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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Zufällen abhängig die Kritik ist. Wir haben es vor einem Vierteljahre erhalten,
und der abgedroschne Titel war schuld daran, daß wir erst vor ein paar Tagen
hineingeschaut haben, wo wir dann eine große und angenehme Überraschung erlebten.
Ein paar Hauptgedanken mögen von Küppers Weltansicht eine Ahnung geben.

Ihm ist der Kalvinismus nicht eine Kirche, eine Konfession oder gar eine
Sekte, sondern eine selbständige Lebensrichtung, die aus ihrem eigentümlichen Lebens¬
prinzip eine besondre Form des Denkens und Lebens für die Völker Westeuropas,
Nordamerikas und Südafrikas entwickelt hat. Nur aus dem ewigen Lebensquell,
aus Gott, können, in der Form einer Religion, eigentümliche und dauerhafte Lebens¬
formen hervorgehn; was nicht aus diesem Quell stammt, ist rasch zerfließender Dunst.
Die vier großen Lebensformen, die in der Weltgeschichte einander abgelöst haben,
sind der hellenische Paganismus, der Islamismus, der Romanismus oder römische
Katholizismus und der Kalvinismus. Luther ist zwar ein größerer Mann als
Kalvin, dieser wäre ohne ihn gar nicht denkbar, aber er hat, als Gemütsmensch,
den reformatorischen Gedanken weder scharf erfaßt noch völlig durchgebildet. Noch
weniger als das Luthertum kommt für die weltgeschichtliche Auffassung die allge¬
meine Bezeichnung "Protestantismus" in Betracht, die ja nur "einen negativen
Begriff ausdrückt und jetzt am beliebtesten in Kreisen ist, die mit dem ganzen positiven
Inhalt des reformatorischen Bekenntnisses gebrochen haben." Die französische Revo¬
lution war nur eine Karikatur der Reformation, und der durch sie zu einer Macht
des öffentlichen Lebens gewordne Modernismus kann, weil er die Verbindung rin
Gott, dem Lebensquell, gelöst hat, mit keiner seiner Arten (Atheismus, Pantheismus,
Agnostizismus) eine neue Lebensform schaffen. Als Vollender der christlichen Religion
verhilft der Kalvinismus vier Wahrheiten zum Durchbruch. Endzweck der Religion
ist nicht der Mensch, sondern Gott. Für alle Nichtkalvinisten sind Gott und die
Religion nur dazu da, den Einzelnen in der Not zu helfen und die Staaten in
Ordnung zu halten; dem Kalvinisten ist die Religion Anerkennung der unumschränkten
Souveränität Gottes. Ihm ist die Religion zweitens nicht durch irgendwelche kirch¬
liche Institutionen vermittelt, sondern seinem Herzen unmittelbar von Gott verliehen.
Seine Religion ist drittens universell, das ganze Leben durchdringend, nicht auf
eine besondre Lebenssphäre beschränkt, neben der eine ungöttliche Kunst, Wissenschaft,
Häuslichkeit, Geschäftspraxis bestehn bleiben dürfte. Sie ist viertens soteriologisch,
d. h. sie beruht auf der Überzeugung, daß die Welt nicht normal, sondern anormal,
durch die Sünde verdorben ist und nnr durch Gottes Gnade in ihrer ursprüng¬
lichen Ordnung und Schönheit wiederhergestellt werden kann. Da die Kirche, wie
die Religion, nicht um des Menschen, sondern um Gottes willen da ist, darf man
sie sich nicht als Vorbereitnngsanstalt für den Himmel denken. Sie besteht aus
einer Reihe von Geschlechtern, die als Auserwählte Gottes auf den jenseitigen
Himmel, dem sie schon angehören, und in dem ihr Lebenszentrum liegt, im Vorhof
harren; kein Gedanke, daß Nichtbekehrte drüben noch gerettet werden könnten! Der
Kalvinist flieht die Welt nicht, aber er verpönt Kartenspiel, Tanz und Theater,
weil diese drei Erholungsarten, nicht zwar notwendig aber praktisch unvermeidlich,
teils Werkzeuge der Sünde, teils Verlockungen zur Sünde sind. Was dann die
Politik betrifft, so erkennt der Kalvinist nur eine Autorität an: Gott. Wenn daneben
noch andre bestehn und bestehn niüssen, so ist das eine Folge der Sünde, die ohne
die Staatsordnung die Erde zur Hölle machen würde. Darum hat Gott den Staats¬
mechanismus eingesetzt, der jedoch über die Familie, über Religion, Kunst und Wissen¬
schaft, über das Genie keine Gewalt hat; denn diesen organischen Lebensmächten
ist vom höchsten Souverän ihre eigne Souveränität verliehen worden. Alle Staats¬
formen sind zulässig, aber die republikanische ist die beste; eine andre Aristokratie
als die des Geistes und des persönlichen Verdienstes ist nicht zu dulden. Für das
Verhältnis von Staat und Kirche gilt die Formel: Freie Kirche im freien Staate.
Die Kalvinisten sind anfänglich unduldsam gewesen, weil sie sich von den herge¬
brachten Vorstellungen nicht sobald losmachen konnten. "Von alters her lag die


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Zufällen abhängig die Kritik ist. Wir haben es vor einem Vierteljahre erhalten,
und der abgedroschne Titel war schuld daran, daß wir erst vor ein paar Tagen
hineingeschaut haben, wo wir dann eine große und angenehme Überraschung erlebten.
Ein paar Hauptgedanken mögen von Küppers Weltansicht eine Ahnung geben.

Ihm ist der Kalvinismus nicht eine Kirche, eine Konfession oder gar eine
Sekte, sondern eine selbständige Lebensrichtung, die aus ihrem eigentümlichen Lebens¬
prinzip eine besondre Form des Denkens und Lebens für die Völker Westeuropas,
Nordamerikas und Südafrikas entwickelt hat. Nur aus dem ewigen Lebensquell,
aus Gott, können, in der Form einer Religion, eigentümliche und dauerhafte Lebens¬
formen hervorgehn; was nicht aus diesem Quell stammt, ist rasch zerfließender Dunst.
Die vier großen Lebensformen, die in der Weltgeschichte einander abgelöst haben,
sind der hellenische Paganismus, der Islamismus, der Romanismus oder römische
Katholizismus und der Kalvinismus. Luther ist zwar ein größerer Mann als
Kalvin, dieser wäre ohne ihn gar nicht denkbar, aber er hat, als Gemütsmensch,
den reformatorischen Gedanken weder scharf erfaßt noch völlig durchgebildet. Noch
weniger als das Luthertum kommt für die weltgeschichtliche Auffassung die allge¬
meine Bezeichnung „Protestantismus" in Betracht, die ja nur „einen negativen
Begriff ausdrückt und jetzt am beliebtesten in Kreisen ist, die mit dem ganzen positiven
Inhalt des reformatorischen Bekenntnisses gebrochen haben." Die französische Revo¬
lution war nur eine Karikatur der Reformation, und der durch sie zu einer Macht
des öffentlichen Lebens gewordne Modernismus kann, weil er die Verbindung rin
Gott, dem Lebensquell, gelöst hat, mit keiner seiner Arten (Atheismus, Pantheismus,
Agnostizismus) eine neue Lebensform schaffen. Als Vollender der christlichen Religion
verhilft der Kalvinismus vier Wahrheiten zum Durchbruch. Endzweck der Religion
ist nicht der Mensch, sondern Gott. Für alle Nichtkalvinisten sind Gott und die
Religion nur dazu da, den Einzelnen in der Not zu helfen und die Staaten in
Ordnung zu halten; dem Kalvinisten ist die Religion Anerkennung der unumschränkten
Souveränität Gottes. Ihm ist die Religion zweitens nicht durch irgendwelche kirch¬
liche Institutionen vermittelt, sondern seinem Herzen unmittelbar von Gott verliehen.
Seine Religion ist drittens universell, das ganze Leben durchdringend, nicht auf
eine besondre Lebenssphäre beschränkt, neben der eine ungöttliche Kunst, Wissenschaft,
Häuslichkeit, Geschäftspraxis bestehn bleiben dürfte. Sie ist viertens soteriologisch,
d. h. sie beruht auf der Überzeugung, daß die Welt nicht normal, sondern anormal,
durch die Sünde verdorben ist und nnr durch Gottes Gnade in ihrer ursprüng¬
lichen Ordnung und Schönheit wiederhergestellt werden kann. Da die Kirche, wie
die Religion, nicht um des Menschen, sondern um Gottes willen da ist, darf man
sie sich nicht als Vorbereitnngsanstalt für den Himmel denken. Sie besteht aus
einer Reihe von Geschlechtern, die als Auserwählte Gottes auf den jenseitigen
Himmel, dem sie schon angehören, und in dem ihr Lebenszentrum liegt, im Vorhof
harren; kein Gedanke, daß Nichtbekehrte drüben noch gerettet werden könnten! Der
Kalvinist flieht die Welt nicht, aber er verpönt Kartenspiel, Tanz und Theater,
weil diese drei Erholungsarten, nicht zwar notwendig aber praktisch unvermeidlich,
teils Werkzeuge der Sünde, teils Verlockungen zur Sünde sind. Was dann die
Politik betrifft, so erkennt der Kalvinist nur eine Autorität an: Gott. Wenn daneben
noch andre bestehn und bestehn niüssen, so ist das eine Folge der Sünde, die ohne
die Staatsordnung die Erde zur Hölle machen würde. Darum hat Gott den Staats¬
mechanismus eingesetzt, der jedoch über die Familie, über Religion, Kunst und Wissen¬
schaft, über das Genie keine Gewalt hat; denn diesen organischen Lebensmächten
ist vom höchsten Souverän ihre eigne Souveränität verliehen worden. Alle Staats¬
formen sind zulässig, aber die republikanische ist die beste; eine andre Aristokratie
als die des Geistes und des persönlichen Verdienstes ist nicht zu dulden. Für das
Verhältnis von Staat und Kirche gilt die Formel: Freie Kirche im freien Staate.
Die Kalvinisten sind anfänglich unduldsam gewesen, weil sie sich von den herge¬
brachten Vorstellungen nicht sobald losmachen konnten. „Von alters her lag die


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[0458] Maßgebliches und Unmaßgebliches Zufällen abhängig die Kritik ist. Wir haben es vor einem Vierteljahre erhalten, und der abgedroschne Titel war schuld daran, daß wir erst vor ein paar Tagen hineingeschaut haben, wo wir dann eine große und angenehme Überraschung erlebten. Ein paar Hauptgedanken mögen von Küppers Weltansicht eine Ahnung geben. Ihm ist der Kalvinismus nicht eine Kirche, eine Konfession oder gar eine Sekte, sondern eine selbständige Lebensrichtung, die aus ihrem eigentümlichen Lebens¬ prinzip eine besondre Form des Denkens und Lebens für die Völker Westeuropas, Nordamerikas und Südafrikas entwickelt hat. Nur aus dem ewigen Lebensquell, aus Gott, können, in der Form einer Religion, eigentümliche und dauerhafte Lebens¬ formen hervorgehn; was nicht aus diesem Quell stammt, ist rasch zerfließender Dunst. Die vier großen Lebensformen, die in der Weltgeschichte einander abgelöst haben, sind der hellenische Paganismus, der Islamismus, der Romanismus oder römische Katholizismus und der Kalvinismus. Luther ist zwar ein größerer Mann als Kalvin, dieser wäre ohne ihn gar nicht denkbar, aber er hat, als Gemütsmensch, den reformatorischen Gedanken weder scharf erfaßt noch völlig durchgebildet. Noch weniger als das Luthertum kommt für die weltgeschichtliche Auffassung die allge¬ meine Bezeichnung „Protestantismus" in Betracht, die ja nur „einen negativen Begriff ausdrückt und jetzt am beliebtesten in Kreisen ist, die mit dem ganzen positiven Inhalt des reformatorischen Bekenntnisses gebrochen haben." Die französische Revo¬ lution war nur eine Karikatur der Reformation, und der durch sie zu einer Macht des öffentlichen Lebens gewordne Modernismus kann, weil er die Verbindung rin Gott, dem Lebensquell, gelöst hat, mit keiner seiner Arten (Atheismus, Pantheismus, Agnostizismus) eine neue Lebensform schaffen. Als Vollender der christlichen Religion verhilft der Kalvinismus vier Wahrheiten zum Durchbruch. Endzweck der Religion ist nicht der Mensch, sondern Gott. Für alle Nichtkalvinisten sind Gott und die Religion nur dazu da, den Einzelnen in der Not zu helfen und die Staaten in Ordnung zu halten; dem Kalvinisten ist die Religion Anerkennung der unumschränkten Souveränität Gottes. Ihm ist die Religion zweitens nicht durch irgendwelche kirch¬ liche Institutionen vermittelt, sondern seinem Herzen unmittelbar von Gott verliehen. Seine Religion ist drittens universell, das ganze Leben durchdringend, nicht auf eine besondre Lebenssphäre beschränkt, neben der eine ungöttliche Kunst, Wissenschaft, Häuslichkeit, Geschäftspraxis bestehn bleiben dürfte. Sie ist viertens soteriologisch, d. h. sie beruht auf der Überzeugung, daß die Welt nicht normal, sondern anormal, durch die Sünde verdorben ist und nnr durch Gottes Gnade in ihrer ursprüng¬ lichen Ordnung und Schönheit wiederhergestellt werden kann. Da die Kirche, wie die Religion, nicht um des Menschen, sondern um Gottes willen da ist, darf man sie sich nicht als Vorbereitnngsanstalt für den Himmel denken. Sie besteht aus einer Reihe von Geschlechtern, die als Auserwählte Gottes auf den jenseitigen Himmel, dem sie schon angehören, und in dem ihr Lebenszentrum liegt, im Vorhof harren; kein Gedanke, daß Nichtbekehrte drüben noch gerettet werden könnten! Der Kalvinist flieht die Welt nicht, aber er verpönt Kartenspiel, Tanz und Theater, weil diese drei Erholungsarten, nicht zwar notwendig aber praktisch unvermeidlich, teils Werkzeuge der Sünde, teils Verlockungen zur Sünde sind. Was dann die Politik betrifft, so erkennt der Kalvinist nur eine Autorität an: Gott. Wenn daneben noch andre bestehn und bestehn niüssen, so ist das eine Folge der Sünde, die ohne die Staatsordnung die Erde zur Hölle machen würde. Darum hat Gott den Staats¬ mechanismus eingesetzt, der jedoch über die Familie, über Religion, Kunst und Wissen¬ schaft, über das Genie keine Gewalt hat; denn diesen organischen Lebensmächten ist vom höchsten Souverän ihre eigne Souveränität verliehen worden. Alle Staats¬ formen sind zulässig, aber die republikanische ist die beste; eine andre Aristokratie als die des Geistes und des persönlichen Verdienstes ist nicht zu dulden. Für das Verhältnis von Staat und Kirche gilt die Formel: Freie Kirche im freien Staate. Die Kalvinisten sind anfänglich unduldsam gewesen, weil sie sich von den herge¬ brachten Vorstellungen nicht sobald losmachen konnten. „Von alters her lag die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/458>, abgerufen am 02.07.2024.