Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Goethe, Aare und Chamberlain Phänomen? antwortet Goethe: "Das müssen Sie gar nicht wissen; es ist gar Hier sehen wir nun klar, worin Goethes Abneigung gegen die Meta¬ Goethe, Aare und Chamberlain Phänomen? antwortet Goethe: „Das müssen Sie gar nicht wissen; es ist gar Hier sehen wir nun klar, worin Goethes Abneigung gegen die Meta¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0429" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299470"/> <fw type="header" place="top"> Goethe, Aare und Chamberlain</fw><lb/> <p xml:id="ID_1925" prev="#ID_1924"> Phänomen? antwortet Goethe: „Das müssen Sie gar nicht wissen; es ist gar<lb/> zu dumm; und man glaubt nicht, welchen Schaden es einem guten Kopfe tut,<lb/> wenn er sich mit etwas Dummen befaßt." Chamberlain schreibt: „Hat eine<lb/> glänzende Entdeckungsbahn für den Wert der mathematischen Methode gezeugt,<lb/> so hat ein Jahrhundert von Untersuchungen zu dem Ergebnis geführt, daß<lb/> Goethe — und Goethe allein — die Farbenphünomene richtig beobachtet hat."<lb/> Also dieses war Goethes Absicht und Aufgabe, die Farbenphänomene, die Wir¬<lb/> kung der verschiednen Farben auf Auge und Gemüt, das Ergebnis der mannig¬<lb/> fachen Farbenmischungen genau zu beschreiben, und das hat er geleistet. Die<lb/> Aufgabe der von Cartesius und Newton begründeten wissenschaftlichen Optik<lb/> dagegen besteht darin, die Lichterscheinungen berechenbar und dadurch nutzbar<lb/> zu machen. Cartesius hat durch die Ätherhypothese den Grund gelegt, und<lb/> Newton, dessen Emissionshypothese übrigens bekanntlich verworfen worden ist,<lb/> hat die Nutzbarmachung durch Berechnung eingeleitet. Chamberlain weist die<lb/> tollen Widersprüche und Unmöglichkeiten der heutigen optischen Theorien nach,<lb/> die aber so lange nichts zu bedeuten haben, als sie ihren Zweck erfüllen, und<lb/> nur dann den Spott herausfordern, wenn die achthundert Billionen Äther¬<lb/> schwingungen in der Sekunde, die das violette Licht erzeugen sollen, samt dem<lb/> Dutzend sonstigen Unglaublichkeiten, mit denen sie kompliziert sind, als Wirklich¬<lb/> keit genommen werden, was allerdings nach Chamberlains Erfahrung ziemlich<lb/> allgemein zu geschehn scheint: „daß die Farben Schwingungen sind, ist ein<lb/> Dogma; Anathema dem, der die sakrosankten Schwingungen als ein bloßes<lb/> Schema für die Berechnung betrachten wollte!"</p><lb/> <p xml:id="ID_1926" next="#ID_1927"> Hier sehen wir nun klar, worin Goethes Abneigung gegen die Meta¬<lb/> physik und seine Unfähigkeit dafür wurzelte. Die neue Physik fußt auf der<lb/> Metaphysik. Ihre Methode besteht darin, daß sie die Naturerscheinungen be¬<lb/> rechenbar macht. Berechenbar ist das Meßbare, und meßbar sind Zeit und<lb/> Raum oder vielmehr begrenzte Teile von Zeit und Raum. Die Zeit aber wird<lb/> an den Ortsveränderungen gemessen, die gewisse Körper vollziehn, an deren Be¬<lb/> wegung im Raume. Demnach muß man die Naturerscheinungen, um sie zum<lb/> Gegenstand der exakten, d. h. mathematischen Wissenschaft machen zu können,<lb/> auf Bewegungen im Raume zurückführen. Das ist jedoch bei den chemischen,<lb/> optischen, elektrischen, Wärmeerscheinungen nur möglich, wenn man eine Be¬<lb/> wegung kleinster Teile der Materie annimmt, die der Erfahrung durch Beobachtung<lb/> unzugänglich sind, und außerdem Bewegungen eines Etwas, das unsichtbar, un¬<lb/> fühlbar, unwägbar und darum keine Materie ist, und das man Äther nennt.<lb/> Selbstverständlich sind die Körperatome und der Äther hypothetische Wesen, und<lb/> die allermodernsten Physiker und Chemiker, Mach und Ostwald, behaupten sogar,<lb/> sie bedürften zu ihren Berechnungen der atomistischen Hypothese nicht mehr und<lb/> kämen mit der „Energie" aus, die noch weit hypothetischer ist; denn die Körper-<lb/> und die Ätheratome kann man sich wenigstens als gruppenweise tanzende mathe¬<lb/> matische Punkte vorstellen, dagegen können wir uns von einer Energie, die<lb/> etwas andres wäre als ein handelnder menschlicher Wille, schlechterdings keine<lb/> Vorstellung machen. Wie schon bemerkt wurde, sind aber die Physiker nicht<lb/> immer dabei stehn geblieben, die Körper- und Ätheratome und ihre Schwingungen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0429]
Goethe, Aare und Chamberlain
Phänomen? antwortet Goethe: „Das müssen Sie gar nicht wissen; es ist gar
zu dumm; und man glaubt nicht, welchen Schaden es einem guten Kopfe tut,
wenn er sich mit etwas Dummen befaßt." Chamberlain schreibt: „Hat eine
glänzende Entdeckungsbahn für den Wert der mathematischen Methode gezeugt,
so hat ein Jahrhundert von Untersuchungen zu dem Ergebnis geführt, daß
Goethe — und Goethe allein — die Farbenphünomene richtig beobachtet hat."
Also dieses war Goethes Absicht und Aufgabe, die Farbenphänomene, die Wir¬
kung der verschiednen Farben auf Auge und Gemüt, das Ergebnis der mannig¬
fachen Farbenmischungen genau zu beschreiben, und das hat er geleistet. Die
Aufgabe der von Cartesius und Newton begründeten wissenschaftlichen Optik
dagegen besteht darin, die Lichterscheinungen berechenbar und dadurch nutzbar
zu machen. Cartesius hat durch die Ätherhypothese den Grund gelegt, und
Newton, dessen Emissionshypothese übrigens bekanntlich verworfen worden ist,
hat die Nutzbarmachung durch Berechnung eingeleitet. Chamberlain weist die
tollen Widersprüche und Unmöglichkeiten der heutigen optischen Theorien nach,
die aber so lange nichts zu bedeuten haben, als sie ihren Zweck erfüllen, und
nur dann den Spott herausfordern, wenn die achthundert Billionen Äther¬
schwingungen in der Sekunde, die das violette Licht erzeugen sollen, samt dem
Dutzend sonstigen Unglaublichkeiten, mit denen sie kompliziert sind, als Wirklich¬
keit genommen werden, was allerdings nach Chamberlains Erfahrung ziemlich
allgemein zu geschehn scheint: „daß die Farben Schwingungen sind, ist ein
Dogma; Anathema dem, der die sakrosankten Schwingungen als ein bloßes
Schema für die Berechnung betrachten wollte!"
Hier sehen wir nun klar, worin Goethes Abneigung gegen die Meta¬
physik und seine Unfähigkeit dafür wurzelte. Die neue Physik fußt auf der
Metaphysik. Ihre Methode besteht darin, daß sie die Naturerscheinungen be¬
rechenbar macht. Berechenbar ist das Meßbare, und meßbar sind Zeit und
Raum oder vielmehr begrenzte Teile von Zeit und Raum. Die Zeit aber wird
an den Ortsveränderungen gemessen, die gewisse Körper vollziehn, an deren Be¬
wegung im Raume. Demnach muß man die Naturerscheinungen, um sie zum
Gegenstand der exakten, d. h. mathematischen Wissenschaft machen zu können,
auf Bewegungen im Raume zurückführen. Das ist jedoch bei den chemischen,
optischen, elektrischen, Wärmeerscheinungen nur möglich, wenn man eine Be¬
wegung kleinster Teile der Materie annimmt, die der Erfahrung durch Beobachtung
unzugänglich sind, und außerdem Bewegungen eines Etwas, das unsichtbar, un¬
fühlbar, unwägbar und darum keine Materie ist, und das man Äther nennt.
Selbstverständlich sind die Körperatome und der Äther hypothetische Wesen, und
die allermodernsten Physiker und Chemiker, Mach und Ostwald, behaupten sogar,
sie bedürften zu ihren Berechnungen der atomistischen Hypothese nicht mehr und
kämen mit der „Energie" aus, die noch weit hypothetischer ist; denn die Körper-
und die Ätheratome kann man sich wenigstens als gruppenweise tanzende mathe¬
matische Punkte vorstellen, dagegen können wir uns von einer Energie, die
etwas andres wäre als ein handelnder menschlicher Wille, schlechterdings keine
Vorstellung machen. Wie schon bemerkt wurde, sind aber die Physiker nicht
immer dabei stehn geblieben, die Körper- und Ätheratome und ihre Schwingungen
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