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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Stoff und Geist in der Philologie

-eine äußere und eine innere zu zerlegen und jene dem Philologen, diese dem
Ästhetiker zuzuweisen. Der literarhistorisch tätige Philologe kann die Ästhetik
und die Philosophie gar nicht entbehren, weil sie es erst ist, die seiner Wissen¬
schaft den Charakter einer Geisteswissenschaft gibt; ohne sie ist sie geistloser
Stoff, der sich übrigens sehr wohl unter einer geistreich blendenden Form ver¬
bergen kann.

Wie unentbehrlich künstlerisches Empfinden und philosophisches Denken
für den erläuternden und darstellenden Literarhistoriker ist, und wie wenig die
hergebrachte philologische Bildung für diese Tätigkeit ausreicht, kann man an
zwei Gruppen von Beispielen beobachten, an der einen im negativen, an der
andern im positiven Sinne. Die erste Gruppe bilden unsre meist von philo¬
logisch gebildeten Schulmännern und Bibliothekaren verfaßten "Klassikerausgaben
mit erklärenden Anmerkungen", an die jeder noch aus seiner Schulzeit her
mit Schrecken denkt, die den Schülern Steine statt Brot bieten, und in denen
gewöhnlich nur Nebendinge, nicht Hauptpunkte erklärt sind, in denen der Geist
des Dichters förmlich zugeschüttet ist unter einem Wust von Bemerkungen, in
denen das Stoffliche die Hauptrolle spielt. Und wenn einmal ein Angriff nach
der ästhetischen Seite gewagt wurde, verunglückte er meist, weil der Angreifer
dem Angegriffnen gegenüber zu schlecht ausgerüstet, in ästhetischen Dingen zu
schwach war, nicht etwa, weil sie ihn nichts angingen; denn den Dichter
ästhetisch erklären, d. h. noch einmal innerlich aufzubauen, seine Gedanken- und
Gefühlswege noch einmal gehn, kurz, sein Werk für uns in jugendlicher
Frische hinstellen, wie es einst war, da es aus seinem Haupt und Herzen
sprang -- das war ja gerade die Aufgabe jener Ausbeuter. Statt es so geistig
Wiederzugebären, umwickelten sie es mit Lappen und Lumpen und machten es
zu einer Mumie, oder sie zerlegten es kunstreich, um den Kern der "Idee"
herauszuholen oder, wenn er nicht drin war, ihn hineinzustecken, spielten es
mit eignen Gedankenschnitzeln, und das Kunstwerk lag vor einem wie ein
tranchierter Hase. So etwa wurden in jenen denkwürdigen Kommentaren Homer,
Sophokles, Shakespeare, Schiller und Goethe "behandelt", entweder mumifiziert
oder tranchiert -- nur nicht wiedergeboren. Ich frage mich oft angesichts
solcher Erklärungswüteriche: Warum habt ihr statt allem euern Scharfsinn
nicht ein wenig Feinsinn mitgebracht, warum sprecht ihr so viel von Disposition
und Analyse und so wenig von Komposition und Synthese? Warum könnt
ihr eure Kost so wenig genießbar machen? -- Weil es euch an dem ästhetischen
und philosophischen Sauerteig fehlt, weil ihr euch nur um die Erforschung der
"äußern", nicht der "innern" Literaturgeschichte gekümmert, weil ihr den Leib
für die Seele genommen habt, oder vielmehr, weil ihr den lebendigen Körper
entgeistigt habt.

Gegenüber diesen Ciceronenaturen der Literaturerklärung und -belehrung
steht nun die Schar der geistig Auserwählten, der künstlerischen und philo¬
sophischen Denker der großen Dichtergestalten der Menschheit. Hier stehn im
Kulturkreise des Griechentums Bernhardt", Rohde, I. Burckhardt, von Wila-
mowitz; hier stehn als Herolde unsrer klassischen Dichterperiode die den Begriff
der Literaturgeschichte zur Kulturgeschichte erweiternden, universalen Geister wie


Stoff und Geist in der Philologie

-eine äußere und eine innere zu zerlegen und jene dem Philologen, diese dem
Ästhetiker zuzuweisen. Der literarhistorisch tätige Philologe kann die Ästhetik
und die Philosophie gar nicht entbehren, weil sie es erst ist, die seiner Wissen¬
schaft den Charakter einer Geisteswissenschaft gibt; ohne sie ist sie geistloser
Stoff, der sich übrigens sehr wohl unter einer geistreich blendenden Form ver¬
bergen kann.

Wie unentbehrlich künstlerisches Empfinden und philosophisches Denken
für den erläuternden und darstellenden Literarhistoriker ist, und wie wenig die
hergebrachte philologische Bildung für diese Tätigkeit ausreicht, kann man an
zwei Gruppen von Beispielen beobachten, an der einen im negativen, an der
andern im positiven Sinne. Die erste Gruppe bilden unsre meist von philo¬
logisch gebildeten Schulmännern und Bibliothekaren verfaßten „Klassikerausgaben
mit erklärenden Anmerkungen", an die jeder noch aus seiner Schulzeit her
mit Schrecken denkt, die den Schülern Steine statt Brot bieten, und in denen
gewöhnlich nur Nebendinge, nicht Hauptpunkte erklärt sind, in denen der Geist
des Dichters förmlich zugeschüttet ist unter einem Wust von Bemerkungen, in
denen das Stoffliche die Hauptrolle spielt. Und wenn einmal ein Angriff nach
der ästhetischen Seite gewagt wurde, verunglückte er meist, weil der Angreifer
dem Angegriffnen gegenüber zu schlecht ausgerüstet, in ästhetischen Dingen zu
schwach war, nicht etwa, weil sie ihn nichts angingen; denn den Dichter
ästhetisch erklären, d. h. noch einmal innerlich aufzubauen, seine Gedanken- und
Gefühlswege noch einmal gehn, kurz, sein Werk für uns in jugendlicher
Frische hinstellen, wie es einst war, da es aus seinem Haupt und Herzen
sprang — das war ja gerade die Aufgabe jener Ausbeuter. Statt es so geistig
Wiederzugebären, umwickelten sie es mit Lappen und Lumpen und machten es
zu einer Mumie, oder sie zerlegten es kunstreich, um den Kern der „Idee"
herauszuholen oder, wenn er nicht drin war, ihn hineinzustecken, spielten es
mit eignen Gedankenschnitzeln, und das Kunstwerk lag vor einem wie ein
tranchierter Hase. So etwa wurden in jenen denkwürdigen Kommentaren Homer,
Sophokles, Shakespeare, Schiller und Goethe „behandelt", entweder mumifiziert
oder tranchiert — nur nicht wiedergeboren. Ich frage mich oft angesichts
solcher Erklärungswüteriche: Warum habt ihr statt allem euern Scharfsinn
nicht ein wenig Feinsinn mitgebracht, warum sprecht ihr so viel von Disposition
und Analyse und so wenig von Komposition und Synthese? Warum könnt
ihr eure Kost so wenig genießbar machen? — Weil es euch an dem ästhetischen
und philosophischen Sauerteig fehlt, weil ihr euch nur um die Erforschung der
„äußern", nicht der „innern" Literaturgeschichte gekümmert, weil ihr den Leib
für die Seele genommen habt, oder vielmehr, weil ihr den lebendigen Körper
entgeistigt habt.

Gegenüber diesen Ciceronenaturen der Literaturerklärung und -belehrung
steht nun die Schar der geistig Auserwählten, der künstlerischen und philo¬
sophischen Denker der großen Dichtergestalten der Menschheit. Hier stehn im
Kulturkreise des Griechentums Bernhardt», Rohde, I. Burckhardt, von Wila-
mowitz; hier stehn als Herolde unsrer klassischen Dichterperiode die den Begriff
der Literaturgeschichte zur Kulturgeschichte erweiternden, universalen Geister wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/384>, abgerufen am 29.12.2024.