Auch Nike Blüthen war mit ihr und mit ihrem Fleiß
sehr unzufrieden, da sie nur aus dem Fenster sah, um Christel Sudeck zu erspähen


Menschenfrühling

Wie sind Sie eigentlich zu dieser Wohnung gekommen? fragte der andre,
während Herr Aurelius bedächtig einschenkte.

Man hat so seine Bekanntschaften, entgegnete er. Dem einen gelingt es auf
geradem Wege, dem andern um die Ecke herum. Ich Habs auch eigentlich nötig,
Herr Hofrat. Meine Mobilien sind ja gut genug, aber meine Zinsen sind nur gering.
Und wenn man alt wird, will man doch sein Behagen haben. Nun, Anneli, willst
du auch einen Schluck Wem trinken? Du bist ein braves Kind und hast schön
geholfen. Vielleicht schenke ich dir noch einmal etwas!

Onkel Aurelius war doch sehr nett; behaglich schlürfte Anneli den süßen Wein,
begleitete ihren Onkel dann aber doch wieder heimwärts, wo schon Tante Fritze
auf beide wartete. Sie hatte ihren Bruder nicht begleiten können, weil sie der Ein¬
ladung zu einer Kaffeegesellschaft in der Stadt hatte nachkommen müsse»; jetzt mußte
Anneli ihr von allem berichten. Ob es in der neuen Wohnung ordentlich, und ob
der Wein gut gewesen wäre. Sie hatte ihn besorgt, denn Onkel Aurelius verstand
von diesen Dingen nicht allzuviel.

Es war alles schön! versicherte Anneli. Du kannst ja gleich noch einmal selbst
nachsehen, Tante Fritze!

Diese aber schüttelte den Kopf und atmete beim Sprechen noch heftiger als sonst.

Es ist schon spät am Tage, liebes Kind. Da kann ich nicht mehr zu einem
unverheirateten Manne gehen. Das ist gegen meine Reputation.

Diesen Satz teilte Anneli am nächsten Tage Christel mit, die spöttisch lachte.

Deine Taute ist verrückt, ich habe es immer gesagt, und Papa sagt auch, daß
sie Raupen im Kopfe hätte. Reputation heißt Ruf, aber alte Jungfern wie deine
Tante brauchen keinen Ruf mehr.

Aber meine Taute ist keine alte Jungfer! rief Anneli gereizt. Seitdem Tante
Fritze nicht mehr soviel schalt, empfand sie für sie doch etwas wie Verwaudtenliebe.

Ist sie denn ein alter Kerl? Höhute Christel und befahl ihr zu schweigen,
denn Anneli hatte wieder antworten wollen, was sich für ein kleineres Mädchen
nicht schickte. Christel war in ihre» Stimmungen jetzt veränderlich, was daher kam,
daß sie eine neue Freundin gefunden hatte, die sechzehn Jahre alt war und aus
Hamburg kam. Sie war beim Bürgermeister in Pension und hieß Katharina Makler.
Doch weil Katharina ein zu gewöhnlicher Name war, nannte sie sich Rita. Rita
war von Launen abhängig, was sie sich als fast erwnchsne Dame schon erlauben konnte.
Eines Tages war sie nett gegen die jüngern Gefährtinnen, küßte sie stürmisch und
erzählte ihnen die aufregendsten Geschichten ans der Großstadt, ein andermal sprach
sie von der kleinen Stadt in den verächtlichsten Ausdrücken und beklagte ihr Los,
mit lauter kleinern Mädchen verkehren und bei dem Bürgermeister zweimal wöchentlich
Frikandelle» essen zu müssen, während sie doch an Beefsteak gewöhnt war und noch
dazu sechshundert Mark Kostgeld bezahlte. Christel Sudeck hatte sich gleich ganz
besonders an sie angeschlossen. Sie war für das Neue, und neue Freundschaften
hatte sie lieber als alte. Nach dreimaligem Sehen hatten sich Rita und sie ewige
Treue geschworen, und wenn Rita am andern Tage auch mit der Tochter des
Steuereinnehmers denselben Schwur wiederholte, so fühlte sich Christel doch sehr
beglückt, der Freundschaft eines so erwachsnen und welterfahrnen Mädchens gewürdigt
zu werden.

Anneli kam natürlich bei diesem Bündnis zu kurz. Sie empfand schmerzlich,
daß sie für die großen Mädchen zu klein war, und brannte doch darauf, sich ihnen
angenehm zu machen. Als Christel sie einlud, am nächsten Sonntagnachmittag
das Kränzchen bei ihr mitzumachen und alle die „Großen" einmal von Angesicht
Zu Angesicht kennen zu lernen und sprechen zu hören, da wurde sie so aufgeregt,
daß sie bei Herrn Gebhardt nachsitzen mußte, weil sie sich nicht auf den König
Nebukndnezar besinnen konnte, von dem sie in der vorigen Stunde eine lange
Geschichte gelernt hatte. Auch Nike Blüthen war mit ihr und mit ihrem Fleiß
sehr unzufrieden, da sie nur aus dem Fenster sah, um Christel Sudeck zu erspähen


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[0057] Menschenfrühling Wie sind Sie eigentlich zu dieser Wohnung gekommen? fragte der andre, während Herr Aurelius bedächtig einschenkte. Man hat so seine Bekanntschaften, entgegnete er. Dem einen gelingt es auf geradem Wege, dem andern um die Ecke herum. Ich Habs auch eigentlich nötig, Herr Hofrat. Meine Mobilien sind ja gut genug, aber meine Zinsen sind nur gering. Und wenn man alt wird, will man doch sein Behagen haben. Nun, Anneli, willst du auch einen Schluck Wem trinken? Du bist ein braves Kind und hast schön geholfen. Vielleicht schenke ich dir noch einmal etwas! Onkel Aurelius war doch sehr nett; behaglich schlürfte Anneli den süßen Wein, begleitete ihren Onkel dann aber doch wieder heimwärts, wo schon Tante Fritze auf beide wartete. Sie hatte ihren Bruder nicht begleiten können, weil sie der Ein¬ ladung zu einer Kaffeegesellschaft in der Stadt hatte nachkommen müsse»; jetzt mußte Anneli ihr von allem berichten. Ob es in der neuen Wohnung ordentlich, und ob der Wein gut gewesen wäre. Sie hatte ihn besorgt, denn Onkel Aurelius verstand von diesen Dingen nicht allzuviel. Es war alles schön! versicherte Anneli. Du kannst ja gleich noch einmal selbst nachsehen, Tante Fritze! Diese aber schüttelte den Kopf und atmete beim Sprechen noch heftiger als sonst. Es ist schon spät am Tage, liebes Kind. Da kann ich nicht mehr zu einem unverheirateten Manne gehen. Das ist gegen meine Reputation. Diesen Satz teilte Anneli am nächsten Tage Christel mit, die spöttisch lachte. Deine Taute ist verrückt, ich habe es immer gesagt, und Papa sagt auch, daß sie Raupen im Kopfe hätte. Reputation heißt Ruf, aber alte Jungfern wie deine Tante brauchen keinen Ruf mehr. Aber meine Taute ist keine alte Jungfer! rief Anneli gereizt. Seitdem Tante Fritze nicht mehr soviel schalt, empfand sie für sie doch etwas wie Verwaudtenliebe. Ist sie denn ein alter Kerl? Höhute Christel und befahl ihr zu schweigen, denn Anneli hatte wieder antworten wollen, was sich für ein kleineres Mädchen nicht schickte. Christel war in ihre» Stimmungen jetzt veränderlich, was daher kam, daß sie eine neue Freundin gefunden hatte, die sechzehn Jahre alt war und aus Hamburg kam. Sie war beim Bürgermeister in Pension und hieß Katharina Makler. Doch weil Katharina ein zu gewöhnlicher Name war, nannte sie sich Rita. Rita war von Launen abhängig, was sie sich als fast erwnchsne Dame schon erlauben konnte. Eines Tages war sie nett gegen die jüngern Gefährtinnen, küßte sie stürmisch und erzählte ihnen die aufregendsten Geschichten ans der Großstadt, ein andermal sprach sie von der kleinen Stadt in den verächtlichsten Ausdrücken und beklagte ihr Los, mit lauter kleinern Mädchen verkehren und bei dem Bürgermeister zweimal wöchentlich Frikandelle» essen zu müssen, während sie doch an Beefsteak gewöhnt war und noch dazu sechshundert Mark Kostgeld bezahlte. Christel Sudeck hatte sich gleich ganz besonders an sie angeschlossen. Sie war für das Neue, und neue Freundschaften hatte sie lieber als alte. Nach dreimaligem Sehen hatten sich Rita und sie ewige Treue geschworen, und wenn Rita am andern Tage auch mit der Tochter des Steuereinnehmers denselben Schwur wiederholte, so fühlte sich Christel doch sehr beglückt, der Freundschaft eines so erwachsnen und welterfahrnen Mädchens gewürdigt zu werden. Anneli kam natürlich bei diesem Bündnis zu kurz. Sie empfand schmerzlich, daß sie für die großen Mädchen zu klein war, und brannte doch darauf, sich ihnen angenehm zu machen. Als Christel sie einlud, am nächsten Sonntagnachmittag das Kränzchen bei ihr mitzumachen und alle die „Großen" einmal von Angesicht Zu Angesicht kennen zu lernen und sprechen zu hören, da wurde sie so aufgeregt, daß sie bei Herrn Gebhardt nachsitzen mußte, weil sie sich nicht auf den König Nebukndnezar besinnen konnte, von dem sie in der vorigen Stunde eine lange Geschichte gelernt hatte. Auch Nike Blüthen war mit ihr und mit ihrem Fleiß sehr unzufrieden, da sie nur aus dem Fenster sah, um Christel Sudeck zu erspähen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/57>, abgerufen am 24.07.2024.