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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Reichspolitik nicht nur immer weiter nach links rückt, sondern auch mehr und mehr
aus dem Bundesrat in den Reichstag verlegt wird. Der Verlauf der Diätenfrage,
und nun gar erst der Vorlage selbst, ist für diesen Prozeß geradezu typisch, die
Rollen von Bundesrat und Reichstag erscheinen wie ausgetauscht, der Bundesrat
tatsächlich als Exekutivausschuß der Reichstagsmehrheit. Das obendrein bei einem Gesetz,
das die Verfassung des Reichs nicht nur nach dem Buchstaben, sondern nach Sinn
und Geist ändert. Der unentschädigte Reichstag war eben ein andrer, als der sein
wird, dessen Mitglieder jährlich dreitausend Mark und eine Reihe andrer Benefizien
erhalten. Man wird mit einigem Recht entgegnen können, jener ideal gedachte Reichstag
von 1871 besteht schon längst nicht mehr, besteht jedenfalls nicht mehr, seitdem die
ehemaligen Kartellparteien auf ein Zusammenwirken verzichtet haben, und der Schwer¬
punkt dadurch von einer Wahl zur andern mehr und mehr in das Zentrum und die
Sozialdemokratie verlegt worden ist. Wenn Herr Singer jüngst sagte, das Dicitengesetz
entspreche nicht der Würde des Reichstags, so läßt sich darauf nur erwidern, daß der
Reichstag, von dem neun Zehntel durch Abwesenheit zu glänzen Pflegten, auf die Würde,
mit der er einst bei der Aufrichtung des Reichs umgeben worden ist, längst selbst ver¬
zichtet hatte. Wie kann von "Würde" überhaupt noch die Rede sein, wenn die Abgeordneten,
die "ohne Entschädigung" das Mandat angestrebt und es im Kampfe mit politischen
Gegnern gewonnen haben, sich selbst die Entschädigung zusprechen, anstatt diese auf
den Beginn der neuen Legislaturperiode festzusetzen. Damit- ist "die Würde" über¬
haupt preisgegeben, wenigstens die Würde, die in der Verfassung der Volksvertretung
zugedacht war und ihr demgemäß neben der Vertretung der Regierungen auch in
den Augen der Nation einen hohen Rang einräumte. Der ist verloren gegangen.
An die Stelle des Ethos ist zeitgemäß die bare Entschädigung durch dreitausend
Mark und freie Eisenbahnfahrt getreten. Man wird die jetzige Regierung schwerlich
böser Absichten zeihen wollen. Aber wenn sie die Absicht gehabt hätte, den Reichs¬
tag und die heutigen Parteien vor der Nation schwer zu diskreditieren -- sie hätte
kaum anders handeln können. Aus dem vornehmsten Ehrenamt ist ein Amt wie
jedes andre geworden, der "Erwählte" zum Angestellten. In den fünfziger Jahren
des Vongen Jahrhunderts wurde im englischen Unterhause der Herzog von Somerset
"Eigentümer von siebenhundert Wählern" genannt. Jetzt sind bei uns die Wähler
Eigentümer ihrer Abgeordneten geworden, die ja von ihnen bezahlt werden, eine
Leibeigenschaft -- körperlich und geistig -- für die Dauer der Legislaturperiode.

Aus deu Beschlüssen des Reichstags und seiner Kommission in der Diätenfrage
ergibt sich, daß der jetzige Reichstag in seiner großen Mehrheit für die Diäten voll¬
ständig "reif" war, es ist deshalb auch kaum anzunehmen, daß sich seine Zusammen¬
setzung im Falle von Neuwahlen wesentlich ändern werde. Des politischen und
patriotischen Idealismus bar, hat er die finanzielle Notlage des Reichs benutzt, um
durch die stille und geräuschlose Obstruktion des Schwänzens die Diäten als Gegen¬
leistung für das Flottengesetz und die sogenannte "Reichsfinanzreform" zu erzwingen.
Diese "Reform" deckt die wachsenden Mehrkosten der Reichsverwaltung auf drei
Jahre. Dann werden wir genau wieder ebensoweit sein. Die Gegenleistung für
eine nach Wort und Sinn so schwerwiegende Verfassungsänderung ist somit recht
kümmerlich. Nach drei Jahren beginnt der "Handel" von neuem; man darf gespannt
sein, welche politischen Forderungen dann der Preis sein werden.

Nun noch ein Wort über die Steuern selbst. Auch um den Preis der Diäten
haben wir es zu der einzig rationellen Steuerreform: einer ausgiebigen Besteuerung
von Bier und Tabak, nicht bringen können. Die hebt der Reichstag allem An¬
schein nach für die nach einem unglücklichen Kriege zu zahlende Entschädigung an
den Feind auf. Nicht sachliche Erwägungen, sondern Popularitätshascherei war
jetzt entscheidend. Der Lärm der Brauereien wäre nicht größer gewesen, wenn die
Steuer den doppelten und den dreifachen Betrag erreicht hätte. Die Drohung
mit einem Preisaufschlage sollte das Publikum einfach damit beantworten, daß acht
Tage lang auf das Biertrinken verzichtet wird. Schließlich ist das ganze Brauerei-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Reichspolitik nicht nur immer weiter nach links rückt, sondern auch mehr und mehr
aus dem Bundesrat in den Reichstag verlegt wird. Der Verlauf der Diätenfrage,
und nun gar erst der Vorlage selbst, ist für diesen Prozeß geradezu typisch, die
Rollen von Bundesrat und Reichstag erscheinen wie ausgetauscht, der Bundesrat
tatsächlich als Exekutivausschuß der Reichstagsmehrheit. Das obendrein bei einem Gesetz,
das die Verfassung des Reichs nicht nur nach dem Buchstaben, sondern nach Sinn
und Geist ändert. Der unentschädigte Reichstag war eben ein andrer, als der sein
wird, dessen Mitglieder jährlich dreitausend Mark und eine Reihe andrer Benefizien
erhalten. Man wird mit einigem Recht entgegnen können, jener ideal gedachte Reichstag
von 1871 besteht schon längst nicht mehr, besteht jedenfalls nicht mehr, seitdem die
ehemaligen Kartellparteien auf ein Zusammenwirken verzichtet haben, und der Schwer¬
punkt dadurch von einer Wahl zur andern mehr und mehr in das Zentrum und die
Sozialdemokratie verlegt worden ist. Wenn Herr Singer jüngst sagte, das Dicitengesetz
entspreche nicht der Würde des Reichstags, so läßt sich darauf nur erwidern, daß der
Reichstag, von dem neun Zehntel durch Abwesenheit zu glänzen Pflegten, auf die Würde,
mit der er einst bei der Aufrichtung des Reichs umgeben worden ist, längst selbst ver¬
zichtet hatte. Wie kann von „Würde" überhaupt noch die Rede sein, wenn die Abgeordneten,
die „ohne Entschädigung" das Mandat angestrebt und es im Kampfe mit politischen
Gegnern gewonnen haben, sich selbst die Entschädigung zusprechen, anstatt diese auf
den Beginn der neuen Legislaturperiode festzusetzen. Damit- ist „die Würde" über¬
haupt preisgegeben, wenigstens die Würde, die in der Verfassung der Volksvertretung
zugedacht war und ihr demgemäß neben der Vertretung der Regierungen auch in
den Augen der Nation einen hohen Rang einräumte. Der ist verloren gegangen.
An die Stelle des Ethos ist zeitgemäß die bare Entschädigung durch dreitausend
Mark und freie Eisenbahnfahrt getreten. Man wird die jetzige Regierung schwerlich
böser Absichten zeihen wollen. Aber wenn sie die Absicht gehabt hätte, den Reichs¬
tag und die heutigen Parteien vor der Nation schwer zu diskreditieren — sie hätte
kaum anders handeln können. Aus dem vornehmsten Ehrenamt ist ein Amt wie
jedes andre geworden, der „Erwählte" zum Angestellten. In den fünfziger Jahren
des Vongen Jahrhunderts wurde im englischen Unterhause der Herzog von Somerset
„Eigentümer von siebenhundert Wählern" genannt. Jetzt sind bei uns die Wähler
Eigentümer ihrer Abgeordneten geworden, die ja von ihnen bezahlt werden, eine
Leibeigenschaft — körperlich und geistig — für die Dauer der Legislaturperiode.

Aus deu Beschlüssen des Reichstags und seiner Kommission in der Diätenfrage
ergibt sich, daß der jetzige Reichstag in seiner großen Mehrheit für die Diäten voll¬
ständig „reif" war, es ist deshalb auch kaum anzunehmen, daß sich seine Zusammen¬
setzung im Falle von Neuwahlen wesentlich ändern werde. Des politischen und
patriotischen Idealismus bar, hat er die finanzielle Notlage des Reichs benutzt, um
durch die stille und geräuschlose Obstruktion des Schwänzens die Diäten als Gegen¬
leistung für das Flottengesetz und die sogenannte „Reichsfinanzreform" zu erzwingen.
Diese „Reform" deckt die wachsenden Mehrkosten der Reichsverwaltung auf drei
Jahre. Dann werden wir genau wieder ebensoweit sein. Die Gegenleistung für
eine nach Wort und Sinn so schwerwiegende Verfassungsänderung ist somit recht
kümmerlich. Nach drei Jahren beginnt der „Handel" von neuem; man darf gespannt
sein, welche politischen Forderungen dann der Preis sein werden.

Nun noch ein Wort über die Steuern selbst. Auch um den Preis der Diäten
haben wir es zu der einzig rationellen Steuerreform: einer ausgiebigen Besteuerung
von Bier und Tabak, nicht bringen können. Die hebt der Reichstag allem An¬
schein nach für die nach einem unglücklichen Kriege zu zahlende Entschädigung an
den Feind auf. Nicht sachliche Erwägungen, sondern Popularitätshascherei war
jetzt entscheidend. Der Lärm der Brauereien wäre nicht größer gewesen, wenn die
Steuer den doppelten und den dreifachen Betrag erreicht hätte. Die Drohung
mit einem Preisaufschlage sollte das Publikum einfach damit beantworten, daß acht
Tage lang auf das Biertrinken verzichtet wird. Schließlich ist das ganze Brauerei-


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[0455] Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichspolitik nicht nur immer weiter nach links rückt, sondern auch mehr und mehr aus dem Bundesrat in den Reichstag verlegt wird. Der Verlauf der Diätenfrage, und nun gar erst der Vorlage selbst, ist für diesen Prozeß geradezu typisch, die Rollen von Bundesrat und Reichstag erscheinen wie ausgetauscht, der Bundesrat tatsächlich als Exekutivausschuß der Reichstagsmehrheit. Das obendrein bei einem Gesetz, das die Verfassung des Reichs nicht nur nach dem Buchstaben, sondern nach Sinn und Geist ändert. Der unentschädigte Reichstag war eben ein andrer, als der sein wird, dessen Mitglieder jährlich dreitausend Mark und eine Reihe andrer Benefizien erhalten. Man wird mit einigem Recht entgegnen können, jener ideal gedachte Reichstag von 1871 besteht schon längst nicht mehr, besteht jedenfalls nicht mehr, seitdem die ehemaligen Kartellparteien auf ein Zusammenwirken verzichtet haben, und der Schwer¬ punkt dadurch von einer Wahl zur andern mehr und mehr in das Zentrum und die Sozialdemokratie verlegt worden ist. Wenn Herr Singer jüngst sagte, das Dicitengesetz entspreche nicht der Würde des Reichstags, so läßt sich darauf nur erwidern, daß der Reichstag, von dem neun Zehntel durch Abwesenheit zu glänzen Pflegten, auf die Würde, mit der er einst bei der Aufrichtung des Reichs umgeben worden ist, längst selbst ver¬ zichtet hatte. Wie kann von „Würde" überhaupt noch die Rede sein, wenn die Abgeordneten, die „ohne Entschädigung" das Mandat angestrebt und es im Kampfe mit politischen Gegnern gewonnen haben, sich selbst die Entschädigung zusprechen, anstatt diese auf den Beginn der neuen Legislaturperiode festzusetzen. Damit- ist „die Würde" über¬ haupt preisgegeben, wenigstens die Würde, die in der Verfassung der Volksvertretung zugedacht war und ihr demgemäß neben der Vertretung der Regierungen auch in den Augen der Nation einen hohen Rang einräumte. Der ist verloren gegangen. An die Stelle des Ethos ist zeitgemäß die bare Entschädigung durch dreitausend Mark und freie Eisenbahnfahrt getreten. Man wird die jetzige Regierung schwerlich böser Absichten zeihen wollen. Aber wenn sie die Absicht gehabt hätte, den Reichs¬ tag und die heutigen Parteien vor der Nation schwer zu diskreditieren — sie hätte kaum anders handeln können. Aus dem vornehmsten Ehrenamt ist ein Amt wie jedes andre geworden, der „Erwählte" zum Angestellten. In den fünfziger Jahren des Vongen Jahrhunderts wurde im englischen Unterhause der Herzog von Somerset „Eigentümer von siebenhundert Wählern" genannt. Jetzt sind bei uns die Wähler Eigentümer ihrer Abgeordneten geworden, die ja von ihnen bezahlt werden, eine Leibeigenschaft — körperlich und geistig — für die Dauer der Legislaturperiode. Aus deu Beschlüssen des Reichstags und seiner Kommission in der Diätenfrage ergibt sich, daß der jetzige Reichstag in seiner großen Mehrheit für die Diäten voll¬ ständig „reif" war, es ist deshalb auch kaum anzunehmen, daß sich seine Zusammen¬ setzung im Falle von Neuwahlen wesentlich ändern werde. Des politischen und patriotischen Idealismus bar, hat er die finanzielle Notlage des Reichs benutzt, um durch die stille und geräuschlose Obstruktion des Schwänzens die Diäten als Gegen¬ leistung für das Flottengesetz und die sogenannte „Reichsfinanzreform" zu erzwingen. Diese „Reform" deckt die wachsenden Mehrkosten der Reichsverwaltung auf drei Jahre. Dann werden wir genau wieder ebensoweit sein. Die Gegenleistung für eine nach Wort und Sinn so schwerwiegende Verfassungsänderung ist somit recht kümmerlich. Nach drei Jahren beginnt der „Handel" von neuem; man darf gespannt sein, welche politischen Forderungen dann der Preis sein werden. Nun noch ein Wort über die Steuern selbst. Auch um den Preis der Diäten haben wir es zu der einzig rationellen Steuerreform: einer ausgiebigen Besteuerung von Bier und Tabak, nicht bringen können. Die hebt der Reichstag allem An¬ schein nach für die nach einem unglücklichen Kriege zu zahlende Entschädigung an den Feind auf. Nicht sachliche Erwägungen, sondern Popularitätshascherei war jetzt entscheidend. Der Lärm der Brauereien wäre nicht größer gewesen, wenn die Steuer den doppelten und den dreifachen Betrag erreicht hätte. Die Drohung mit einem Preisaufschlage sollte das Publikum einfach damit beantworten, daß acht Tage lang auf das Biertrinken verzichtet wird. Schließlich ist das ganze Brauerei-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/455>, abgerufen am 04.07.2024.