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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

gewerbe doch nur eine Spekulation auf einen Genuß, auf den auch verzichtet werden
kann, zumal bei ungerechtfertigten Preisaufschlägen. Wir haben uns in den fünf¬
unddreißig Friedensjahren eine Behäbigkeit angewöhnt, der auch die geringste
Schranke oder Beeinträchtigung unbequem ist. Sollte uns einmal die Not beten
lehren, so werden sich die Brauereien zu ganz andern Steuern, ohne jeden Preis-
nnfschlag, bereitfinden lassen müssen. Großbritannien (ohne Kolonien) hat nach der
Abrechnung für das Finanzjahr vom 1. April 1904 bis 31. März 1905 einge-

an Tabakzoll . . . 13692283 Pfund Sterling
" Spirituosensteuer , 188751S7 "
" Malzsteuer . . . 13331661 "

also aus Tabak und Bier zusammen 27 Millionen Pfunde 540 Millionen Mark!
Die Abgabe aus Eisenbahnfahrkarten beträgt etwa 355000 Pfund ^ 7 Millionen
Mark. Daß die Fahrkartenbesteuerung bei uns unpopulär ist, erklärt sich aus der
deutschen Reise- und Wanderlust zur Genüge. Aber diese Besteuerung ist immer¬
hin erträglich. In Österreich bringt sie 16 Millionen Kronen, in Frankreich
66 Millionen Franken. Das Deutsche Reich leidet gerade in den Finanzfragen
ganz besonders an seiner Vielstaatlichkeit, daran, daß ein das Reich hinsichtlich seiner
Leistungen die Ansprüche eines großen Einheitsstaates gestellt werden, die es aus
seinen eignen Einkünften aber nicht zu befriedigen vermag. Die Verweisung auf die
Matrikularumlcigeu klingt sehr natürlich, diese sind aber in der Wirklichkeit doch
nur eine höchst ungerecht verteilte Kopfsteuer. Das richtigere Prinzip wäre jeden¬
falls, daß das Reich nicht durch eine große Zahl wenig einträglicher Steuern lästig
fallen und dabei doch arm bleiben muß; es sollte durch eine geringe Anzahl sehr
einträglicher Steuern seine Bedürfnisse decken und dabei wirklich seinem Namen ent¬
sprechend "reich" werden. Eine Fahrkartensteuer hatte übrigens auch schon Bismarck
in seinen letzten Jahren als durchaus zulässig und berechtigt bezeichnet.

Fragt man nun zum Schluß, woher es gekommen ist, daß im Gegensah zu
deu bisherigen Anschauungen die Regierungen die Diäten bedingungslos hergegeben
und damit in eine so einseitige Abänderung des Reichsverfassungsrechts gewilligt
haben, so lautet die Antwort dahin, daß es vor allen Dingen darauf angekommen ist,
einen leistungsfähigen Reichstag herzustellen, mit dem sich dann zur gegebnen Zeit
auch weitere Abänderungen der Verfassung beraten lassen, falls die Verhältnisse
sonst dazu angetan sind. Die Finanzlage des Reiches ist ausschlaggebend gewesen,
die Neichstagsmehrheit hat sie ausgenutzt, und der Bundesrat hat sich gefügt, um
einen Stillstand der ganzen Reichsmaschine zu verhüten. Ob man mit einer Auf¬
lösung weiter gekommen wäre? Die Neichsfincmzreform, zu deutsch: Steuer¬
vermehrung, konnte nicht zum Gegenstand einer Neuwahl gemacht werden. Eine
andre Frage ist, ob nicht durch kaiserliche Proklamation der Nation ausgesprochen
werden konnte: "Eure Erwählten erfüllen ihre Pflichten nicht, das verfassungs¬
mäßige Wahlrecht des deutschen Volkes verkümmert, wenn die Abgeordneten dem
Vertrauen, das für die Übertragung des Maubads die Voraussetzung war, nicht
entsprechen. sendet mir andre Abgeordnete nach Berlin!" Damit würde die Diäten-
frage zur Wahlparole gemacht worden sein. Die Regierungen hätten großen Hoch¬
druck entwickeln müssen, um einen wesentlich andern Reichstag zustande zu bringen,
der Erfolg wäre trotzdem zum mindesten recht zweifelhaft geblieben. Fiel er
gegen die Regierungen aus, so waren diese in einer um so nachteiligem Lage,
die Zeitläufte sind aber nach außen wie nach innen nicht dazu angetan, das
Reichsschisf direkt in die Wogen eines Konflikts hineinzusteuern. Hinweise auf das,
was Bismarck vielleicht getan hätte, sind heute zwecklos. Zu Bismarcks Zeiten
waren die Klagen über die dauernde Beschlußunfähigkeit des Reichstags, wie sich
aus seinen Reden ergibt, gerade ebenso groß, schon damals beruhte die große Mehr¬
zahl der Reichsgesetze auf Minoritätsbeschlüssen. Auch stand er nicht einer Bevölkerung
von 60 Millionen gegenüber, und das Sozialistengesetz war noch in Kraft.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

gewerbe doch nur eine Spekulation auf einen Genuß, auf den auch verzichtet werden
kann, zumal bei ungerechtfertigten Preisaufschlägen. Wir haben uns in den fünf¬
unddreißig Friedensjahren eine Behäbigkeit angewöhnt, der auch die geringste
Schranke oder Beeinträchtigung unbequem ist. Sollte uns einmal die Not beten
lehren, so werden sich die Brauereien zu ganz andern Steuern, ohne jeden Preis-
nnfschlag, bereitfinden lassen müssen. Großbritannien (ohne Kolonien) hat nach der
Abrechnung für das Finanzjahr vom 1. April 1904 bis 31. März 1905 einge-

an Tabakzoll . . . 13692283 Pfund Sterling
„ Spirituosensteuer , 188751S7 „
„ Malzsteuer . . . 13331661 „

also aus Tabak und Bier zusammen 27 Millionen Pfunde 540 Millionen Mark!
Die Abgabe aus Eisenbahnfahrkarten beträgt etwa 355000 Pfund ^ 7 Millionen
Mark. Daß die Fahrkartenbesteuerung bei uns unpopulär ist, erklärt sich aus der
deutschen Reise- und Wanderlust zur Genüge. Aber diese Besteuerung ist immer¬
hin erträglich. In Österreich bringt sie 16 Millionen Kronen, in Frankreich
66 Millionen Franken. Das Deutsche Reich leidet gerade in den Finanzfragen
ganz besonders an seiner Vielstaatlichkeit, daran, daß ein das Reich hinsichtlich seiner
Leistungen die Ansprüche eines großen Einheitsstaates gestellt werden, die es aus
seinen eignen Einkünften aber nicht zu befriedigen vermag. Die Verweisung auf die
Matrikularumlcigeu klingt sehr natürlich, diese sind aber in der Wirklichkeit doch
nur eine höchst ungerecht verteilte Kopfsteuer. Das richtigere Prinzip wäre jeden¬
falls, daß das Reich nicht durch eine große Zahl wenig einträglicher Steuern lästig
fallen und dabei doch arm bleiben muß; es sollte durch eine geringe Anzahl sehr
einträglicher Steuern seine Bedürfnisse decken und dabei wirklich seinem Namen ent¬
sprechend „reich" werden. Eine Fahrkartensteuer hatte übrigens auch schon Bismarck
in seinen letzten Jahren als durchaus zulässig und berechtigt bezeichnet.

Fragt man nun zum Schluß, woher es gekommen ist, daß im Gegensah zu
deu bisherigen Anschauungen die Regierungen die Diäten bedingungslos hergegeben
und damit in eine so einseitige Abänderung des Reichsverfassungsrechts gewilligt
haben, so lautet die Antwort dahin, daß es vor allen Dingen darauf angekommen ist,
einen leistungsfähigen Reichstag herzustellen, mit dem sich dann zur gegebnen Zeit
auch weitere Abänderungen der Verfassung beraten lassen, falls die Verhältnisse
sonst dazu angetan sind. Die Finanzlage des Reiches ist ausschlaggebend gewesen,
die Neichstagsmehrheit hat sie ausgenutzt, und der Bundesrat hat sich gefügt, um
einen Stillstand der ganzen Reichsmaschine zu verhüten. Ob man mit einer Auf¬
lösung weiter gekommen wäre? Die Neichsfincmzreform, zu deutsch: Steuer¬
vermehrung, konnte nicht zum Gegenstand einer Neuwahl gemacht werden. Eine
andre Frage ist, ob nicht durch kaiserliche Proklamation der Nation ausgesprochen
werden konnte: „Eure Erwählten erfüllen ihre Pflichten nicht, das verfassungs¬
mäßige Wahlrecht des deutschen Volkes verkümmert, wenn die Abgeordneten dem
Vertrauen, das für die Übertragung des Maubads die Voraussetzung war, nicht
entsprechen. sendet mir andre Abgeordnete nach Berlin!" Damit würde die Diäten-
frage zur Wahlparole gemacht worden sein. Die Regierungen hätten großen Hoch¬
druck entwickeln müssen, um einen wesentlich andern Reichstag zustande zu bringen,
der Erfolg wäre trotzdem zum mindesten recht zweifelhaft geblieben. Fiel er
gegen die Regierungen aus, so waren diese in einer um so nachteiligem Lage,
die Zeitläufte sind aber nach außen wie nach innen nicht dazu angetan, das
Reichsschisf direkt in die Wogen eines Konflikts hineinzusteuern. Hinweise auf das,
was Bismarck vielleicht getan hätte, sind heute zwecklos. Zu Bismarcks Zeiten
waren die Klagen über die dauernde Beschlußunfähigkeit des Reichstags, wie sich
aus seinen Reden ergibt, gerade ebenso groß, schon damals beruhte die große Mehr¬
zahl der Reichsgesetze auf Minoritätsbeschlüssen. Auch stand er nicht einer Bevölkerung
von 60 Millionen gegenüber, und das Sozialistengesetz war noch in Kraft.


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[0456] Maßgebliches und Unmaßgebliches gewerbe doch nur eine Spekulation auf einen Genuß, auf den auch verzichtet werden kann, zumal bei ungerechtfertigten Preisaufschlägen. Wir haben uns in den fünf¬ unddreißig Friedensjahren eine Behäbigkeit angewöhnt, der auch die geringste Schranke oder Beeinträchtigung unbequem ist. Sollte uns einmal die Not beten lehren, so werden sich die Brauereien zu ganz andern Steuern, ohne jeden Preis- nnfschlag, bereitfinden lassen müssen. Großbritannien (ohne Kolonien) hat nach der Abrechnung für das Finanzjahr vom 1. April 1904 bis 31. März 1905 einge- an Tabakzoll . . . 13692283 Pfund Sterling „ Spirituosensteuer , 188751S7 „ „ Malzsteuer . . . 13331661 „ also aus Tabak und Bier zusammen 27 Millionen Pfunde 540 Millionen Mark! Die Abgabe aus Eisenbahnfahrkarten beträgt etwa 355000 Pfund ^ 7 Millionen Mark. Daß die Fahrkartenbesteuerung bei uns unpopulär ist, erklärt sich aus der deutschen Reise- und Wanderlust zur Genüge. Aber diese Besteuerung ist immer¬ hin erträglich. In Österreich bringt sie 16 Millionen Kronen, in Frankreich 66 Millionen Franken. Das Deutsche Reich leidet gerade in den Finanzfragen ganz besonders an seiner Vielstaatlichkeit, daran, daß ein das Reich hinsichtlich seiner Leistungen die Ansprüche eines großen Einheitsstaates gestellt werden, die es aus seinen eignen Einkünften aber nicht zu befriedigen vermag. Die Verweisung auf die Matrikularumlcigeu klingt sehr natürlich, diese sind aber in der Wirklichkeit doch nur eine höchst ungerecht verteilte Kopfsteuer. Das richtigere Prinzip wäre jeden¬ falls, daß das Reich nicht durch eine große Zahl wenig einträglicher Steuern lästig fallen und dabei doch arm bleiben muß; es sollte durch eine geringe Anzahl sehr einträglicher Steuern seine Bedürfnisse decken und dabei wirklich seinem Namen ent¬ sprechend „reich" werden. Eine Fahrkartensteuer hatte übrigens auch schon Bismarck in seinen letzten Jahren als durchaus zulässig und berechtigt bezeichnet. Fragt man nun zum Schluß, woher es gekommen ist, daß im Gegensah zu deu bisherigen Anschauungen die Regierungen die Diäten bedingungslos hergegeben und damit in eine so einseitige Abänderung des Reichsverfassungsrechts gewilligt haben, so lautet die Antwort dahin, daß es vor allen Dingen darauf angekommen ist, einen leistungsfähigen Reichstag herzustellen, mit dem sich dann zur gegebnen Zeit auch weitere Abänderungen der Verfassung beraten lassen, falls die Verhältnisse sonst dazu angetan sind. Die Finanzlage des Reiches ist ausschlaggebend gewesen, die Neichstagsmehrheit hat sie ausgenutzt, und der Bundesrat hat sich gefügt, um einen Stillstand der ganzen Reichsmaschine zu verhüten. Ob man mit einer Auf¬ lösung weiter gekommen wäre? Die Neichsfincmzreform, zu deutsch: Steuer¬ vermehrung, konnte nicht zum Gegenstand einer Neuwahl gemacht werden. Eine andre Frage ist, ob nicht durch kaiserliche Proklamation der Nation ausgesprochen werden konnte: „Eure Erwählten erfüllen ihre Pflichten nicht, das verfassungs¬ mäßige Wahlrecht des deutschen Volkes verkümmert, wenn die Abgeordneten dem Vertrauen, das für die Übertragung des Maubads die Voraussetzung war, nicht entsprechen. sendet mir andre Abgeordnete nach Berlin!" Damit würde die Diäten- frage zur Wahlparole gemacht worden sein. Die Regierungen hätten großen Hoch¬ druck entwickeln müssen, um einen wesentlich andern Reichstag zustande zu bringen, der Erfolg wäre trotzdem zum mindesten recht zweifelhaft geblieben. Fiel er gegen die Regierungen aus, so waren diese in einer um so nachteiligem Lage, die Zeitläufte sind aber nach außen wie nach innen nicht dazu angetan, das Reichsschisf direkt in die Wogen eines Konflikts hineinzusteuern. Hinweise auf das, was Bismarck vielleicht getan hätte, sind heute zwecklos. Zu Bismarcks Zeiten waren die Klagen über die dauernde Beschlußunfähigkeit des Reichstags, wie sich aus seinen Reden ergibt, gerade ebenso groß, schon damals beruhte die große Mehr¬ zahl der Reichsgesetze auf Minoritätsbeschlüssen. Auch stand er nicht einer Bevölkerung von 60 Millionen gegenüber, und das Sozialistengesetz war noch in Kraft.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/456>, abgerufen am 04.07.2024.