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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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lNenschenfrühling

Der Kandidat hatte sich an ihre Gegenwart gewöhnt, und da er kinderlieb war,
mochte er sie nicht wieder entbehren. Ans Lernen und Gelehrsamkeit machte er
sich nichts, aber er sorgte doch dafür, daß sie in den Kursus von Fräulein
Sengelmann kam und die besten Morgenstunden nicht bei Mamsell Blüthen ver¬
mähle oder verstrickte.

Nike Blüthen weinte bitterlich, als Anneli ihr die Trennung ankündigte.

Erst ist Christel von mir gegangen, und nun willst du auch weg. Mit wem
soll ich denn nächstes Jahr einen Waldspaziergang machen? Er ist nur für die
Privatschülerinnen bestimmt, und ich habe keine mehr.

Vielleicht geht Onkel Aurelius mit dir, tröstete Anneli, aber die Lehrerin
schüttelte den Kopf.

Das war einmal und nicht wieder, ich werfe mich nicht weg und will lieber
ehrbar bleiben, als schamlos handeln wie andre Mädchen.

Anneli verstand jetzt so viel vom Leben, daß sie begriff, auf wen die kleine
Lehrerin anspielte. Aber es fiel ihr nicht ein, darüber nachzudenken. Nur in Virne-
burg und auf Falkenhorst hatte sie es so gut gehabt wie jetzt. Der Kandidat er¬
mahnte nur in seltnen Fällen, und Slina gab ihr kräftige Speisen und sorgte für
ihr körperliches Wohl. Vergnügt nickte Anneli gelegentlich der alten Demoiselle zu,
die täglich an ihrem Fenster saß, und die sie niemals erkannte, und sie freute sich,
wenn der alte Peters den Kandidaten besuchte. Er hatte jetzt den Schlüssel zu
seinem Pianino, aber er mochte es nicht mehr öffnen.

Kannst du nicht Klavierspielen lernen? fragte er Anneli eines Tages. Dann
schenke ich dir den alten Kasten.

Aber Anneli schüttelte hastig deu Kopf.

Klavierspielen? Bitte, bitte nicht!

Onkel Aurelius lachte über ihre Angst.

Lernen ist nun einmal nicht ihre starke Seite! sagte er zu Herrn Peters.
Verdenken kann ichs ihr nicht, Bücherweisheit habe auch ich immer greulich ge¬
funden, und die Erfindung der Drahtkommode -- Sie nehmens wohl nicht übel,
lieber Peters -- hat der Gottseibeiuns in höchsteigner Person gemacht.

So also wurde Anneli mit Klavierspiel verschont, aber nicht mit Französisch,
das sie nach wie vor bei ihrem Onkel trieb. Manchmal mit Eifer und dann wieder
in lässiger Weise, je nachdem Onkel Willi aufgelegt war. Und Anneli war die
Lässigkeit lieber als der Eifer. Dann konnte sie in der kleinen Nische sitzen und
ihren eignen Gedanken nachhängen oder aus dem Fenster über den See schauen.
Noch war er grau und glitzerte nur, wenn ihn die Novembersonue beschien; aber
wenn erst der Frost kam, dann würde er ein flimmerndes Eisgewand anlegen, und
man konnte Schlittschuh auf ihm laufen. Das Eisgewand mußte kommen, im Wochen¬
blatt hatte es gestanden, und wenn der kleine bucklige Zeitungsdrucker auch nichts
vom Wetter verstand, so wußten es doch die grauen Schwäne, die schon über die
Stadt gezogen waren. Sie kamen nur hierher, wenn es sehr kalt wurde, und dann
wohnten sie am jenseitigen Ufer des Sees, dort wo die kleinen Schilfinseln lagen.

So sagten die Kinder in der Schule, und Fred Roland trug eine graue
Schwanenfeder an seiner Klassenmütze, die er am Seeufer gefunden hatte.

Anneli dachte oft an Fred Roland, aber nur mit leisem Groll. Er bekümmerte
sich jetzt auch nicht um sie, sonder" drehte den Kopf zur Seite, wenn sie an ihm
vorüberging. Seine Mutter war ganz anders. Als sie Anneli zum erstenmal seit
ihrer Krankheit gesehen hatte, war sie stehn geblieben, hatte freundlich mit ihr ge¬
sprochen und sich gewundert, wie groß Anneli geworden wäre. Sie hatte auch
gefragt, ob Anneli sie nicht einmal wieder besuchen wollte, und die also Eingeladnc
hatte ja gesagt, aber sie war der Aufforderung noch nicht gefolgt. Es war besser,
ganz still neben Onkel Willi zu sitzen und auf seine Stimme zu horchen. Er las
sich noch oft etwas vor. Manchmal waren es Verse, dann wieder Geschichten aus
der Vergangenheit. Wie es am Hofe des Königs ausgesehen hatte, und wie lieblich
die kleine Prinzessin gewesen war. Und dazwischen bunte Schilderungen von Land


lNenschenfrühling

Der Kandidat hatte sich an ihre Gegenwart gewöhnt, und da er kinderlieb war,
mochte er sie nicht wieder entbehren. Ans Lernen und Gelehrsamkeit machte er
sich nichts, aber er sorgte doch dafür, daß sie in den Kursus von Fräulein
Sengelmann kam und die besten Morgenstunden nicht bei Mamsell Blüthen ver¬
mähle oder verstrickte.

Nike Blüthen weinte bitterlich, als Anneli ihr die Trennung ankündigte.

Erst ist Christel von mir gegangen, und nun willst du auch weg. Mit wem
soll ich denn nächstes Jahr einen Waldspaziergang machen? Er ist nur für die
Privatschülerinnen bestimmt, und ich habe keine mehr.

Vielleicht geht Onkel Aurelius mit dir, tröstete Anneli, aber die Lehrerin
schüttelte den Kopf.

Das war einmal und nicht wieder, ich werfe mich nicht weg und will lieber
ehrbar bleiben, als schamlos handeln wie andre Mädchen.

Anneli verstand jetzt so viel vom Leben, daß sie begriff, auf wen die kleine
Lehrerin anspielte. Aber es fiel ihr nicht ein, darüber nachzudenken. Nur in Virne-
burg und auf Falkenhorst hatte sie es so gut gehabt wie jetzt. Der Kandidat er¬
mahnte nur in seltnen Fällen, und Slina gab ihr kräftige Speisen und sorgte für
ihr körperliches Wohl. Vergnügt nickte Anneli gelegentlich der alten Demoiselle zu,
die täglich an ihrem Fenster saß, und die sie niemals erkannte, und sie freute sich,
wenn der alte Peters den Kandidaten besuchte. Er hatte jetzt den Schlüssel zu
seinem Pianino, aber er mochte es nicht mehr öffnen.

Kannst du nicht Klavierspielen lernen? fragte er Anneli eines Tages. Dann
schenke ich dir den alten Kasten.

Aber Anneli schüttelte hastig deu Kopf.

Klavierspielen? Bitte, bitte nicht!

Onkel Aurelius lachte über ihre Angst.

Lernen ist nun einmal nicht ihre starke Seite! sagte er zu Herrn Peters.
Verdenken kann ichs ihr nicht, Bücherweisheit habe auch ich immer greulich ge¬
funden, und die Erfindung der Drahtkommode — Sie nehmens wohl nicht übel,
lieber Peters — hat der Gottseibeiuns in höchsteigner Person gemacht.

So also wurde Anneli mit Klavierspiel verschont, aber nicht mit Französisch,
das sie nach wie vor bei ihrem Onkel trieb. Manchmal mit Eifer und dann wieder
in lässiger Weise, je nachdem Onkel Willi aufgelegt war. Und Anneli war die
Lässigkeit lieber als der Eifer. Dann konnte sie in der kleinen Nische sitzen und
ihren eignen Gedanken nachhängen oder aus dem Fenster über den See schauen.
Noch war er grau und glitzerte nur, wenn ihn die Novembersonue beschien; aber
wenn erst der Frost kam, dann würde er ein flimmerndes Eisgewand anlegen, und
man konnte Schlittschuh auf ihm laufen. Das Eisgewand mußte kommen, im Wochen¬
blatt hatte es gestanden, und wenn der kleine bucklige Zeitungsdrucker auch nichts
vom Wetter verstand, so wußten es doch die grauen Schwäne, die schon über die
Stadt gezogen waren. Sie kamen nur hierher, wenn es sehr kalt wurde, und dann
wohnten sie am jenseitigen Ufer des Sees, dort wo die kleinen Schilfinseln lagen.

So sagten die Kinder in der Schule, und Fred Roland trug eine graue
Schwanenfeder an seiner Klassenmütze, die er am Seeufer gefunden hatte.

Anneli dachte oft an Fred Roland, aber nur mit leisem Groll. Er bekümmerte
sich jetzt auch nicht um sie, sonder» drehte den Kopf zur Seite, wenn sie an ihm
vorüberging. Seine Mutter war ganz anders. Als sie Anneli zum erstenmal seit
ihrer Krankheit gesehen hatte, war sie stehn geblieben, hatte freundlich mit ihr ge¬
sprochen und sich gewundert, wie groß Anneli geworden wäre. Sie hatte auch
gefragt, ob Anneli sie nicht einmal wieder besuchen wollte, und die also Eingeladnc
hatte ja gesagt, aber sie war der Aufforderung noch nicht gefolgt. Es war besser,
ganz still neben Onkel Willi zu sitzen und auf seine Stimme zu horchen. Er las
sich noch oft etwas vor. Manchmal waren es Verse, dann wieder Geschichten aus
der Vergangenheit. Wie es am Hofe des Königs ausgesehen hatte, und wie lieblich
die kleine Prinzessin gewesen war. Und dazwischen bunte Schilderungen von Land


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/400>, abgerufen am 24.07.2024.