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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

schlingen. Sie führen bis in die Zeiten des Preußischen Verfassungskonflikts zurück.
Das allgemeine Stimmrecht war Preußens Antwort auf den Frankfurter Fürsten¬
tag gewesen. Bismarck erwartete von diesem Wahlsystem, durch das Napoleon der
Dritte die Revolution bezwungen, das Kaiserreich wieder aufgerichtet und leidlich
bequem regiert hatte, eine von den Verbitterungen des preußischen Abgeordneten¬
hauses unberührte, in ihren Gesinnungen überwiegend monarchische Volksvertretung;
nach den Einheitskriegen um so zuversichtlicher, als er den Hunderttausenden ver¬
trauen zu dürfen glaubte, die in drei Feldzügen die siegreichen Waffen Preußens
und Deutschlands getragen hatten, und deren Gesinnungen sich ebenso forterben
würden wie ihre ruhmvollen Erinnerungen. Die Industrie hatte bei weitem uicht die
heutige Entwicklung, sie gebot uoch nicht über die jetzigen Massenheere der Arbeiter¬
bevölkerung. Noch dominierten die Landwirtschaft und der ländliche Arbeiter. Anstatt der
60 Millionen Einwohner von heute hatte das Reich im Jahre 1871 bei demselben
Gebietsumfcmge noch nicht 39 Millionen. Selbstverständlich mußten die Wirkungen
des allgemeinen Stimmrechts damals wesentlich anders sein als heute, denn bei einer
so gewaltigen Volksvermehrung fällt auf die handarbeitenden Klassen bei weitem
der Löwenanteil. Sind schon heute die Ergebnisse des allgemeinen Stimmrechts
nur schwer erträglich, wie wird es erst in zwanzig Jahren damit aussehen, wenn
sich die Bevölkerungszahl von 1871 -- nach Maßgabe des bisherigen Zuwachses --
längst mehr als verdoppelt haben wird! Werden Wahlsystem und Verfassung, die
für noch nicht 40 Millionen brauchbar und ausreichend waren, auch noch für
80 Millionen möglich sein, und ist es nicht Pflicht einer weisen, vorschauenden Re¬
gierung, dieser Frage rechtzeitig näherzutreten? Man sagt wohl, daß das all¬
gemeine Stimmrecht nicht mehr antastbar sei. Zugegeben, obwohl man nach einem
bekannten Ausspruch in xolitieis niemals "niemals" sagen soll. Wie zutreffend das
ist, beweist das Diätengesetz, das uoch vor fünf Jahren niemand für möglich ge¬
halten hätte!

Die Behauptung freilich ist nicht richtig, daß Bismarck, der das allgemeine
Stimmrecht hätte ändern können, es uicht geändert habe. Er änderte es schon
nach sieben Jahren -- durch das Sozialistengesetz. Als nach dem Nobilingschen
Attentat der Reichstag aufgelöst wurde, damit von seinem neugewählten Nachfolger
das Sozialistengesetz genehmigt werden konnte, wäre es vielleicht richtiger gewesen,
das allgemeine Stimmrecht zu beseitigen, anstatt es durch das Sozialistengesetz ein¬
zuschränken, nur indirekt einzuschränken durch Beschneidung der agitatorischen und
organisatorischen Tätigkeit der Sozialdemokratie. Ein andres Wahlrecht würde der
damaligen öffentlichen Stimmung durchaus entsprochen haben, bekanntlich auch den
Ansichten des für seinen Vater regierenden Kronprinzen, ebenso wie denen des
Kaisers selbst und der Mehrzahl der Bundesfürsten. Aber dem Reichskanzler
erschien es geratner, auf diesem Umwege zu einem ähnlichen Resultat zu ge¬
lange", ohne die Verfassungsfrage zu berühren, bei der sich dann die vom Kron¬
prinzen besonders begünstigte Oberhausidee wohl nicht hatte umgehn lassen. Die
durch das Sozialistengesetz erreichte Einschränkung des allgemeinen Stimmrechts, nicht
des Rechts an sich, sonder" der mit seiner Ausübung verbundnen zersetzenden Tätig¬
keit, war bekanntlich nur von zwölfjähriger Dauer. Als 1890 die Verlängerung
scheiterte und den Fall des Gesetzes zur Folge hatte, mag Bismarck der Ansicht
gewesen sein, daß das Vakuum nicht lange dauern, sondern in naher Zeit durch eine
Verfassungsrevision zu ersetzen sein werde. Die Dinge sind dann bekanntlich anders
verlaufen. Die Aufhebung des Sozialistengesetzes verlieh der Sozialdemokratie einen
Aufschwung sondergleichen, der bis zu den letzten Wahlen angehalten hat. Das
Gesetz, das die Geheimhaltung der Wahl zu sichern bestimmt ist, und jetzt das
Diätengesetz haben das allgemeine Stimmrecht und seine zersetzenden Wirkungen mit
neuen Sicherungen für die Sozialdemokratie umgeben. Darüber dürfen wir uns
nicht täuschen: der gesamte Zug der Reichsgesetzgebung nimmt mehr und mehr eine
demokratische, radikalisierende Richtung an, bei der natürlich der Schwerpunkt der


Maßgebliches und Unmaßgebliches

schlingen. Sie führen bis in die Zeiten des Preußischen Verfassungskonflikts zurück.
Das allgemeine Stimmrecht war Preußens Antwort auf den Frankfurter Fürsten¬
tag gewesen. Bismarck erwartete von diesem Wahlsystem, durch das Napoleon der
Dritte die Revolution bezwungen, das Kaiserreich wieder aufgerichtet und leidlich
bequem regiert hatte, eine von den Verbitterungen des preußischen Abgeordneten¬
hauses unberührte, in ihren Gesinnungen überwiegend monarchische Volksvertretung;
nach den Einheitskriegen um so zuversichtlicher, als er den Hunderttausenden ver¬
trauen zu dürfen glaubte, die in drei Feldzügen die siegreichen Waffen Preußens
und Deutschlands getragen hatten, und deren Gesinnungen sich ebenso forterben
würden wie ihre ruhmvollen Erinnerungen. Die Industrie hatte bei weitem uicht die
heutige Entwicklung, sie gebot uoch nicht über die jetzigen Massenheere der Arbeiter¬
bevölkerung. Noch dominierten die Landwirtschaft und der ländliche Arbeiter. Anstatt der
60 Millionen Einwohner von heute hatte das Reich im Jahre 1871 bei demselben
Gebietsumfcmge noch nicht 39 Millionen. Selbstverständlich mußten die Wirkungen
des allgemeinen Stimmrechts damals wesentlich anders sein als heute, denn bei einer
so gewaltigen Volksvermehrung fällt auf die handarbeitenden Klassen bei weitem
der Löwenanteil. Sind schon heute die Ergebnisse des allgemeinen Stimmrechts
nur schwer erträglich, wie wird es erst in zwanzig Jahren damit aussehen, wenn
sich die Bevölkerungszahl von 1871 — nach Maßgabe des bisherigen Zuwachses —
längst mehr als verdoppelt haben wird! Werden Wahlsystem und Verfassung, die
für noch nicht 40 Millionen brauchbar und ausreichend waren, auch noch für
80 Millionen möglich sein, und ist es nicht Pflicht einer weisen, vorschauenden Re¬
gierung, dieser Frage rechtzeitig näherzutreten? Man sagt wohl, daß das all¬
gemeine Stimmrecht nicht mehr antastbar sei. Zugegeben, obwohl man nach einem
bekannten Ausspruch in xolitieis niemals „niemals" sagen soll. Wie zutreffend das
ist, beweist das Diätengesetz, das uoch vor fünf Jahren niemand für möglich ge¬
halten hätte!

Die Behauptung freilich ist nicht richtig, daß Bismarck, der das allgemeine
Stimmrecht hätte ändern können, es uicht geändert habe. Er änderte es schon
nach sieben Jahren — durch das Sozialistengesetz. Als nach dem Nobilingschen
Attentat der Reichstag aufgelöst wurde, damit von seinem neugewählten Nachfolger
das Sozialistengesetz genehmigt werden konnte, wäre es vielleicht richtiger gewesen,
das allgemeine Stimmrecht zu beseitigen, anstatt es durch das Sozialistengesetz ein¬
zuschränken, nur indirekt einzuschränken durch Beschneidung der agitatorischen und
organisatorischen Tätigkeit der Sozialdemokratie. Ein andres Wahlrecht würde der
damaligen öffentlichen Stimmung durchaus entsprochen haben, bekanntlich auch den
Ansichten des für seinen Vater regierenden Kronprinzen, ebenso wie denen des
Kaisers selbst und der Mehrzahl der Bundesfürsten. Aber dem Reichskanzler
erschien es geratner, auf diesem Umwege zu einem ähnlichen Resultat zu ge¬
lange», ohne die Verfassungsfrage zu berühren, bei der sich dann die vom Kron¬
prinzen besonders begünstigte Oberhausidee wohl nicht hatte umgehn lassen. Die
durch das Sozialistengesetz erreichte Einschränkung des allgemeinen Stimmrechts, nicht
des Rechts an sich, sonder» der mit seiner Ausübung verbundnen zersetzenden Tätig¬
keit, war bekanntlich nur von zwölfjähriger Dauer. Als 1890 die Verlängerung
scheiterte und den Fall des Gesetzes zur Folge hatte, mag Bismarck der Ansicht
gewesen sein, daß das Vakuum nicht lange dauern, sondern in naher Zeit durch eine
Verfassungsrevision zu ersetzen sein werde. Die Dinge sind dann bekanntlich anders
verlaufen. Die Aufhebung des Sozialistengesetzes verlieh der Sozialdemokratie einen
Aufschwung sondergleichen, der bis zu den letzten Wahlen angehalten hat. Das
Gesetz, das die Geheimhaltung der Wahl zu sichern bestimmt ist, und jetzt das
Diätengesetz haben das allgemeine Stimmrecht und seine zersetzenden Wirkungen mit
neuen Sicherungen für die Sozialdemokratie umgeben. Darüber dürfen wir uns
nicht täuschen: der gesamte Zug der Reichsgesetzgebung nimmt mehr und mehr eine
demokratische, radikalisierende Richtung an, bei der natürlich der Schwerpunkt der


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[0454] Maßgebliches und Unmaßgebliches schlingen. Sie führen bis in die Zeiten des Preußischen Verfassungskonflikts zurück. Das allgemeine Stimmrecht war Preußens Antwort auf den Frankfurter Fürsten¬ tag gewesen. Bismarck erwartete von diesem Wahlsystem, durch das Napoleon der Dritte die Revolution bezwungen, das Kaiserreich wieder aufgerichtet und leidlich bequem regiert hatte, eine von den Verbitterungen des preußischen Abgeordneten¬ hauses unberührte, in ihren Gesinnungen überwiegend monarchische Volksvertretung; nach den Einheitskriegen um so zuversichtlicher, als er den Hunderttausenden ver¬ trauen zu dürfen glaubte, die in drei Feldzügen die siegreichen Waffen Preußens und Deutschlands getragen hatten, und deren Gesinnungen sich ebenso forterben würden wie ihre ruhmvollen Erinnerungen. Die Industrie hatte bei weitem uicht die heutige Entwicklung, sie gebot uoch nicht über die jetzigen Massenheere der Arbeiter¬ bevölkerung. Noch dominierten die Landwirtschaft und der ländliche Arbeiter. Anstatt der 60 Millionen Einwohner von heute hatte das Reich im Jahre 1871 bei demselben Gebietsumfcmge noch nicht 39 Millionen. Selbstverständlich mußten die Wirkungen des allgemeinen Stimmrechts damals wesentlich anders sein als heute, denn bei einer so gewaltigen Volksvermehrung fällt auf die handarbeitenden Klassen bei weitem der Löwenanteil. Sind schon heute die Ergebnisse des allgemeinen Stimmrechts nur schwer erträglich, wie wird es erst in zwanzig Jahren damit aussehen, wenn sich die Bevölkerungszahl von 1871 — nach Maßgabe des bisherigen Zuwachses — längst mehr als verdoppelt haben wird! Werden Wahlsystem und Verfassung, die für noch nicht 40 Millionen brauchbar und ausreichend waren, auch noch für 80 Millionen möglich sein, und ist es nicht Pflicht einer weisen, vorschauenden Re¬ gierung, dieser Frage rechtzeitig näherzutreten? Man sagt wohl, daß das all¬ gemeine Stimmrecht nicht mehr antastbar sei. Zugegeben, obwohl man nach einem bekannten Ausspruch in xolitieis niemals „niemals" sagen soll. Wie zutreffend das ist, beweist das Diätengesetz, das uoch vor fünf Jahren niemand für möglich ge¬ halten hätte! Die Behauptung freilich ist nicht richtig, daß Bismarck, der das allgemeine Stimmrecht hätte ändern können, es uicht geändert habe. Er änderte es schon nach sieben Jahren — durch das Sozialistengesetz. Als nach dem Nobilingschen Attentat der Reichstag aufgelöst wurde, damit von seinem neugewählten Nachfolger das Sozialistengesetz genehmigt werden konnte, wäre es vielleicht richtiger gewesen, das allgemeine Stimmrecht zu beseitigen, anstatt es durch das Sozialistengesetz ein¬ zuschränken, nur indirekt einzuschränken durch Beschneidung der agitatorischen und organisatorischen Tätigkeit der Sozialdemokratie. Ein andres Wahlrecht würde der damaligen öffentlichen Stimmung durchaus entsprochen haben, bekanntlich auch den Ansichten des für seinen Vater regierenden Kronprinzen, ebenso wie denen des Kaisers selbst und der Mehrzahl der Bundesfürsten. Aber dem Reichskanzler erschien es geratner, auf diesem Umwege zu einem ähnlichen Resultat zu ge¬ lange», ohne die Verfassungsfrage zu berühren, bei der sich dann die vom Kron¬ prinzen besonders begünstigte Oberhausidee wohl nicht hatte umgehn lassen. Die durch das Sozialistengesetz erreichte Einschränkung des allgemeinen Stimmrechts, nicht des Rechts an sich, sonder» der mit seiner Ausübung verbundnen zersetzenden Tätig¬ keit, war bekanntlich nur von zwölfjähriger Dauer. Als 1890 die Verlängerung scheiterte und den Fall des Gesetzes zur Folge hatte, mag Bismarck der Ansicht gewesen sein, daß das Vakuum nicht lange dauern, sondern in naher Zeit durch eine Verfassungsrevision zu ersetzen sein werde. Die Dinge sind dann bekanntlich anders verlaufen. Die Aufhebung des Sozialistengesetzes verlieh der Sozialdemokratie einen Aufschwung sondergleichen, der bis zu den letzten Wahlen angehalten hat. Das Gesetz, das die Geheimhaltung der Wahl zu sichern bestimmt ist, und jetzt das Diätengesetz haben das allgemeine Stimmrecht und seine zersetzenden Wirkungen mit neuen Sicherungen für die Sozialdemokratie umgeben. Darüber dürfen wir uns nicht täuschen: der gesamte Zug der Reichsgesetzgebung nimmt mehr und mehr eine demokratische, radikalisierende Richtung an, bei der natürlich der Schwerpunkt der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/454>, abgerufen am 05.07.2024.