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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

ungebrochne Einheit der Kirche in der Überzeugung begründet, daß das Bekenntnis,
tels man vertrat, das Bekenntnis der absoluten Wahrheit sei, und dieser Sinnen¬
verblendung entging auch der Kalvinismus nicht. Indem jedoch das Zerbrechen
der Einheit der Kirche von selbst den relativen Charakter aller Bekenntnisse ans
Licht bringen mußte, hat der Kalvinismus dadurch, daß er die Bildung verschiedner
Kirchen möglich machte, die Beschränktheit unsrer Einsicht auch in Beziehung auf
die religiösen Bekenntnisse ans Licht gebracht."

Wie der Zuchtlosigkeit in den Sitten, so hat Kalvin der Zuchtlosigkeit im
Denken ein Ende gemacht. Die Prädestinationslehre schaltet alle Willkür und alle
Zufälligkeiten ans und zwingt anzuerkennen, daß das Gesetz Gottes als Notwendig¬
keit alle Gebiete des Daseins durchwaltet und beherrscht. Erst damit wird strenge
Wissenschaft möglich. Darum ist der kräftigste Antrieb zum Aufschwung der Natur¬
wissenschaften im sechzehnten und im siebzehnten Jahrhundert von den Niederlanden
ausgegangen, und der Heldenmut der Bürger des belagerten Leydens hat nicht
allein die politische, sondern auch die geistige Freiheit Europas gerettet; daß Leyden
mit der Gründung einer Universität belohnt wurde, symbolisiert diese weltgeschicht¬
liche Wendung. Kalvin hat auch durch seine Lehre von der allgemeinen Gnade
(die u. a. die Tugenden der Heiden erklärt, und die mit der Beseligung der Erlösten
nichts zu schaffen hat) der Wissenschaft ihr Gebiet, den Kosmos, zurückgegeben.
Zwischen Glauben und Wissen besteht kein Zwiespalt; alles Wissen wurzelt in einem
Glauben. Wohl aber besteht ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen den normalsten,
die die Verderbnis der ursprünglichen Schöpfung leugnen, und den Anormalsten,
die sie anerkenne". Jede der beiden Ansichten wurzelt in einem eigentümlichen
Selbstbewußtsein. Das des Kalvinisten, des folgerichtigen Anormalsten, des Wieder-
gebornen, schließt das Sündenbewußtsein, die Glaubenszuversicht und das Zeugnis
des heiligen Geistes ein. Menschen von verschiednen Bewußtsein können einander
nicht versteh"; aus jedem eigentümlichen Bewußtsein geht eine eigentümliche Wissen¬
schaft hervor. normalsten, Naturalisten, die die Sünde für etwas Natürliches,
für bloße UnVollkommenheit halten und trotzdem an Gott und an Christus glauben,
sind unlogisch und darum unwissenschaftlich. Wie früher Kirche und Staat die
normalsten verfolgt haben, so wollen heute diese, in der Zunft der Universitäts¬
professoren organisiert und zur Herrschaft gelaugt, ihr eignes Bewußtsein den
Anormalsten aufzwingen. Darum ist es als ein Fortschritt anzusehen, daß die
Katholiken, die wenigstens inkonsequente Anormalsten sind, eigne Universitäten zu
gründen anfangen, wie im sechzehnten Jahrhundert die Protestanten ihre eignen
Hochschulen den katholischen entgegengestellt haben. Einen eignen Kunststil hat der
Kalvinismus nicht schaffen können, weil alle Kunst aus der Religion hervorgeht,
der Kalvinismus aber die höchste Stufe der Religion ist und die niedere, symbolische,
auf der die Religion der Kunst bedarf, überwunden hat. Aber Kunstbarbaren sind
die Kalvinisten nicht. Sie erkennen die hohe Aufgabe der Kunst an: die Sehnsucht
nach der Verlornen Paradiesesschönheit zu erwecken diesem Sinne hat Milton
die Schönheit des Paradieses, der ersten Menschen und ihr Eheglück geschildert^
und sie haben die Künste demokratisiert, ins Volksleben eingeführt. Auch dürfe
nicht übersehen werden, in welchem Grade die künstlerische Betätigung eines Volkes
von der Natur seines Landes abhängt. Was endlich die Zukunft betrifft, so ist
Rettung aus der heutigen Verödung und Verwilderung der Herzen, die mit dem
wissenschaftlichen und dem technischen Fortschritt wächst, von der protestantischen
Theologie so wenig zu erwarten wie von der Mode gewordnen Mystik. Die
Katholiken, meint Kuyper, sind zwar unsre Bundesgenossen im Kampfe gegen die
Gottlosigkeit -- denn um das, was uns von ihnen trennt, handelt es sich nicht
w dem großen Entscheidungskampfe dieser Zeit --, aber retten können sie uns
nicht, wie der Zustand der katholischen Länder beweist; retten kann allein der
Kalvinismus. Eine Kritik des dringend zu empfehlenden Buches würde sehr lang
ausfallen.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

ungebrochne Einheit der Kirche in der Überzeugung begründet, daß das Bekenntnis,
tels man vertrat, das Bekenntnis der absoluten Wahrheit sei, und dieser Sinnen¬
verblendung entging auch der Kalvinismus nicht. Indem jedoch das Zerbrechen
der Einheit der Kirche von selbst den relativen Charakter aller Bekenntnisse ans
Licht bringen mußte, hat der Kalvinismus dadurch, daß er die Bildung verschiedner
Kirchen möglich machte, die Beschränktheit unsrer Einsicht auch in Beziehung auf
die religiösen Bekenntnisse ans Licht gebracht."

Wie der Zuchtlosigkeit in den Sitten, so hat Kalvin der Zuchtlosigkeit im
Denken ein Ende gemacht. Die Prädestinationslehre schaltet alle Willkür und alle
Zufälligkeiten ans und zwingt anzuerkennen, daß das Gesetz Gottes als Notwendig¬
keit alle Gebiete des Daseins durchwaltet und beherrscht. Erst damit wird strenge
Wissenschaft möglich. Darum ist der kräftigste Antrieb zum Aufschwung der Natur¬
wissenschaften im sechzehnten und im siebzehnten Jahrhundert von den Niederlanden
ausgegangen, und der Heldenmut der Bürger des belagerten Leydens hat nicht
allein die politische, sondern auch die geistige Freiheit Europas gerettet; daß Leyden
mit der Gründung einer Universität belohnt wurde, symbolisiert diese weltgeschicht¬
liche Wendung. Kalvin hat auch durch seine Lehre von der allgemeinen Gnade
(die u. a. die Tugenden der Heiden erklärt, und die mit der Beseligung der Erlösten
nichts zu schaffen hat) der Wissenschaft ihr Gebiet, den Kosmos, zurückgegeben.
Zwischen Glauben und Wissen besteht kein Zwiespalt; alles Wissen wurzelt in einem
Glauben. Wohl aber besteht ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen den normalsten,
die die Verderbnis der ursprünglichen Schöpfung leugnen, und den Anormalsten,
die sie anerkenne». Jede der beiden Ansichten wurzelt in einem eigentümlichen
Selbstbewußtsein. Das des Kalvinisten, des folgerichtigen Anormalsten, des Wieder-
gebornen, schließt das Sündenbewußtsein, die Glaubenszuversicht und das Zeugnis
des heiligen Geistes ein. Menschen von verschiednen Bewußtsein können einander
nicht versteh»; aus jedem eigentümlichen Bewußtsein geht eine eigentümliche Wissen¬
schaft hervor. normalsten, Naturalisten, die die Sünde für etwas Natürliches,
für bloße UnVollkommenheit halten und trotzdem an Gott und an Christus glauben,
sind unlogisch und darum unwissenschaftlich. Wie früher Kirche und Staat die
normalsten verfolgt haben, so wollen heute diese, in der Zunft der Universitäts¬
professoren organisiert und zur Herrschaft gelaugt, ihr eignes Bewußtsein den
Anormalsten aufzwingen. Darum ist es als ein Fortschritt anzusehen, daß die
Katholiken, die wenigstens inkonsequente Anormalsten sind, eigne Universitäten zu
gründen anfangen, wie im sechzehnten Jahrhundert die Protestanten ihre eignen
Hochschulen den katholischen entgegengestellt haben. Einen eignen Kunststil hat der
Kalvinismus nicht schaffen können, weil alle Kunst aus der Religion hervorgeht,
der Kalvinismus aber die höchste Stufe der Religion ist und die niedere, symbolische,
auf der die Religion der Kunst bedarf, überwunden hat. Aber Kunstbarbaren sind
die Kalvinisten nicht. Sie erkennen die hohe Aufgabe der Kunst an: die Sehnsucht
nach der Verlornen Paradiesesschönheit zu erwecken diesem Sinne hat Milton
die Schönheit des Paradieses, der ersten Menschen und ihr Eheglück geschildert^
und sie haben die Künste demokratisiert, ins Volksleben eingeführt. Auch dürfe
nicht übersehen werden, in welchem Grade die künstlerische Betätigung eines Volkes
von der Natur seines Landes abhängt. Was endlich die Zukunft betrifft, so ist
Rettung aus der heutigen Verödung und Verwilderung der Herzen, die mit dem
wissenschaftlichen und dem technischen Fortschritt wächst, von der protestantischen
Theologie so wenig zu erwarten wie von der Mode gewordnen Mystik. Die
Katholiken, meint Kuyper, sind zwar unsre Bundesgenossen im Kampfe gegen die
Gottlosigkeit — denn um das, was uns von ihnen trennt, handelt es sich nicht
w dem großen Entscheidungskampfe dieser Zeit —, aber retten können sie uns
nicht, wie der Zustand der katholischen Länder beweist; retten kann allein der
Kalvinismus. Eine Kritik des dringend zu empfehlenden Buches würde sehr lang
ausfallen.


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[0459] Maßgebliches und Unmaßgebliches ungebrochne Einheit der Kirche in der Überzeugung begründet, daß das Bekenntnis, tels man vertrat, das Bekenntnis der absoluten Wahrheit sei, und dieser Sinnen¬ verblendung entging auch der Kalvinismus nicht. Indem jedoch das Zerbrechen der Einheit der Kirche von selbst den relativen Charakter aller Bekenntnisse ans Licht bringen mußte, hat der Kalvinismus dadurch, daß er die Bildung verschiedner Kirchen möglich machte, die Beschränktheit unsrer Einsicht auch in Beziehung auf die religiösen Bekenntnisse ans Licht gebracht." Wie der Zuchtlosigkeit in den Sitten, so hat Kalvin der Zuchtlosigkeit im Denken ein Ende gemacht. Die Prädestinationslehre schaltet alle Willkür und alle Zufälligkeiten ans und zwingt anzuerkennen, daß das Gesetz Gottes als Notwendig¬ keit alle Gebiete des Daseins durchwaltet und beherrscht. Erst damit wird strenge Wissenschaft möglich. Darum ist der kräftigste Antrieb zum Aufschwung der Natur¬ wissenschaften im sechzehnten und im siebzehnten Jahrhundert von den Niederlanden ausgegangen, und der Heldenmut der Bürger des belagerten Leydens hat nicht allein die politische, sondern auch die geistige Freiheit Europas gerettet; daß Leyden mit der Gründung einer Universität belohnt wurde, symbolisiert diese weltgeschicht¬ liche Wendung. Kalvin hat auch durch seine Lehre von der allgemeinen Gnade (die u. a. die Tugenden der Heiden erklärt, und die mit der Beseligung der Erlösten nichts zu schaffen hat) der Wissenschaft ihr Gebiet, den Kosmos, zurückgegeben. Zwischen Glauben und Wissen besteht kein Zwiespalt; alles Wissen wurzelt in einem Glauben. Wohl aber besteht ein unversöhnlicher Gegensatz zwischen den normalsten, die die Verderbnis der ursprünglichen Schöpfung leugnen, und den Anormalsten, die sie anerkenne». Jede der beiden Ansichten wurzelt in einem eigentümlichen Selbstbewußtsein. Das des Kalvinisten, des folgerichtigen Anormalsten, des Wieder- gebornen, schließt das Sündenbewußtsein, die Glaubenszuversicht und das Zeugnis des heiligen Geistes ein. Menschen von verschiednen Bewußtsein können einander nicht versteh»; aus jedem eigentümlichen Bewußtsein geht eine eigentümliche Wissen¬ schaft hervor. normalsten, Naturalisten, die die Sünde für etwas Natürliches, für bloße UnVollkommenheit halten und trotzdem an Gott und an Christus glauben, sind unlogisch und darum unwissenschaftlich. Wie früher Kirche und Staat die normalsten verfolgt haben, so wollen heute diese, in der Zunft der Universitäts¬ professoren organisiert und zur Herrschaft gelaugt, ihr eignes Bewußtsein den Anormalsten aufzwingen. Darum ist es als ein Fortschritt anzusehen, daß die Katholiken, die wenigstens inkonsequente Anormalsten sind, eigne Universitäten zu gründen anfangen, wie im sechzehnten Jahrhundert die Protestanten ihre eignen Hochschulen den katholischen entgegengestellt haben. Einen eignen Kunststil hat der Kalvinismus nicht schaffen können, weil alle Kunst aus der Religion hervorgeht, der Kalvinismus aber die höchste Stufe der Religion ist und die niedere, symbolische, auf der die Religion der Kunst bedarf, überwunden hat. Aber Kunstbarbaren sind die Kalvinisten nicht. Sie erkennen die hohe Aufgabe der Kunst an: die Sehnsucht nach der Verlornen Paradiesesschönheit zu erwecken diesem Sinne hat Milton die Schönheit des Paradieses, der ersten Menschen und ihr Eheglück geschildert^ und sie haben die Künste demokratisiert, ins Volksleben eingeführt. Auch dürfe nicht übersehen werden, in welchem Grade die künstlerische Betätigung eines Volkes von der Natur seines Landes abhängt. Was endlich die Zukunft betrifft, so ist Rettung aus der heutigen Verödung und Verwilderung der Herzen, die mit dem wissenschaftlichen und dem technischen Fortschritt wächst, von der protestantischen Theologie so wenig zu erwarten wie von der Mode gewordnen Mystik. Die Katholiken, meint Kuyper, sind zwar unsre Bundesgenossen im Kampfe gegen die Gottlosigkeit — denn um das, was uns von ihnen trennt, handelt es sich nicht w dem großen Entscheidungskampfe dieser Zeit —, aber retten können sie uns nicht, wie der Zustand der katholischen Länder beweist; retten kann allein der Kalvinismus. Eine Kritik des dringend zu empfehlenden Buches würde sehr lang ausfallen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/459>, abgerufen am 30.06.2024.