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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Die Deutschen in Ästerreich und die ZVahlrechtsfrage

sondern noch verschärfen, da -- weil infolge der national-zentralistischen Ver¬
fassung die Parteien im Reichsrate sich vor allem nach nationalen Erwägungen
gruppieren -- sich die durch die Demokratisierung des Wahlrechts bewirkte
Radikalisierung gerade in nationaler Beziehung am stärksten fühlbar machen würde.
Es ist durchaus falsch, daß man die österreichische Parlamentskrise aus dem
Klassencharakter des österreichischen Wahlrechts ableitet, durchlebte doch das eng¬
lische Parlament seine glänzendsten Tage gerade damals, als es ein cmsge-
sprochnes Klassenparlament war. Nicht das Klassenwahlsystem, sondern die
Bestimmung der österreichischen Verfassung, die die Ordnung der nationalen An¬
gelegenheiten dem Reichsrate zuweist, hat die bedauernswerten Zustände im
österreichischen Reichsrate geschaffen.

Weil die Verfassung von 1867 wohl den Grundsatz, daß alle Nationali¬
täten gleichberechtigt seien, aussprach, seine Durchführung aber dem Neichsrat
überließ, löste sich das ganze politische Leben in einen Kampf zwischen Deutschen
und Slawen auf, der schließlich alle parlamentarische Ordnung sprengte, indem
er die Deutschen, als sie sich im Parlament in die Minorität gedrängt und
durch die Handhabung der Zentralgewalt in nationalen Dingen durch eine slawische
Parlamentsmehrheit bedroht sahen, zur Obstruktion trieb. An dieser Ursache der
österreichischen Krise würde durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts gar
nichts geändert werden. Der nationale Streit würde nicht gedämpft, die Ohn¬
macht des Parlaments nicht gehoben werden, wohl aber würde einerseits die
parlamentarische Anarchie auch auf die Negierung übertragen, andrerseits aber das
Deutschtum in seinen nationalen Interessen aufs tiefste geschädigt werden.

Die Besorgnis, daß das durch die Einführung des allgemeinen, gleichen
Wahlrechts befürchtete Anwachsen der slawischen Mandate zur Bildung einer sla¬
wischen Reichsratsmehrheit führen würde, der die Deutschen mit gebundnen Händen
ausgeliefert wären, ist allerdings nicht begründet. Ebensowenig wie es gelingen
konnte, durch eine künstliche Wahlbezirkseinteilung die parlamentarische Herrschaft
der Deutschen zu begründen, ebensowenig würde durch die Wahlreform ein slawischer
Zentralismus geschaffen werden, weil die Deutschen immer stark genug bleiben
würden, sich eines solchen durch Obstruktion zu erwehren.

Kann sich aber die deutsche Politik in Osterreich mit der Obstruktions¬
möglichkeit als der einzigen Garantie gegen nationale Vergewaltigung bescheiden?
Im Wege der Gesetzgebung wird man den Deutschen nicht an den Leib können,
aber ganz abgesehen davon, daß die Verwaltung, von ihren nationalen Gegnern
gehandhabt, ihnen großen Schaden zufügen kann, müßten gerade sie unter der
Fortdauer der unglückseligen Zustände im Neichsrat am meisten leiden. Als
der, was die Kultur anlangt, fortgeschrittenste und darum wirtschaftlich am
feinsten organisierte Volksstamm Österreichs bedürfen sie zu ihrer Entwicklung
und Behauptung ihrer Machtstellung am dringendsten geordneter innerpolitischer
Zustände, weil sich nur unter solchen die Überlegenheit ihrer Intelligenz und
ihres Besitzes geltend machen kann. Jede Stockung der österreichischen Gesetz¬
gebung und die dadurch hervorgerufne ökonomische Unsicherheit fügt den Deutschen
unberechenbaren Schaden zu; darunter leidet aber ihre nationale Machtstellung
nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar, weil unbefriedigende wirtschaftliche


Die Deutschen in Ästerreich und die ZVahlrechtsfrage

sondern noch verschärfen, da — weil infolge der national-zentralistischen Ver¬
fassung die Parteien im Reichsrate sich vor allem nach nationalen Erwägungen
gruppieren — sich die durch die Demokratisierung des Wahlrechts bewirkte
Radikalisierung gerade in nationaler Beziehung am stärksten fühlbar machen würde.
Es ist durchaus falsch, daß man die österreichische Parlamentskrise aus dem
Klassencharakter des österreichischen Wahlrechts ableitet, durchlebte doch das eng¬
lische Parlament seine glänzendsten Tage gerade damals, als es ein cmsge-
sprochnes Klassenparlament war. Nicht das Klassenwahlsystem, sondern die
Bestimmung der österreichischen Verfassung, die die Ordnung der nationalen An¬
gelegenheiten dem Reichsrate zuweist, hat die bedauernswerten Zustände im
österreichischen Reichsrate geschaffen.

Weil die Verfassung von 1867 wohl den Grundsatz, daß alle Nationali¬
täten gleichberechtigt seien, aussprach, seine Durchführung aber dem Neichsrat
überließ, löste sich das ganze politische Leben in einen Kampf zwischen Deutschen
und Slawen auf, der schließlich alle parlamentarische Ordnung sprengte, indem
er die Deutschen, als sie sich im Parlament in die Minorität gedrängt und
durch die Handhabung der Zentralgewalt in nationalen Dingen durch eine slawische
Parlamentsmehrheit bedroht sahen, zur Obstruktion trieb. An dieser Ursache der
österreichischen Krise würde durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts gar
nichts geändert werden. Der nationale Streit würde nicht gedämpft, die Ohn¬
macht des Parlaments nicht gehoben werden, wohl aber würde einerseits die
parlamentarische Anarchie auch auf die Negierung übertragen, andrerseits aber das
Deutschtum in seinen nationalen Interessen aufs tiefste geschädigt werden.

Die Besorgnis, daß das durch die Einführung des allgemeinen, gleichen
Wahlrechts befürchtete Anwachsen der slawischen Mandate zur Bildung einer sla¬
wischen Reichsratsmehrheit führen würde, der die Deutschen mit gebundnen Händen
ausgeliefert wären, ist allerdings nicht begründet. Ebensowenig wie es gelingen
konnte, durch eine künstliche Wahlbezirkseinteilung die parlamentarische Herrschaft
der Deutschen zu begründen, ebensowenig würde durch die Wahlreform ein slawischer
Zentralismus geschaffen werden, weil die Deutschen immer stark genug bleiben
würden, sich eines solchen durch Obstruktion zu erwehren.

Kann sich aber die deutsche Politik in Osterreich mit der Obstruktions¬
möglichkeit als der einzigen Garantie gegen nationale Vergewaltigung bescheiden?
Im Wege der Gesetzgebung wird man den Deutschen nicht an den Leib können,
aber ganz abgesehen davon, daß die Verwaltung, von ihren nationalen Gegnern
gehandhabt, ihnen großen Schaden zufügen kann, müßten gerade sie unter der
Fortdauer der unglückseligen Zustände im Neichsrat am meisten leiden. Als
der, was die Kultur anlangt, fortgeschrittenste und darum wirtschaftlich am
feinsten organisierte Volksstamm Österreichs bedürfen sie zu ihrer Entwicklung
und Behauptung ihrer Machtstellung am dringendsten geordneter innerpolitischer
Zustände, weil sich nur unter solchen die Überlegenheit ihrer Intelligenz und
ihres Besitzes geltend machen kann. Jede Stockung der österreichischen Gesetz¬
gebung und die dadurch hervorgerufne ökonomische Unsicherheit fügt den Deutschen
unberechenbaren Schaden zu; darunter leidet aber ihre nationale Machtstellung
nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar, weil unbefriedigende wirtschaftliche


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[0422] Die Deutschen in Ästerreich und die ZVahlrechtsfrage sondern noch verschärfen, da — weil infolge der national-zentralistischen Ver¬ fassung die Parteien im Reichsrate sich vor allem nach nationalen Erwägungen gruppieren — sich die durch die Demokratisierung des Wahlrechts bewirkte Radikalisierung gerade in nationaler Beziehung am stärksten fühlbar machen würde. Es ist durchaus falsch, daß man die österreichische Parlamentskrise aus dem Klassencharakter des österreichischen Wahlrechts ableitet, durchlebte doch das eng¬ lische Parlament seine glänzendsten Tage gerade damals, als es ein cmsge- sprochnes Klassenparlament war. Nicht das Klassenwahlsystem, sondern die Bestimmung der österreichischen Verfassung, die die Ordnung der nationalen An¬ gelegenheiten dem Reichsrate zuweist, hat die bedauernswerten Zustände im österreichischen Reichsrate geschaffen. Weil die Verfassung von 1867 wohl den Grundsatz, daß alle Nationali¬ täten gleichberechtigt seien, aussprach, seine Durchführung aber dem Neichsrat überließ, löste sich das ganze politische Leben in einen Kampf zwischen Deutschen und Slawen auf, der schließlich alle parlamentarische Ordnung sprengte, indem er die Deutschen, als sie sich im Parlament in die Minorität gedrängt und durch die Handhabung der Zentralgewalt in nationalen Dingen durch eine slawische Parlamentsmehrheit bedroht sahen, zur Obstruktion trieb. An dieser Ursache der österreichischen Krise würde durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts gar nichts geändert werden. Der nationale Streit würde nicht gedämpft, die Ohn¬ macht des Parlaments nicht gehoben werden, wohl aber würde einerseits die parlamentarische Anarchie auch auf die Negierung übertragen, andrerseits aber das Deutschtum in seinen nationalen Interessen aufs tiefste geschädigt werden. Die Besorgnis, daß das durch die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts befürchtete Anwachsen der slawischen Mandate zur Bildung einer sla¬ wischen Reichsratsmehrheit führen würde, der die Deutschen mit gebundnen Händen ausgeliefert wären, ist allerdings nicht begründet. Ebensowenig wie es gelingen konnte, durch eine künstliche Wahlbezirkseinteilung die parlamentarische Herrschaft der Deutschen zu begründen, ebensowenig würde durch die Wahlreform ein slawischer Zentralismus geschaffen werden, weil die Deutschen immer stark genug bleiben würden, sich eines solchen durch Obstruktion zu erwehren. Kann sich aber die deutsche Politik in Osterreich mit der Obstruktions¬ möglichkeit als der einzigen Garantie gegen nationale Vergewaltigung bescheiden? Im Wege der Gesetzgebung wird man den Deutschen nicht an den Leib können, aber ganz abgesehen davon, daß die Verwaltung, von ihren nationalen Gegnern gehandhabt, ihnen großen Schaden zufügen kann, müßten gerade sie unter der Fortdauer der unglückseligen Zustände im Neichsrat am meisten leiden. Als der, was die Kultur anlangt, fortgeschrittenste und darum wirtschaftlich am feinsten organisierte Volksstamm Österreichs bedürfen sie zu ihrer Entwicklung und Behauptung ihrer Machtstellung am dringendsten geordneter innerpolitischer Zustände, weil sich nur unter solchen die Überlegenheit ihrer Intelligenz und ihres Besitzes geltend machen kann. Jede Stockung der österreichischen Gesetz¬ gebung und die dadurch hervorgerufne ökonomische Unsicherheit fügt den Deutschen unberechenbaren Schaden zu; darunter leidet aber ihre nationale Machtstellung nicht nur unmittelbar, sondern auch mittelbar, weil unbefriedigende wirtschaftliche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/422>, abgerufen am 27.12.2024.