Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.Die Deutschen in "Österreich und die Wahlrechtsfrage gegen die deutschen Interessen Stellung genommen und die deutsche Sozialdemo¬ Wer aber würde zu behaupten wagen, daß sobald einmal der Grundsatz Daß unter gewissen Voraussetzungen Parlamente, die aus dem allgemeinen, In Österreich ist keine dieser beiden Voraussetzungen vorhanden. Die starke Die Deutschen in «Österreich und die Wahlrechtsfrage gegen die deutschen Interessen Stellung genommen und die deutsche Sozialdemo¬ Wer aber würde zu behaupten wagen, daß sobald einmal der Grundsatz Daß unter gewissen Voraussetzungen Parlamente, die aus dem allgemeinen, In Österreich ist keine dieser beiden Voraussetzungen vorhanden. Die starke <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0421" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/299462"/> <fw type="header" place="top"> Die Deutschen in «Österreich und die Wahlrechtsfrage</fw><lb/> <p xml:id="ID_1900" prev="#ID_1899"> gegen die deutschen Interessen Stellung genommen und die deutsche Sozialdemo¬<lb/> kratie mit sich gezogen, die, um eine Sprengung der Partei zu vermeiden, jederzeit<lb/> bereit war, den Deutschen in den Rücken zu fallen. Das würde auch in der Zukunft<lb/> so sein, und so würde die Wahlreform des Freiherrn von Ganthas trotz allen wahl¬<lb/> geometrischen Künsteleien die Zahl der deutschen Abgeordneten vermindern.</p><lb/> <p xml:id="ID_1901"> Wer aber würde zu behaupten wagen, daß sobald einmal der Grundsatz<lb/> des allgemeinen, gleichen Wahlrechts gesetzlich anerkannt worden ist, eine Wahl¬<lb/> bezirkseinteilung wie die geplante nicht in der kürzesten Zeit einer andern weichen<lb/> müßte, die Intelligenz und Steuerleistung noch weniger berücksichtigen und fast<lb/> nur noch auf die Kopfzahl Rücksicht nehmen würde? An sich müßte damit noch<lb/> keine Schwächung der politischen Machtstellung des Deutschtums in Österreich<lb/> Hand in Hand gehn, denn wenn die Wahlreform alles das bewirken würde,<lb/> was ihre Freunde prophezeien, wenn durch sie in das Parlament ein „neuer<lb/> Geist", ein Geist friedlicher Arbeit einziehn würde, dann vermöchte sich auch eine<lb/> deutsche Minorität im Parlament zur Geltung zu bringen. Aber darin liegt<lb/> eben die große Täuschung oder Selbsttäuschung, denn die Einführung des all¬<lb/> gemeinen Wahlrechts wird nicht das bringen, was man vor allem von ihr er¬<lb/> wartet: das Ende des Nationalitätenstreits! Es ist ein Irrtum, wenn man<lb/> glaubt, daß die Erhöhung des Einflusses der breiten Schichten auf die Zu¬<lb/> sammensetzung des Parlaments die sozialen Fragen über die nationalen stellen<lb/> und eine starke, „zielbewußte" Volksvertretung schaffen würde; ein Irrtum ist<lb/> es aber auch, zu hoffen, daß die Demokratisierung des österreichischen Wahl¬<lb/> rechts den Neichsrat zu einer prompt arbeitenden Maschine machen würde, die<lb/> dem leisesten Drucke der Regierung gehorcht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1902"> Daß unter gewissen Voraussetzungen Parlamente, die aus dem allgemeinen,<lb/> gleichen Wahlrechte hervorgehn, machtloser und deshalb leichter zu handhaben<lb/> sind als Klassenparlamente, unterliegt keinem Zweifel, denn das allgemeine,<lb/> gleiche Wahlrecht atomisiert und läßt die starken Interessengemeinschaften, die<lb/> dem Parlamentarismus erst den Inhalt geben, nicht politisch wirksam werden.<lb/> Aus der Bemerkung E. Fischels (Die Verfassung Englands, 1862). daß der<lb/> Chartismus den englischen Parlamentarismus zerstöre, und daß von dem Augen¬<lb/> blick an, wo in England das allgemeine Wahlrecht hergestellt würde, die Reaktion<lb/> der königlichen Prärogative datieren würde, spricht eine äußerst seine Beobachtung.<lb/> Aber nur unter zwei Voraussetzungen trifft sie zu. Erstens muß die monarchische<lb/> Gewalt fähig sein, die Funktionen zu übernehmen, die das desorganisierte Parla¬<lb/> ment nicht mehr zu verrichten mag, und zweitens darf sich — wenn es sich um<lb/> einen Völkerstaat wie Österreich handelt — die Wirksamkeit des Parlaments nicht<lb/> auf nationale Angelegenheiten erstrecken, weil dadurch nationale Interessen¬<lb/> gemeinschaften entstehn, die weit stärker als wirtschaftliche und politische der<lb/> atomisierenden Wirkung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts widerstehn.</p><lb/> <p xml:id="ID_1903" next="#ID_1904"> In Österreich ist keine dieser beiden Voraussetzungen vorhanden. Die starke<lb/> Hand von oben vermißt man seit Jahrzehnten, während der national-zentra-<lb/> listische Charakter der Verfassung von 1867 den Reichsrat zum permanenten<lb/> Schauplatz eines verheerenden Nationalitätenkampfes gemacht hat. Die Ein¬<lb/> führung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts würde aber diesen nicht mildern.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0421]
Die Deutschen in «Österreich und die Wahlrechtsfrage
gegen die deutschen Interessen Stellung genommen und die deutsche Sozialdemo¬
kratie mit sich gezogen, die, um eine Sprengung der Partei zu vermeiden, jederzeit
bereit war, den Deutschen in den Rücken zu fallen. Das würde auch in der Zukunft
so sein, und so würde die Wahlreform des Freiherrn von Ganthas trotz allen wahl¬
geometrischen Künsteleien die Zahl der deutschen Abgeordneten vermindern.
Wer aber würde zu behaupten wagen, daß sobald einmal der Grundsatz
des allgemeinen, gleichen Wahlrechts gesetzlich anerkannt worden ist, eine Wahl¬
bezirkseinteilung wie die geplante nicht in der kürzesten Zeit einer andern weichen
müßte, die Intelligenz und Steuerleistung noch weniger berücksichtigen und fast
nur noch auf die Kopfzahl Rücksicht nehmen würde? An sich müßte damit noch
keine Schwächung der politischen Machtstellung des Deutschtums in Österreich
Hand in Hand gehn, denn wenn die Wahlreform alles das bewirken würde,
was ihre Freunde prophezeien, wenn durch sie in das Parlament ein „neuer
Geist", ein Geist friedlicher Arbeit einziehn würde, dann vermöchte sich auch eine
deutsche Minorität im Parlament zur Geltung zu bringen. Aber darin liegt
eben die große Täuschung oder Selbsttäuschung, denn die Einführung des all¬
gemeinen Wahlrechts wird nicht das bringen, was man vor allem von ihr er¬
wartet: das Ende des Nationalitätenstreits! Es ist ein Irrtum, wenn man
glaubt, daß die Erhöhung des Einflusses der breiten Schichten auf die Zu¬
sammensetzung des Parlaments die sozialen Fragen über die nationalen stellen
und eine starke, „zielbewußte" Volksvertretung schaffen würde; ein Irrtum ist
es aber auch, zu hoffen, daß die Demokratisierung des österreichischen Wahl¬
rechts den Neichsrat zu einer prompt arbeitenden Maschine machen würde, die
dem leisesten Drucke der Regierung gehorcht.
Daß unter gewissen Voraussetzungen Parlamente, die aus dem allgemeinen,
gleichen Wahlrechte hervorgehn, machtloser und deshalb leichter zu handhaben
sind als Klassenparlamente, unterliegt keinem Zweifel, denn das allgemeine,
gleiche Wahlrecht atomisiert und läßt die starken Interessengemeinschaften, die
dem Parlamentarismus erst den Inhalt geben, nicht politisch wirksam werden.
Aus der Bemerkung E. Fischels (Die Verfassung Englands, 1862). daß der
Chartismus den englischen Parlamentarismus zerstöre, und daß von dem Augen¬
blick an, wo in England das allgemeine Wahlrecht hergestellt würde, die Reaktion
der königlichen Prärogative datieren würde, spricht eine äußerst seine Beobachtung.
Aber nur unter zwei Voraussetzungen trifft sie zu. Erstens muß die monarchische
Gewalt fähig sein, die Funktionen zu übernehmen, die das desorganisierte Parla¬
ment nicht mehr zu verrichten mag, und zweitens darf sich — wenn es sich um
einen Völkerstaat wie Österreich handelt — die Wirksamkeit des Parlaments nicht
auf nationale Angelegenheiten erstrecken, weil dadurch nationale Interessen¬
gemeinschaften entstehn, die weit stärker als wirtschaftliche und politische der
atomisierenden Wirkung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts widerstehn.
In Österreich ist keine dieser beiden Voraussetzungen vorhanden. Die starke
Hand von oben vermißt man seit Jahrzehnten, während der national-zentra-
listische Charakter der Verfassung von 1867 den Reichsrat zum permanenten
Schauplatz eines verheerenden Nationalitätenkampfes gemacht hat. Die Ein¬
führung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts würde aber diesen nicht mildern.
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